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Schmutzige Vergangenheit
Schmutzige Vergangenheit
Der Wind war kaum spürbar, als Paul Weller über die kleine Holzbrücke schlenderte, die über dem Bach im Park führte. Zweiunddreißig Grad hatten sie für heute vorausgesagt. Kleinkinder, Alte und Personen mit Atemproblemen sollten nach Möglichkeit Aktivitäten unter freiem Himmel vermeiden.
Extrem hohe Ozonwerte, hatten sie gesagt. So hoch wie seit Jahren nicht mehr, hatten sie gesagt.
Paul nahm die faltigen Hände aus seinen Hosentaschen, legte sie auf das heiße Holz des Brückengeländers und blickte in den Bach. Glitzernde Funken stachen in seine Augen und er musste sie unwillkürlich zusammenkneifen. Trotz seines hohen Alters konnte er immer noch verdammt gut sehen, und Paul war mächtig stolz darauf. Von wegen die Sehkraft nahm ab sechzig proportional ab.
Für einen winzigen Moment verspürte er wieder den leichten Wind, der unter seine Achseln blies. Es tat gut und Paul lächelte. Es war gerade kurz nach Mittag, und der Park war von einer alles einnehmenden Stille geprägt. Hin und wieder zwitscherte ein Vogel, hin und wieder raschelten die Blätter. Es war einfach herrlich.
Paul Weller liebte den Park; er konnte sich nicht erinnern, an welchem Tag er nach dem Beginn seiner Rente nicht hier gewesen war. Hier gab es keine Hektik, keine dröhnende Musik, die die Wände seiner kleinen Wohnung vibrieren ließ; hier gab es keine hupenden Autos, wenn ihn seine alten Beine nicht schnell genug über die Straße trugen, keine Mütter, die sich leise aufregten, wenn er als Rentner die Unverschämtheit besaß und sich noch kurz vor Feierabend in einem Einkaufsladen aufhielt.
Das hier war eine andere Welt, eine ruhige, eine friedliche Welt. Es war seine friedliche Welt.
In einiger Entfernung entdeckte er mehrere Kinder auf einer Wiese; im Schatten hockende Mütter, die miteinander plauderten. Paul würde hingehen und sich ebenfalls dort niederlassen. Er ließ seine Hände wieder in die ausgebeulten Hosentaschen verschwinden und humpelte in Richtung der Wiese. Sein steifes Bein schmerzte heute ein wenig, aber das war er gewohnt. Extreme Hitze oder Kälte bewirkten diese Unannehmlichkeit.
*
„Wir können nicht jeden absetzen, der etwas aus der Reihe tanzt, Herr Gefreiter.“
„Seine Experimente werden immer schlimmer, Obersturmbandführer.“
„Wir haben Krieg!“ Die Stimme des Vorgesetzten wurde lauter.
Der Soldat wollte noch etwas sagen, doch sein Vorgesetzter machte eine schnelle Handbewegung. „Ich habe noch zu tun, Herr Gefreiter.“
Der junge Mann salutierte, drehte sich zur Tür. Dann hielt er inne.
„Es sind Kinder, Obersturmbandführer“, sagte er leise an die Tür gewandt.
„Es sind Judenkinder.“
Der Gefreite verließ den Raum.
*
Paul hatte die große Wiese erreicht. Die warme Rinde eines dünnen Baumes drückte in seinen Rücken. Er spürte, wie die Hände in seinen Taschen zitterten. Die Hitze war wohl doch nicht so harmlos, wie er gedacht hatte. Er hatte das Gefühl, es würde mit jedem Jahr schlimmer. Vielleicht lag es aber einfach nur an seinem Alter. Der Zahn der Zeit nagte seine Knochen blank. Paul grinste, blöder Spruch aber irgendwie stimmte er.
Er stützte sich an dem Baum und ließ sich langsam auf seinen Allerwertesten gleiten. Das steife Bein schob er dabei langsam nach vorn. Jetzt nur nicht das Gleichgewicht verlieren. Das Lachen der Kinder drang zu ihm herüber. Für einen winzigen Moment nahm der Schmerz in seinem Bein beängstigende Ausmaße an. Paul verzog das Gesicht, dann berührte sein Hintern das weiche Gras und er stieß hörbar die Luft aus seinen Lungen. Er schloss die Augen, beobachtete die winzigen, zuckenden Figuren, die vor seinen geschlossenen Lidern tanzten.
Etwas stieß gegen sein Bein, und Paul blickte auf. Er sah einen kleinen Jungen auf ihn zugelaufen kommen. „Entschuldigung“, rief dieser und blieb stehen. Paul nahm den Ball, der neben seinem Bein lag und warf ihn dem Jungen zu. „Danke!“
Dann war er wieder in dem Pulk der Anderen verschwunden. Paul lächelte. Wie gern hatte er früher Fußball gespielt; und, verdammt, er war richtig gut gewesen. Bis der Krieg kam …
*
„Doktor Mengele, darf ich Sie einen Moment sprechen?“
Der Gefreite stand im Türrahmen und blickte auf den gebeugten Rücken des Mannes, der dort an dem Tisch mit den vielen Reagenzgläsern hockte. Er blickte nicht auf.
„Doktor?“
Der Mann in dem weißen Kittel unterbrach seine Arbeit, machte allerdings keinerlei Anstalten, sich seinem Gesprächspartner zuzuwenden.
„Was wünscht er?“
Die Stimme klang irgendwie zu hoch; fast fraulich. Der Körper des Gefreiten zuckte zusammen, jeder Muskel angespannt. Seine rechte Hand fuhr zu seiner Stirn, als ihm einfiel, dass er es hier mit einem Zivilisten zu tun hatte.
Jetzt drehte sich der Doktor um. Sein Blick ließ dem Gefreiten einen eiskalten Schauer über den Rücken laufen. Die Augen des Doktors waren kalt, beinahe tot.
„Ich fragte, was er zu wünschen pflegt.“ Der bohrende Blick des Doktors musterte den Soldaten von Kopf bis Fuß.
Der Gefreite fand, dass er in Höhe seines Schrittes zu lange verweilte, doch das konnte er sich auch nur eingebildet haben.
„Er spricht nicht mehr mit mir?“, fragte der Doktor. „Ein Knabe von stattlicher Statur, und es hat ihm die Stimme verschlagen?“
Der Gefreite wollte grinsen, doch es gelang ihm nicht. „Ich hätte Sie gern einen Moment gesprochen, Doktor Mengele.“
„Er spricht doch bereits mit mir.“
Jetzt schaffte der junge Soldat doch ein gequältes Grinsen. „Ja … ja, Sie haben Recht. Ich meine nur, ich hätte gern mit Ihnen über Ihren neuen Mitarbeiter gesprochen.“
Der Doktor runzelte die Stirn.
*
Irgendwie war heute ein seltsamer Tag. Paul Weller lehnte immer noch mit dem Rücken an der mittlerweile harten Baumrinde, noch immer spielten die Kinder auf der großen Wiese. In Gedanken war er unter ihnen, nahm einen Pass entgegen und verwandelte ihn im Alleingang zum alles entscheidenden Sieg.
Seine Mannschaftskameraden umjubelten ihn, hunderte Arme warfen ihn in die Höhe.
Doch diesmal spürte Paul, dass er nicht dabei war. Diesmal schmerzte sein Bein mehr als sonst, diesmal schien eine unsichtbare Mauer zwischen ihm und den Kindern zu sein. Eine unsichtbare Mauer der Zeit. Paul wurde bewusst wie noch niemals zuvor, dass er nicht mehr dazu gehörte.
Er war alt, uralt. Die neue Zeit, das Jetzt war dort drüben. Unerreichbar und immer weiter entschwindend. Immer weiter von Tag zu Tag.
Für einen Moment verschwamm sein Blick und er wischte mit der faltigen Haut seines Armes über die Augen. Freund Melancholie saß neben ihm, hatte seinen Arm um Pauls Schulter gelegt, drückte ihn fest an sich.
´Du bist alt, Paul. Sieh es doch ein.´
„Ja“, sagte Paul. „Ja, du hast wohl Recht.“
´Vielleicht hättest du damals mehr tun können, alter Mann.´
Paul senkte den Blick.
„Habe ich denn nicht alles versucht?“
Freund Melancholie bohrte seine spitzen Finger in Pauls Schädel. ´Alles?`, kreischte er und bohrte tiefer.
„Ohne mich gäbe es diese Kinder dort drüben doch gar nicht.“
´Oh Paul … armer Paul. Was hast du denn Großes getan?´
Paul begann zu weinen. Würde es irgendwann einmal vorbei sein? Diese Erinnerungen? Diese elendigen Erinnerungen? Irgendwann?
´Wenn du stirbst, alter Mann. Dann ist es vorbei.´
„Also bald“, flüsterte Paul an die Wiese zwischen seinen Beinen gewandt. „Hoffentlich bald …“
*
„Ich höre“, hauchte Mengele mit dieser Frauenstimme.
Der Gefreite zögerte. Für einen Moment wusste er nicht, ob es richtig gewesen war, den Doktor aufzusuchen. Wenn er nun Meldung an den Obersturmbandführer machte?
„Und schon wieder hat es ihm die Stimme verschlagen? Will er nur meine Zeit stehlen?“ Die Augen stießen stechende Blitze hervor. Sie trafen den jungen Soldaten gegen die ungeschützte Brust, nahmen ihm die Luft. „Was will er mir über meinem Mitarbeiter sagen?“
Der Gefreite dachte an das Gespräch, welches er vor ein paar Stunden zwischen dem neuen Mitarbeiter von Doktor Mengele und einem anderen Zivilisten mitangehört hatte.
„Was geschieht eigentlich mit den ganzen Kindern, wenn die Erzeuger eliminiert sind?“, hatte der Zivilist gefragt.
Der Neue hatte nur dagestanden und an seiner Zigarette gesogen.
Der Gefreite hatte hinter einer dichten Pflanze gestanden, die Zigarette fast aufgeraucht. Er hatte die Beiden sehen können. Und ihr Gespräch hatte ihn zutiefst interessiert.
„Was geschieht mit der Brut?“, hatte der Zivilist noch einmal gefragt.
„Der Doktor hat mir freie Hand gegeben.“ Die Stimme des neuen Mitarbeiters von Mengele war leise, und der Gefreite hatte unwillkürlich für einen Moment die Luft angehalten.
„Sollte das meine Frage beantworten?“ Jetzt wurde auch der Zivilist leiser.
„Siehst du die Lampe dort drüben an der Wand?“, hatte der Neue gefragt.
Auch der Gefreite hatte in die gedeutete Richtung geblickt, sah die Lampe, die einen sanften Lichtschleier an die Wand zauberte.
Der Zivilist hatte die Stirn gerunzelt. „Ja und?“
„Sieh dir den Schirm doch einmal genauer an.“
„Er ist sehr schön“, sagte der Zivilist.
Der Neue lächelte, drückte seine Zigarette in einem Aschenbecher zu seiner Rechten aus. „Es ist mein Werk.“
„Toll.“
„Er ist aus Kinderhaut.“
Der Gefreite tänzelte unsicher von einem Bein auf das andere. Der Doktor war aufgestanden, hatte sich an den großen Tisch gelehnt und blickte den Soldaten an.
Lange würde er nicht mehr warten, das erkannte der Gefreite. Sollte er einfach wieder gehen?
Doktor Mengele blickte auf seine Taschenuhr. „Vielleicht sollten wir den jungen Kollegen, über den er mir berichten will, einfach einmal aufsuchen.“
„Ich habe mitangehört, was er mit den Kindern macht, Doktor.“
Mengele blickte zu Boden.
Der Gefreite wurde nervös.
Dann blickte der Doktor wieder auf, und sein Grinsen ließ den Gefreiten erstarren …
*
Keine Hilfe!
Dem Obersturmbandführer war es egal, und Mengele steckte ebenfalls mit drin. Allen schien es egal zu sein. Nach dem Gespräch mit dem Doktor war ihm das klar geworden. Jetzt stand er hier neben dem hohen Sicherheitszaun, blickte auf die abgemagerten Körper, die von mehreren seiner Kollegen an ihm vorbeigetrieben wurden. Männer, Frauen. Keine Kinder. Die waren bei Mengeles Neuem. Kinder! Warum schickten sie sie nicht zusammen mit den Erwachsenen in die Waschräume. Das ging wenigstens schnell. Relativ schnell …
Der Gefreite versuchte sich eine Zigarette anzustecken, doch seine Finger zitterten so stark, dass das Holz erlosch, bevor es den Tabak berührte.
Irgendjemand musste etwas tun. Irgendjemand musste diesen Irren stoppen. Ein gigantischer Kloß begann in seinem Magen zu wuchern, wuchs sekundenschnell auf die Größe eines Fußballs heran. Er wollte ihn hinauswürgen, doch er schluckte lediglich.
Er würde ihn aufsuchen. Heute Abend! Und er würde handeln …
*
Die Kinder lachten. Ihr Lachen hallte über die Wiese, drang in jeden Winkel des Parks und verseuchte ihn mit ihrer anhaltenden Fröhlichkeit.
Paul Weller seufzte. Freund Melancholie hatte sich verabschiedet. Vielleicht nur kurz, doch diesen Augenblick würde er genießen.
Was würde aus den Kindern werden? Kämpfer? Verlierer?
Egal, sie würden leben. Die meisten von ihnen; sie würden aufwachsen, Familien gründen, Kinder zeugen. Das Leben war schön.
Und Paul hatte einen Teil dazu beigetragen. Vielleicht nur einen winzigen Teil, aber eben einen Teil. Jetzt konnte er wieder lächeln.
Mühsam stand er auf, ignorierte den Schmerz in dem steifen Bein, wankte kurz, als sein Kreislauf nicht ganz mitspielte. Dann ging er auf die Frauen hinten im Schatten zu. Er würde sich bei den Müttern bedanken. Danke sagen, dafür, dass sie dieser Welt eines der größten Geschenke gemacht hatten, die sich diese Welt vorstellen konnte.
Er steckte die Hände in die Taschen und lächelte …
*
Der Flur war nur spärlich beleuchtet. Der Gefreite hatte die Tür zu Mengeles Folterkammer erreicht. Er sah den Lichtschein, der unter der Tür hindurch seine trügerische Klarheit auf den Flurboden warf.
Der Neue arbeitete also noch. Der Soldat umklammerte den Griff seiner Waffe etwas fester.
Schweiß entstand auf seiner Stirn und hektisch wischte er ihn fort. Nach seiner Tat würden sie ihn hinrichten, doch das war ihm egal. Vielleicht schaffte er es auch zu fliehen. Doch auch das war ihm jetzt egal.
Er würde sich jetzt lediglich um seine Mission kümmern. Und wenn er nur ein Kind retten würde.
Er legte das Ohr an die Tür, vernahm leise Geräusche, die er nicht genau zuordnen konnte. Sollte er anklopfen? Was, wenn Mengele auch da war?
Doch Mengele war ein Fürsprecher der Taten seines Mitarbeiters. Vielleicht hatte er ihn auch dazu animiert. Wenn ja, dann würde er sich um beide kümmern.
Der Gefreite atmete einmal kräftig aus, ließ die Waffe unter seiner Jacke verschwinden und klopfte.
Ein lautes Scheppern antwortete.
Der Gefreite drückte die Tür auf.
Das Licht brannte für einen Moment in seinen Augen, nahm ihm kurz die Sicht. Er hörte das Zuziehen eines Vorhangs.
*
„Entschuldigen Sie, dass ich Sie so einfach anspreche, meine Damen.“ Paul Weller setzte ein einnehmendes Lächeln auf. Der Schmerz in seinem Bein drückte auf seine Blase.
Er blickte in die Gesichter der Mütter, die ihn erwartungsvoll mit einem Anflug von Mitleid anblickten.
„Sehr schöne Kinderchen haben Sie.“
Die Miene der Frauen veränderte sich nicht.
„Nun“, stotterte Paul, „ich möchte mich nur bei Ihnen bedanken. Mich bedanken für den Reichtum, den sie der Welt beschert haben.“
Jetzt lächelten auch ihre Gesichter. Mitleidig zwar, aber sie lächelten.
„Wollen Sie sich nicht zu uns setzen?“, fragte eine der Frauen.
„Danke, gern.“
*
„Wer sind Sie?“
Die Pupillen des Gefreiten hatten sich an das grelle Licht gewöhnt. Er sah den jungen Mann, den er schon vom Lampenschirmgeständnis her kannte. Er stand vor einem schweren Vorhang, sein weißer Kittel war zum größten Teil mit den unterschiedlich intensiven Rottönen geziert, ebenso wie seine Wangen.
Der Gefreite ließ seinen Blick durch den Raum gleiten. Einigen Tische standen zu seiner Linken, auf einem standen niedrige Gefäße mit blutigem Inhalt. Zangen, Sägen, Handbohrer lagen daneben. Der schwere Vorhang hinter dem Rücken von Mengeles Mitarbeiter, sonst war niemand in dem Raum. Der Gefreite zog seine Waffe und richtete sie auf den Mann.
„Was soll das?“ Er wich zurück, stieß gegen das gewellte Tuch.
Der Gefreite meinte, ein wimmerndes Geräusch hinter dem Vorhang zu vernehmen. Er schloss die Tür hinter sich ohne dabei die Waffe von dem Anderen zu lassen.
„Können Sie mir erklären, was Sie wollen?“ Mengeles Mitarbeiter schien etwas gefasster als noch vor wenigen Sekunden. Er trat einen Schritt vor und ließ die Hände in den Taschen verschwinden.
„Die Hände nach oben!“, brüllte der Gefreite.
Der Andere gehorchte.
„Und jetzt gehen Sie zur Seite!“
Das Wimmern hinter dem Vorhang wurde lauter. „Geh von dem Vorhang weg!“
Sein Gegenüber grinste und trat einen Schritt zur Seite.
„Ganz weg da!“, schrie der Gefreite. Sein Herz raste, und er versuchte, das Zittern seiner Hände zu verbergen.
„Es ist alles abgesegnet“, sagte der Mitarbeiter, während er langsam zur Seite ging. „Alles erfolgt mit der Zustimmung von Doktor Mengele.“
Wieder breitete sich der Kloß in seinem Magen aus, und der Gefreite hustete. Er stand kurz davor, seinen Mageninhalt auf den Boden zu befördern. „Mach den Vorhang zur Seite“, keuchte er.
Der Andere grinste wieder. „Das wird schwierig von hier aus.“
„Mach ihn zur Seite!“
Er ging wieder auf den Vorhang zu, grinste breit und riss ihn auf.
Der Gefreite schluckte; der nackte Junge sah ihn mit großen Augen an. Sein Mund bewegte sich, doch kein Laut drang hervor. Die Zähne waren herausgerissen, und das Blut an seinen Lippen war getrocknet.
„Ich habe seine Stimmbänder selektiert“, sagte Mengeles Mitarbeiter.
Der Gefreite hörte ein Wimmern, bis er feststellte, dass es sein eigenes war.
Der Junge, vielleicht zehn oder elf Jahre alt, lag gefesselt auf einem Tisch. Die Haut um sein linkes Bein war entfernt worden, das blanke Fleisch glänzte im grellen Licht des Raumes. Elektroden waren an seinem Penis und seinen Schläfen befestigt, endeten in einem großen Kasten. Seine Augen spiegelten alles Entsetzen dieser Welt wider.
„Es sind doch nur Juden“, sagte der junge Mann. Er hatte wieder die Hände in den Taschen seiner blutverschmierten Hose gesteckt. „Wollen Sie etwa, dass deren Brut uns irgendwann zur Rechenschaft zieht?“
Der Gefreite schloss die Augen, hörte die Worte nur noch aus weiter Ferne. Er spürte noch, wie sich sein Finger krümmte, hörte den dumpfen Knall seiner Waffe, den spitzen Schrei.
Als er die Augen wieder öffnete, sah er den Mann auf dem Boden liegen, seine Hände um sein blutendes Knie gepresst.
„Du hast mir ins Knie geschossen, du Sau!“ Der Typ kreischte. „Oh mein Gott, du hast mir ins Knie geschossen.“
Der Gefreite blickte auf den wimmernden Wurm zu seinen Füßen. Er blickte auf den gefesselten Jungen, und er richtete die Waffe auf den Schädel von Mengeles neuem Mitarbeiter.
Er hörte nicht, wie die Tür hinter seinem Rücken geöffnet wurde, er sah nicht die Waffe, die auf seinen Hinterkopf gerichtet wurde, und er sah nicht das Grinsen von Doktor Mengele, bevor dieser ihm eine Kugel durchs Hirn jagte …
*
Paul Weller stand auf.
„Vielen Dank noch einmal für Ihre Freundlichkeit“, sagte er lächelnd an die Mütter gewand.
Diese lächelten zurück. „Es war uns eine Ehre“, sagte eine von ihnen.
„Nette Kinderchen“, sagte Paul noch einmal, und als er langsam davon humpelte, freute er sich, dass er das Fortbestehen der deutschen Rasse so gut es ging unterstützt hatte.