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Schlamm dell'8e
Auf dem Standplakat vor dem Eingang des alten Theaters am Stirnplatz, das für einen »Schlamm dell'8e« wirbt, hatte jemand mit Edding auf die Folie geschmiert: »Special Guest: *The* ELN«. Quer über das Plakat war ein Banner geklebt: »Ausgebucht«.
»Schlamm dell'Achte – So einen Veranstaltungstitel konnte sich auch nur ein Künstler ausgedacht haben«, sagte ein Herr mit schütterem weißen Haar zu seiner Gattin, als sie das Haus betraten.
»Unter welchem Namen haben Sie reserviert?«
Die Studentin im Schulmädchenlook, zwei Zöpfe, Streifenstrumpfhose und Kaugummigegnatsche, beugte sich über ihr Telefon und wischte die Empfangsliste durch.
»Tja, Gotthold«, wandte sich Vera an ihren Mann, »unter welchem Namen hat er gebucht, hat er das gesagt?«
»Ich glaube, unter Laube-Nunft, wär zumindest naheliegend, oder?«
Vera schaute fragend die Empfangsfrau an, die wieder über das Telefon wischte und den Kopf schüttelte.
Gotthold hatte einen Sprüchekalender an der Wand bei dem Versuch, ihn gerade zu rücken, vollends von der Wand gerissen und hob ihn auf.
»Entschuldigen Sie, den Namen finde ich nicht in der Liste. Leider können wir nur geladene Gäste willkommen –«
»›Egon‹, steht der Name drin?«, fragte Gotthold.
»›Egon mit den Alten-Ausrufezeichen-Ausrufezeichen-Ausrufezeichen, Datenschutzstraße -42, 12345 Gehtsienichtsanheim‹, jawoll, meinen Sie das?«
»J...aaa, sieht wohl so aus.«
»Dann herzlich Willkommen zu unserem Art Slam. Freie Platzwahl! – Moment, entschuldigen Sie, könnten Sie das bitte wieder an den Platz zurückhängen?«
»Meinen Sie mich? Entschuldigen Sie, manchmal bin ich so ein Schussel ... welcher Tag war das noch mal, ach so, 19. April, wobei – 2019? – der ist ja eh aus dem letzten Jahr ... kleinen Augenblick, so ... ›Te amo ergo sum‹, soso ... – Sitzt, passt, wackelt und hat Luft. Verzeihen Sie« – und huschte seiner Gattin hinterher.
»Ich hoffe, Egon kommt rechtzeitig, er hat uns schließlich eingeladen«, raunte Gotthold an ihrem Ohr.
»Er wollte sein ›Chef-d'œuvre‹ noch rahmen lassen.«
»Chef-d'œuvre, soso, das heißt wieder mal?«
»Meisterstück.«
Draußen schnaubte und brüllte es plötzlich. Das war ein mächtiger schillernder Stier, auf dem Egon üblicherweise ritt. Der Stier wirbelte bremsend Staub auf, und von drinnen konnte man sicher durch das Fenster sehen, wie er durch die Nüstern Feuer stieß, dass die Funken nur so stoben.
Mit seinen Stelzen, die er offenbar nie auszog, stieg der Reiter aus dem Sattel. Die Sprossen der Leiter, die von der mannshohen Schulter des Tieres hinabführte, waren derart geformt, dass die neonrosarot blinkenden Spitzen der mit Ausbuchtungen und Knoten umrankten Stelzen sicher Halt fanden.
Egon nahm sich seinen Tornister von der Schulter und nahm ein in Packpapier gehülltes planes Etwas heraus. Er überprüfte es auf etwaige Beschädigungen und bestaunte es, als könnte er durch die Verpackung sehen.
Dann nahm er seinen Sportmotorhelm ab, strich sich über die pompöse blonde Tolle und begab sich o-beinig staksend in den Veranstaltungsraum.
»Da seid ihr ja schon!«
»Da bist du – !! – ja schon.«
»Ja, so war das auch nicht geplant. Hab dem Ladeninhaber ordentlich die Löffel lang gezogen.« Verächtlich zog er Rotz hoch.
»Macht nix, bist ja noch rechtzeitig, fängt gerade an, sieh. ›Die Alten‹ nehmen es locker«, bemerkte Vera süffisant, und Egon grinste scheel.
Das erste Bild wurde entdeckt. Aber die Leinwand hinter der Bühne zeigte ein unscharfes Bild. Der Ton- und Bildmeister flitzte zur Bühne und feinjustierte das Kamerastativ, das kopfüber an der Staffelei befestigt war.
Venedig. Aber irgendetwas war falsch. Richtig: Die komplette Stadt war übersät mit großen und kleinen rot-weißen Verbotskreuzen. Kreuzfahrtschiffe, Plätze, Kanäle, Brücken und Gondeln, alles anscheinend verboten. An mehreren Stellen der Stadt stiegen Feuer in den Himmel und mit ihnen Notfallkreuze, Totenköpfe und Kronen.
»Stellen Sie sich vor«, sagte der Künstler mit italienischem Akzent, »es herrschte eine Pandemie! Pandemien treten ja regelmäßig auf, und Statistiker sind einhellig der Meinung, dass heute – just heute – eine Pandemie schon längst überfällig wäre. Und stellen Sie sich vor, wie so eine Stadt wie meine Lieblingsstadt Venedig, sagen wir mal, darauf reagieren müsste. Menschen würden reihenweise krank und die Krankenhäuser, die Intensivstationen ...«
»Hey, verschlaf nicht deinen Einsatz!«, flüsterte Gotthold und fasste an Egons Schulter. Egon unterbrach sein Schnarchen und setzte sich auf. Seine Stelzen quietschten dabei auf dem Parkett herum.
»Sorry, ich habe bis spät in der Nacht gearbeitet, müsst ihr verstehen«, murmelte Egon zurück. Dann lauschte Egon bemüht munter den Ausführungen des Künstlers. An einer Stelle meldete er sich und schnippte mit dem Finger. Ärgerlich nickte ihm der Künstler zu.
Die Moderatorin mit einer kecken Fliege am Kragen, welche tatsächlich dem gleichnamigen Insekt nachempfunden war, flog auf die Bühne und sagte ins Mikro: »Fragen und Bemerkungen nehmen wir gerne entgegen, wenn der Künstler seinen Vortrag –«
Selbiger Künstler sagte ihr irgendwas leise an seinem geschürzten Mikro vorbei, woraufhin die Moderatorin lachend nickte. Sie sprang fidel von der Bühne, um mit ihrem Mikrofon zu Egon zu kommen.
»Diese goldenen Flecken da in Ihrem Bild, ich kann es von hier aus nicht direkt sehen, sind das Kronen?«
»Ja, das sind die Kronen, von denen ich eben gesprochen habe«, sagte er und lächelte ironisch. »Einfach ein Mittel, um diese grenzenlose Arroganz des Menschen darzustellen, der auf seinem hohen Ross voller Technik sitzt, gegenüber dem Leben und dem eigenen Schicksal, und wie diese Kronen jetzt im Feuer der sich überschlagenden Umstände ... komisch formuliert ... ich meine, diese ständig wechselnden Maßnahmen der Regierung, gestützt auf dem wahrscheinlich ständig aktualisierten Diskussionsstand der Wissenschaftler und Ökonomen –«
»Aber das sehe ich doch alles gar nicht in dem Bild! Ohne Ihren Vortrag im Hinterkopf könnte der gemeine Betrachter doch einfach davon ausgehen, dass da ein Flugzeug seine Ladung an Verbotskreuzen verloren hat ...«
Der Künstler sah Egon lange und eindringlich an, seine Augen verengten sich zu Schlitzen. »Noch Wortmeldungen?«, fragte er knapp und blickte im Raum herum.
Da hob der untersetzte Herr vom Nebentisch die Hand. Die Moderatorin mit der Fliege sah ihn und tippelte im Slalom durch den Saal. Endlich mit dem Mikrofon ausgestattet, sagte er: »Vielen Dank für die Vorstellung Ihres Bildes. Es ist sehr eindringlich und ich habe mir richtig vorstellen können, über den wahrscheinlich menschenleeren Markusplatz zu laufen. Wiewohl ich glaube, dass die sogenannte ›Werkimmanenz‹, von der der Vorkritiker sprach, grundsätzlich wichtig ist, sollte man bei so wichtigen Themen schon die Kirche im Dorf lassen und dem Betrachter nicht allzu sehr das Denken abnehmen. Zumal so eine Leinwand ja auch Grenzen hat, da könnte man ja gar nicht alles unterbringen. Eine Pandemie könnte den Zeitstrahl der ganzen Welt – zack! – in ein dekadentes Vorher und ein entbehrungsreiches Nachher teilen, ja, gewisse Staaten gar, die heute noch irgendein hohler Entenkopf beispielsweise großartig machen will, morgen schon als sogenannte ›Failed States o...‹« – die Moderatorin trat sichtbar von einem Fuß auf den anderen und zeigte aufs Handgelenk– »jaja, ich will auch gar nicht vom Thema abkommen, aber auf eine gewisse Abstraktionsebene muss man sich da schon beschränken. Es ginge da um Leben und Tod, der Mensch könnte das alles ebenso wenig fassen wie eine Leinwand und wenn das Bild später in einem Museum hängt mit einer eng beschriebenen Erklärungsplakette daneben, dann sei es drum, dann sei das, weiß der Himmel, keine Ausnahme. Vielen Dank.«
Eine ältere Dame meldete sich und sprach feucht ins Mikro: »Same app-h!-lies for Europ-h!-e, if you don't mind me reminding of that fact-h!«
»Sorry, könnten wir uns bitte wieder der Kunst widmen. Über das Politische zu sprechen bleibt uns ja die Pause. Sorry, could we talk about the pictures, please? We can still discuss political things in the pause, äh, in the break. Thank you.«
Das zweite Bild, »Standort Deutschland«, zeigte eine Europakarte mit angekokelten Rändern um ein Loch an Deutschlands Stelle, an denen Flammen lecken. Die Karte war gleichzeitig ein Schlüsselloch. Es gab den Blick frei in die grell gleißende Sonne, vor der Reflektionsflecken wie von einer Kameralinse prangten. Ringsum die Sonne halbtransparente Abbildungen von verdorrten Steppen, siechenden Kindern mit geblähten Bäuchen, eins von einer alten Brücke über einem Flussbett aus Wüstensand, ein anderes mit dem Warnschild von einem Brunnen – »kein Trinkwasser«.
»Jaja, die Kunst reitet halt gern auf Wellen«, flüstert Egon zu den Eltern, »und wenn ein süßes schwedisches Gör die machen muss.« Den Ausführungen des stotternden Künstlers war kaum zu folgen. Egon driftete gedanklich ab, erinnerte sich an den Spruch, den er am Morgen – er hatte auf einen Soundcheck bestanden – im Vorraum gelesen hatte. Er zückte sein Telefon, schrieb ein paar Nachrichten an die Organisatoren und recherchierte im Netz. Und ja, etwas Lampenfieber kroch ihm jetzt auch noch auf die Nerven.
»Der nächste Kandidat: Egon-Ausrufezeichen-Ausrufezeichen-Ausrufezeichen mit seinem Werk äh ... ›Ego‹ ...«, da kam einer von der Organisation und steckte ihr einen Zettel zu, »nein, ›Egon sum‹, nein, ›Mihi...Me amo ergo sum‹, so jetzt hab ichs ... also, was auch immer das heißt.«
Egon stakste, sein Bild unter die Achsel geklemmt, auf die Bühne. Er lehnte es auf die Staffelei und riss – beinahe das Bild selbst, fast wär es passiert, Moment, zum Teufel mit der Theatralik – das Packpapier fort. Die Kamera war nun wieder ganz derangiert, der Tonmeister musste wieder auf die Bühne, brachte es in Ordnung und warf Egon einen sauren Blick zu.
Zum Vorschein kam ein mit Blattgold umrahmtes Bild, das zeigte ein planes Haus mit Schornstein, der senkrecht zum schrägen Giebeldach stehend den Ausdünstungen die Steigrichtung vorgab. Die Sonne strahlte Spaghetti vom Himmel herunter und die Eltern zahnlos zum einzigen Fenster heraus. Im Vordergrund hielt eine Hand einen Spiegel, den eine Krone zierte und in dem Spiegel grinste kein geringerer als – Egon.
Er wies mit beiden Armen auf das Bild, gleich einem Magier auf seine Assistentin, die er in zwei Stücke gesägt und auf wundersame Weise wiederzusammengefügt hatte. »Noch ein Hinweis in eigener Sache. Für gesundheitliche Schäden infolge Kniefalls kann keine Haftung übernommen werden. Aber wie ich sehe, besteht keine Gefahr, sitzen wir hier ja eh, haha!«
Der Saal ist still.
Die Stühle an ihrem Tisch sind leer.
Mama?
Papa?
Mama!? Papa!?
»Was ist das Besondere an diesem Bild?« Das fragt ausgerechnet der untersetzte Herr vom Nebentisch.
»Das Besondere ist die Art der Manufaktuierung unter Einsatz existentieller Miseren. Die Utensilien, nämlich Wachsmalstifte, bestehen aus Akadabrafidibuwachs und sorgfältig geschürftem Trockennasengold aus eigener biologischer Produktion, angesiedelt in unserer Garage, Sie wissen schon, diese Art von Garagen, aus denen gerne auch mal milliardenschwere Hitech-Konzerne erwachsen.
Die Motivik in diesem Bild haben Sie sicher schon aus den anderen Bildern mitnehmen können, die Thematik ist hier ähnlich, Pandemie und Klima und so, und natürlich immer die wichtige Selbstachtung dabei, die auch irgendwie damit zusammenhängt.«
»Wie hängt die Selbstachtung damit zusammen?«
»Naja ... einen Augenblick ... ich hab hier ... zufällig ... in meiner Tasche ... ein bekanntes Zitat zu exakt dieser Frage: ›Lorem ipsum dolor sit amet, consectetur adipisici elit, sed eiusmod tempor incidunt ut labore et dolore magna aliqua. Ut enim –‹«
»Guten Tag«, unterbricht eine adrette Dame von der Fensterseite.
»... ad minim veniam, quis nostrud exercitation ullam–«
»Ähm ... –!«, setzt sie noch mal an, muss aber eh aufs fliegende Mikrofon warten ... ... ... »Guten Tag, ich, ich habe langjährige Erfahrungen im Verlagsbereich, und leider muss ich sagen ... ey, das ist doch eine abgefuckte Scheiße, was Sie hier abziehen. Das ist doch ein Blindtext, womöglich direkt kopiert aus der Wikipedia, Lemma ›Lorem Ipsum‹! Wollen Sie uns verarschen, oder was?« Die Frau gibt das Mikro ab, streicht ihr Kleid am Hintern glatt, setzt sich hin und schlägt mit sichtbarer Genugtuung die Beine übereinander.
»Richtig erkannt. Eigentlich war das auch nur satirisch gemeint. Eine künstlerische Adaption des bekannten Videos von ... wie hieß er noch gleich ... vom ollen Hape, dem Kabarettisten ... Hurz!, genau so hieß der Sketch ... Das kennen Sie doch bestimmt dieses ... das gibt es auf Youtube, müssen Sie mal angucken, ist voll lustig, haha!«
Während Egon das sagt, sind für den aufmerksamen Zuschauer erste Verfallserscheinungen ersichtlich. Er bekommt Dellen wie Luftballons, die schon länger an Kindergeburtstagsgirlanden hängen. Seine Stelzen knicken ein, werden kleiner, dünner, schlaffer und die Füße hören auf zu blinken. Alles an ihm verliert seine Farbe, gar seine tolle Tolle zerfasert zu einem schütteren Glatzenbüschel und zurück bleibt ein Lumpen auf der Bühne.
Der Moderatorin fällt nichts ein, so oft sie auch das Mikrofon zu den Lippen führt.
Da schlichen Frau Nunft und Herr Laube zum Eingang herein und schlurften geduckt mit hängenden Schultern zur Bühne, um ihren Lumpensohn aufzuheben und herunterzutragen.
Der Herr vom Nebentisch ereiferte sich. »Recht mutig, Ihren verzogenen Sohn auf unsere Bühne zu lassen. Das ist nicht Bildung, von künstlerischer Bildung ganz zu schweigen, Blendung kann man das nennen, weiter nichts«, und, zurückgehalten von seiner Frau, die ihn bei der Schulter berührte, rief er ihnen durch die zuschwingende Tür noch nach: »Schönen Tag noch.«
Auf dem Klo legten sie den Sohn auf die Fliesen, zogen von seinen Füßen die Gummischutze ab und öffneten die dort angebrachten Luftventile.
Kaum hatten sie sich hinunter gebeugt und Luft geholt, da hielten sie inne und schauten sich an.
»Nein!«, sagte Vera.
»Das sollten wir nicht mehr tun«, pflichtete Gotthold bei.
»Er ist uns zu nichts Nutze.«
»Aber ich habe an ihn geglaubt. Mehr konnte ich auch nicht tun.« Bedauerndes Schulterzucken.
Sie pressten also auch die restliche Luft heraus und stopften den Kunststoffsohn in den Korb mit den benutzten Papierhandtüchern.
Sie verließen das Theater und gingen, Hand in Hand und pfeifend, dem Abendrot entgegen: Frau Nunft und Herr Laube. Vera Nunft und Gotthold Laube. VerNunft und GottLaube. Vernunft und Glaube. Und bald waren sie gar nicht mehr auszumachen.