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Schlamm
Schlamm ist mehr als feuchte Erde. Aber wer weiß das schon? Es gab Zeiten, in denen der Mapacho unbeschwert floss, in denen ich am Ufer lag, das nasse Gras zwischen meinen Zehen rieb und die Wolken bestaunte. So hoch zu fliegen wäre schön, glaubte ich, und das Wasser plätscherte munter, so, als wollte es mir zustimmen. Wolken stürzen nicht ab. Niemals. Nur ganz selten weinen sie, versteckt hinter den Bergen.
Schlammig trennt uns heute der Mapacho von der großen Stadt. Die Dorfbewohner, mein Vater und ich nannten ihn »Wilde Schlange«. Weil er sich durch das Tal schlängelte und sich bei Hochwasser bis tief in die Dörfer hineinfraß. Er bestimmte unser einfaches Leben, sorgte für reiche Ernten und guten Fang. Mittlerweile hat man ihn zurechtgestutzt, mit Kies gemästet und begradigt. Nun kriecht er träge in Richtung Meer. Dort, wo es noch Fische gibt und das Wasser schäumt.
Vieles hat sich seit dem Tod meines Vaters verändert. Die Stadt wuchs unaufhörlich, riss mit ihren Türmen Löcher in den Himmel. Bei Nacht trat ihre funkelnde Silhouette hinter dem qualmigen Vorhang hervor und lockte die Menschen aus dem Dorf zu sich. Stromaufwärts sozusagen. Unterdessen quoll der Mapacho über vor Schlamm.
Den ganzen Morgen schon hocke ich auf einem Baumstumpf und starre in die gärende Brühe. Die Angel wippt gemächlich in meinen Händen. Im Wasser taumelt die hölzerne Boje wie betrunken umher. Kein gutes Zeichen. Sekunden später verheddert sich die Sehne um einen alten, löchrigen Regenschirm. Aber Regenschirme kann man nicht essen, sage ich mir, und durchtrenne die Schnur. Ob es in der Stadt wohl häufiger regnet?
Ich weiß nicht mehr, wann ich zuletzt einen Fisch an Land geholt habe. So richtig lebendig meine ich. Nur noch nutzloses Zeug verirrt sich an meinen Haken, seitdem die Fabriken anfingen, ihren Dreck in den Fluss hineinzupumpen. Für manche wie den alten Pietro ist das natürlich ein Segen. Tag für Tag begegne ich ihm am Ufer, beobachte, wie er den angeschwemmten Unrat umschichtet, sortiert und sammelt. Manchmal, wenn der Schlamm auf sich warten lässt, bemerkt er mich sogar und grüßt. Mit seinem Goldzahnlächeln. Gefunden, gestand er mir vor einiger Zeit stolz.
Irgendwann, hoffe ich, hat das alles ein Ende. Dann endlich, wenn der Mapacho den ganzen Schlamm in die Stadt zurückspült. Möge die doch daran ersticken. Die Sonne rollt über die Berggipfel und zwingt mir ein Lächeln auf. Seit langem ist der Himmel wieder frei von Abgaswolken, erinnert mich mit seinem Blau an ungetrübte Zeiten.
Ein Paar Gummistiefel, unzählige Kunststoffverpackungen und einen schrottreifen Kinderwagen später stelle ich fest, dass heute einfach nicht mein Tag ist. Kurzerhand übergebe ich meine Angel den schlammigen Fluten und verabschiede mich von Pietro, der sich wie ein Idiot über das unerwartete Fundstück freut. Vielleicht hat er damit ja mehr Glück als ich.
Der glühend heiße Wind jagt über die ausgedorrten Ufer. Am Rande dieser Einöde stemmt sich einsam eine kahle Hütte dem Hang entgegen. Kein Schatten weit und breit, noch nicht einmal um meine Füße. Der Pesthauch des Schlamms weht herüber, emulgiert förmlich mit meiner Atemluft. Jeder normale Mensch würde auf der Stelle die Flucht ergreifen. Doch ich wohne hier zusammen mit meiner Frau.
Ilse wartet schon unter der Tür. Hallo, sage ich. Wo bleibt der Fisch?, fragt sie. Hilflos strecke ich ihr meine schlammverschmierten Arme entgegen. Keine Umarmung?, frage ich. Nein, sagt sie, zuckt mit den Schultern und schleicht hinein. So geht es nicht weiter, sagt sie. Muss wohl, sage ich, und trete beinahe auf ihre ausgeblichene Schürze.
Ilse schwärmt von Mode und technischem Kram, der das Leben erleichtern soll – bis es mit der Entsorgung desselbigen wieder kompliziert wird. Wie wundervoll es doch wäre, bloß ein einziges Mal im Einkaufszentrum der Stadt zu schlendern. Und dann sage ich ihr, dass man Glück nicht kaufen kann. Genauso wenig, wie man den Schlamm los wird.
Kurz vor Sonnenuntergang verfinstert sich der Himmel bedrohlich. Kühle Abendluft wirbelt durch das offene Fenster. Sogar Ilse hält mit ihrem Gezeter inne und horcht nach der eigenartigen Stille. Donner flüstert aus der Ferne, die Berge beben. Kurz darauf brechen Regenwolken über unser Tal herein. Von einem auf den anderen Moment schüttet es wie aus Eimern. Das ist die nächste Sintflut, sagt Ilse. Niemals, sage ich ihr.
Der Boden löst sich in Schlamm auf. Mit einem Mal sackt der Hang ab und mit ihm versinkt die Hütte im reißenden Mapacho.