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Schlechte Nerven
Vor der Terrasse des Schrebergartenhäuschens zog sich über mehrere Meter ein frisch ausgehobener Graben. Davor standen drei Männer in weißen Hemden mit Krawatte: einer groß und schlank, mit teuren Schuhen. Er hieß Dr. Reinhard Gruber und galt als aussichtsreichster Kandidat für die Nachfolge des Direktors des Ziegelwerks in Leonberg, das zu einem international tätigen Baukonzern gehörte. Seit kaum zwei Monaten war er dort als Sekretär des Direktors und Controller tätig. Er verfügte über großartige Referenzen einer amerikanischen Unternehmensberatung und hatte sein Doktoratsstudium mit Auszeichnung absolviert. Er sagte: "Recht tief für ein Blumenbeet, nicht?"
Die anderen beiden waren Martin Petersen, Leiter der Exportabteilung und sein Stellvertreter Ossi Stickler. Martin verkniff das breite Gesicht. Er fand den Anlass für den Besuch der Kollegen eher traurig: Vor wenigen Stunden hatte nämlich der Direktor, ein Sechzigjähriger namens Dr. Viktor Blauensteiner, seinen Rücktritt noch für dieses Jahr angekündigt, um sich, wie er sagte, ein paar Lebensträume zu erfüllen, solange dafür noch Zeit war. Seine beiden Besucher kannte er, seit sie zusammen studiert hatten.
Martin sagte: "Ich bin noch nicht dazu gekommen, die Blumenzwiebeln einzusetzen. In der Firma war diese Woche einfach zuviel los und meine Frau hat nicht viel Sinn für Gartenarbeit."
Ossi fand das witzig. Reinhard verstand nicht, warum und meinte: "Immerhin weißt du ja seit heute, dass man etwas pflanzen muss, wenn man etwas ernten will."
Martins Blick verfinsterte sich.
"Immer mit der Ruhe!", sagte Ossi.
Der Schlüsselbund klimperte einige Male, als Martin die Tür öffnete.
Klick machte der Schalter und eine rustikale Deckenleuchte tauchte den Raum mit Minibar, Hometrainer, einem Computerarbeitsplatz und viel zu vielen Dingen in gelbes Licht.
Martin ging zum Kaminofen: "Ich mache erst einmal Feuer, damit es hier gemütlicher wird. Ossi! Könntest du schon mal den Wein aufmachen?"
Reinhard betrachtete die Fotos an den Holzwänden, als handelte es sich um anatomische Präparate: Sie zeigten Martins zwei Kinder, seine dickliche Frau und ihn selbst in verschiedenen Posen, dazu einen struppigen Hund.
Ossi schenkte in der Kochnische umständlich den Wein, einen Friulano, in drei unterschiedliche Gläser. Zusammenpassende gab es anscheinend nicht.
In dieser Stimmung missglückter Beschaulichkeit sagte Martin: "Erinnert ihr euch noch an die Was-wäre-wenn-Spiele, die wir früher gespielt haben? Ich mochte die Frage, was man mit einer Leiche tun würde. Du findest eine Lösung, denkst ein wenig nach und siehst, dass es doch nicht geht."
Er setzte sich auf das Sofa, nahe am Ofen. Reinhard nahm auf dem Lehnstuhl Platz, sonst Lieblingsplatz von Martins Hund. Vor ihnen stand ein Glastisch mit einer alten Zeitung und den klebrigen Abdrücken von Bechern mit Himbeersaft. Ossi brachte den Wein. Reinhard betrachtete die blassgelbe Flüssigkeit, nahm vorsichtig einen Schluck.
"Heute würde ich sie einfach in einem Loch im Garten verscharren", sagte Martin.
"In so einem wie vor dem Gartenhäuschen?"
"Warum nicht? Ein Loch ist für diesen Zweck so gut wie jedes andere. Nur tief genug muss es sein."
Der Wein schmeckte weder gut noch schlecht. Früher hatten sie Bier getrunken.
Reinhard sagte freundlich: "Das ist Blödsinn! Die Spurensicherung wäre keine zehn Minuten auf deinem Grundstück und würde die Leiche finden. Du machst es dir wieder mal zu leicht, mein Lieber!"
Dann erklärte er, wie die Polizei von Motiven ausging und zuerst bei Leuten mit einem Motiv suchte. Jeder lässt Spuren zurück, bei allem was er tut. Du musst nur genau untersuchen, was die Leute, die ein Motiv haben könnten, vor und nach dem Mord tun und du findest deinen Mörder. Er nahm noch einen Schluck Wein. Der war doch nicht so schlecht: voller Geschmack, dabei weich und leicht bitter. Martin sagte: "Wenn du die Leiche wärst, würden sie wohl zuerst an meine Tür klopfen, nachdem was heute geschehen ist."
Reinhard ignorierte ihn: "Wenn ich daran denke, was für Einfälle wir hatten! Die Leiche mit Salzsäure in der Badewanne auflösen. Das gäbe eine Sauerei und es ist noch nicht mal gesagt, dass es funktioniert. Hahaha!"
Martin sagte: "Inzwischen habe ich begriffen, dass man sich nicht auf die Leiche konzentrieren darf. Das ist falsch. Du musst den Schein wahren, damit die Suche erst gar nicht anfängt."
Die Frage, was das bedeuten sollte, blieb unbeantwortet, weil Ossi Anstalten machte, sich zu verabschieden.
"Wie, du willst schon gehen?"
"Ja. Ich möchte morgen für den Segeltörn ausgeschlafen sein. Also dann! Wir sehen uns am Montag!"
Als Ossi weg war, sagte Martin: "Es ist sicher zehn Jahre her, dass wir uns das letzte Mal allein unterhalten haben."
"Da hast du recht. Und viel hat sich verändert."
"Nur eines ist gleich geblieben: Du bist immer noch ein Arschloch!"
Reinhard zuckte zusammen.
"...Aber morgen ist Freitag und da muss ich dich nicht sehen, weil ich den ganzen Tag genau hier verbringen werde, zusammen mit meiner Familie. Wie fast jeden Freitag. Offiziell werde ich natürlich in der Firma sein und die Besprechung für Montag vorbereiten. Oh, jetzt schaust du blöd! Stechuhren haben den Vorteil, dass jeder sie betätigen kann und das Zeitalter der modernen Telekommunikation hat uns die Rufumleitung geschenkt."
Er erklärte ausführlich, wie es ihm gelungen war, das Zeiterfassungssystem auszutricksen.
Reinhard sagte: "Ich kann das jetzt nicht glauben, dass es dir nicht zu blöd ist, so eine Szene zu machen, bloß weil Du eine Beförderung, die dir überhaupt nicht zustehen würde, nicht bekommst."
"Die mir nicht zustehen würde? Wer entscheidet denn das?"
"Verantwortungsbewusste erwachsene Menschen. Praktisch ist es ja schon entschieden."
Halb flüsternd sagte Martin: "Fünf Jahre lang bin ich jetzt in der Firma. So eine Chance wie diese gibt es höchstens alle zehn Jahre. Und da kommst du daher, frisch von so einer Scheiß Unternehmensberatung, schleimst dich bei der Zentrale ein und schnappst dir einen Job, der mir zusteht. Obwohl du alle Möglichkeiten hättest."
"So ist das im Leben: Man muss nur nett fragen. Meine Güte, Martin! Sieh dich nur an, was für ein kindischer Trottel du bist!"
Martin sog an seiner Unterlippe. Er nahm einen neuen Anlauf: "Und was wäre, wenn ich dich jetzt fragen, oder bitten... Also: Stell dir vor, ich bitte dich, die Stelle nicht anzunehmen."
Kopfschüttelnd, und um das Ganze zu Ende zu bringen, sagte Reinhard: "Mein schlechtes Gewissen hält sich sehr in Grenzen. Wenn diese Geschichte mit den Freitagen stimmt, verdienst du sowieso, mit einem Tritt in den Arsch an die Luft gesetzt zu werden. Aber ich glaube dir nicht. Die Sekretärin in eurer Abteilung, diese Frau Neumaier, die macht einen guten Eindruck. Die würde euch das nicht durchgehen lassen."
"Oh, ja. Die ist eine gute Sekretärin. Aber sie schätzt es auch, wenn wir ihre Abwesenheit an Montagen und Dienstagen decken. Dein Problem ist, dass du die Menschen nicht verstehst. Du weißt nichts über ihre Bedürfnisse und wozu sie fähig sind. Ich zum Beispiel habe über Jahre an einem System gebaut, in dem einige gute Leute ein geruhsames Leben führen und sich mit meiner Hilfe verbessern. Aber jetzt kommst du..."
"Weißt du was? Ich gehe jetzt einfach."
Reinhard machte einen Schritt zur Tür.
Martin sagte: "Ich will dir ja nur begreiflich machen, warum ich dich töten muss."
Reinhard stutzte. Er starrte in das gerötete Gesicht, die fanatischen Augen.
"Mehrere Leute wissen, dass ich hier bin. Ossi hat sogar mitbekommen, wie du angefangen hast, zu stänkern."
"Jaja, der Ossi... "
Dieser Gedanke schien ihm kurz zu denken zu geben, bis er sagte:
"Der konnte dich auch nie leiden."
"Ich gehe jetzt durch diese Tür. Wenn du mich erschießen oder erschlagen willst, musst du es gleich tun."
Martin deutete auf Reinhards Glas Wein: "Wer redet denn von erschießen oder erschlagen? Vergiften war einfacher. Manche Gifte lassen sich schwer nachweisen. Dafür wirken sie nur langsam. Sag: Spürst du es nicht schon?"
Reinhard kam es vor, als ob die Säfte, die überall in seinem Körper pulsierten, sich verlangsamten. Ein Schwindelgefühl und eine plötzliche Wärme. Er glaubte es! Seine Verzweiflung schlug in Wut um: Er griff den Schürhaken vor dem Kaminofen und stolperte auf Martin zu.
Der zog unter einem Sofakissen eine Pistole hervor und höhnte: "Komm nur her! Ich knall dich ab wie einen Hund!"
Er hob die Waffe, zielte...
Reinhard warf sich hinter den Lehnstuhl, stürzte zur Tür. Martin drückte ab: Peng!
Reinhard riss die Tür auf, lief wie ein gehetztes Tier über den Rasen. Martin folgte dem Lauf mit der Pistole und zwei weitere Schüsse hallten durch die Nacht: Peng! Peng!
Sekunden später war Reinhard in der Dunkelheit verschwunden. Nur das Gartentor, das er aufgestoßen hatte, quietschte in den Angeln.
Martin stand noch eine Weile in der Tür. Die Pistole lag in seiner Hand wie ein Fremdkörper. Er atmete einmal tief durch, ging hinein, machte die Tür zu. Das Hemd klebte ihm feucht am Leib.
Er stellte sich vor, was jetzt geschehen würde: Reinhard, der wie ein Irrsinniger herumlief, irgendwo mit zitternden Fingern sein Handy herausholte, die Nummer der Rettung wählte und gleich danach die Nummer der Polizei. Ob er es noch schaffte, den Chef anzurufen?
Dieser Gedanke ließ ein Lächeln über Martins Gesicht huschen.
Möglicherweise würde es eine Untersuchung der Anwesenheitslisten geben. Er stellte sich vor, wie man Frau Neumaier misstrauisch beäugte und ihr die eine oder andere Frage stellte...
Da konnte er sich nicht mehr halten: Er musste lachen!
Die Waffe in seiner Hand? Eine Schreckschusspistole. Er hatte sie gekauft, nachdem sein Fünfjähriger in der Spielwarenabteilung eines großen Kaufhauses unbedingt eines von diesen Dingern aus Plastik haben wollte. Da war ihm die Idee gekommen, dass es für seine Zwecke praktisch sein konnte, eine zu kaufen, die echt aussah und klang. Der durchdringend-peitschenartige Klang war das wichtigste. Jetzt brauchte er sie nicht mehr. Er steckte sie zusammen mit der Munition und einem Ziegelstein in einen Jutesack. Er schlich in den Garten, band den Sack zu, kletterte über den Zaun in den Garten seines Nachbarn Dr. Kröger, versenkte den Sack in Krögers Gartenteich, wo er sich gluckernd in siebzig Zentimeter Tiefe verabschiedete. Das würde fürs erste genügen. In seinem Häuschen gab es nämlich noch eine zweite Pistole: das Plastikding aus dem Kaufhaus. Die legte er auf den Tisch, falls die Polizei unbedingt eine Waffe brauchte.
Als nächstes fiel sein Blick auf die Gläser. In dem von Reinhard war noch ein winziger Rest von dem Wein. Er roch daran, nahm den letzten Schluck. Der Geschmack war herb. Es würde nicht lange dauern und auch er würde müde werden und einschlafen.
Er spülte die Gläser aus. Dann zog er sich aus und ging unter die Dusche. Das Schlafmittel, das Ossi in Reinhards Wein gemixt hatte, dämpfte seine Wahrnehmung: Das Rauschen, die Wasserstrahlen, die auf seinen Körper prasselten. Mit etwas Glück habe ich bis morgen Ruhe. Oder ist es doch besser, wenn sie sofort kommen? Die Polizisten aus dem Revier unten an der Straße.
Er lächelte. Natürlich würde er morgen zur Arbeit gehen und alle Vorwürfe leugnen und natürlich war die Sache mit den arbeitsfreien Freitagen eine Erfindung, der er Nahrung gab, indem er in den letzten beiden Monaten seine Leute dazu gebracht hatte, so oft wie möglich am Freitag frei zu nehmen. Sollte Reinhard nur herumlaufen, Untersuchungen anstellen und alle gegen sich aufbringen! Dazu ein paar Gerüchte würden genügen, um die Zentrale zu überzeugen, dass ihr hochgelobter Kandidat an Wahnvorstellungen litt und als Blauensteiners Nachfolger keinesfalls in Frage kam: Ein fähiger Mann, doch leider mit zu schwachen Nerven!