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Schnee für Arsen
„Unser Vermieter behauptet, dass die Tanzim demnächst nach Beit Jala kommen, um Jerusalem zu beschießen“, sagt Arsen. „Aber das glaube ich nicht. Nicht bei so viel Schnee.“
Der Kleinbus rutscht mehr den steilen Hang von Beit Jala nach Betlehem hinunter, als dass er fährt. Säße nicht Sofian am Steuer, würde ich mit Zafirah aussteigen und zu Fuß zum Supermarkt gehen.
Doch wer in Israel Busfahrer war, kann Auto fahren, und so vertraue ich Sofian voll und ganz, uns heil die überfrorenen und weiß gepuderten Serpentinen hinunter zu bringen.
Seit die PLO die Intifada wieder aufgenommen hat und die Israelis sich abschotten, chauffiert Sofian anstelle von Touristen geistig behinderte Araber von ihrem Heim zu Schule und Werkstatt, holt Volontäre am Checkpoint zwischen Betlehem und Jerusalem ab und hält uns über Weltpolitik jenseits der Pressemeldungen auf dem Laufen.
„Verlass dich lieber nicht darauf“, widerspricht er nun Arsen. „Arafat hat Winterreifen aus Russland bekommen.“
"Und was hat Arafat mit den Tanzim zu tun?"
"Weißt du nicht, dass das die Fatah-Jugend ist?", fragt Sofian zurück. "Wobei - Jugend - die meisten von ihnen sind längst erwachsen."
„Siehst du“, ich knuffe Arsen auf dem Beifahrersitz in den Rücken. „Die Russen sind an allem Schuld!“
„Ich bin Armenier“, brummelt der, was nicht einmal zur Hälfte stimmt. Doch je nach Laune beruft er sich auf eine andere der drei Nationen, die ihn zustande gebracht haben.
„Selbst dann“, meine ich, „nicht vor Mitte Januar. Erst kommt das katholische Weihnachten, dann das russisch-orthodoxe, das armenische, Epiphanias, und dann vielleicht …“
Die Fatah hatten bisher noch immer christliche Feiertage respektiert. Westliches Geld ist ein scheues Tier, was Zafirah wenig interessiert. Sobald sie Weihnachten hört, klatscht sie in die Hände und lacht.
„Weihnachten Mama?“, wie alle Heimbewohner hauptsächlich von internationalen Volontären aufgezogen, spricht sie fließend englisch – was immer bei ihr fließend bedeutet.
„Baarfish – wenn sie dich abholt.“
„Weihnachten Mama?“, Zafirah wird quengelig.
„Eiwa.“ Lieber ein Ja, das sie in zwei Tagen vergessen haben wird, als eine heulende Autistin.
Vor dem King-Husseini-Krankenhaus gerät der Verkehr ins Stocken, ein Taxi ist mit einem Polizeiwagen kollidiert. Arsen und ich bestaunen schneebedeckte Zitronenbäume, Sofian übt sich in Geduld. Ich mache Fotos durchs Seitenfenster.
„Nicht!“, schreit Sofian, ich lasse vor Schreck die Kamera fallen. „Keine Fotos von der Polizei machen.“
„Das waren nur Zitronenbäume!“
Mit Sofian ist nicht zu spaßen. „Sie sind zurzeit sehr nervös. Alle. Ein falsches Wort, und sie nehmen dich fest.“
Ich lache. „Was, denkst du, die halten mich für einen israelischen Spion? Mit Zafirah im Auto?“
„Vielleicht.“
Eine Weile lang schweigen wir uns betroffen an.
„Die spinnen doch alle“, sagt Arsen schließlich auf Deutsch, es klingt kläglich.
Der Besitzer des Supermarkts hat Beziehungen, in seinem Laden bekommt man fast immer fast alles, und was er nicht hat, gibt es im nahen Shuk. Während Sofian die vorbereiteten Kisten fürs Heim in den Kleinbus wuchtet und Prozente aushandelt, verlieren Arsen, Zafihra und ich uns zwischen den Regalreihen.
„Hummus“, lese ich von einer Liste, und während Zafirah drei Plastikdosen mit der grauen Kichererbsenpaste in den Einkaufskorb legt: „Pita, Sarter, Tehinna, Sumak.“
Für das Weihnachtsfest der Volontäre fehlt nur noch das Huhn, wir finden Arsen im hinteren Teil des Ladens, wo er gerade eine Tüte entgegen nimmt. Durch das weiße Plastik zeichnet sich der Hühnerkopf ab, in einem Zipfel rinnt tropfenweise wässriges Blut zusammen. Wenigstens zappelt es nicht mehr.
Zurück in Beit Jala steuert Zafirah zielstrebig Sofians Haus an, unserem gegenüber; Sofians Frau hat ihr einmal zu oft Schokolade geschenkt. Als wir sie endlich loseisen können, stolpert sie ohne anzuklopfen in die Volontärswohnung und fällt beinahe über einen der drei Gasöfen, der wie verrückt Hitze bullert. Wären wir ausgebildete Heilerziehungspfleger, wäre das wohl nicht passiert, aber sei’s drum.
Marijke und Claartje, die die Truppe freiwilliger Mitarbeiter komplettieren, sitzen in Nachthemden am Tisch in der Wohnküche und lackieren Zehennägel. Claartje hatte Nachtwache, Marijke, die ohne Not nie vor elf Uhr aufsteht, begrüßt uns lautstark mit: „Da kommt ja unser altes Ehepaar!“
Claartjes Blick verfinstert sich, dabei war es ihre Idee, Arsen als meinen Mann auszugeben, dass er zu uns in die Wohnung ziehen kann und nicht im Heim leben muss.
„Sieh mal, wir haben ein Haustier mitgebracht!“ Damit zerrt Arsen den nackten Hühnerkopf durch ein kleines Loch in der Tüte. Zafirah kreischt.
„Schlecht gerupft“, konstatiert Claartje trocken. „Lass es draußen liegen, ich kümmere mich gleich darum.“ In ihrem holländischen Leben als Kosmetikerin in einem Salon für Reich und Schön hatte sie selbst pfannenfertig Geschnetzeltes nur mit Latexhandschuhen angefasst, wie sie mir einmal verriet. Aber Israel verändert uns alle.
Arsen deponiert die Einkäufe in der Küche, Zafirah wärmt sich an einem der Öfen und ich tausche den Alpakapullover gegen Arbeitskleidung aus klammer, aber kochfester Baumwolle, um den letzten Nachtdienst anzutreten. Nie hätte ich gedacht, dass ich meiner Patentante einmal für den edlen Hauch von Petrolgrün dankbar sein würde. Doch in meinem Zimmer, in dem es schätzungsweise vier Grad wärmer ist als draußen, wünschte ich, das Andenkamel zwischen November und März überhaupt nicht ablegen zu müssen.
In der Nacht scheint ein Kobold mit einer langen, dünnen Nadel umzugehen, und alles und jeden anzupieksen. Zwei Freundinnen streiten stundenlang, kaum verlasse ich das Zimmer, geht es von vorn los. Ein Geschwisterpaar geistert auf der Suche nach Süßigkeiten durchs Haus, ein junger Mann hat eine Serie kleinerer epileptischer Anfälle. Nach dem dritten gebe ich ihm Valium rektal, an die erhofften paar Stunden Schlaf zwischen Mitternacht und vier Uhr morgens lässt mich mein Gewissen nicht mehr denken.
Nach der Übergabe flüchte ich in die stille Volontärswohnung, falle ohne etwas zu essen ins Bett und in traumlosen Schlaf, bis in die frühen Abendstunden.
Den Rest des Tages vergammle ich irgendwo und irgendwie, schreibe ein paar Postkarten an Familie und Freunde, die ich am nächsten Tag in Jerusalem aufgeben will.
Alles wie immer, nichts Neues. Arbeit macht Spaß, Mama braucht keine Ritter Sport zu schicken, die bekommt man auch hier.
Kein Wort about the situation. Sorgenvolle Anrufe sind das letzte, was ich gebrauchen kann.
Gegen halb eins packt mich der Hunger, ich brate die Innereien des Hühnchens an und stopfe sie mit Unmengen Pita in mich hinein. Schokocreme mit dem Löffel aus dem Glas, Joghurt mit Zucker, Melone, Tomaten in wilder Reihenfolge.
Die ersten Schüsse fallen kurz nach zwei Uhr morgens, weit weg, in Betlehem. Eine schnelle Abfolge leichten Krachens, ähnlich Chinaböllern, dann kurz danach zweimal ein schwerer, dumpfer Knall. Granaten? In den ersten Wochen war ich beim kleinsten Knattern aufgeschreckt. Aufgedreht wie ein Kind vor dem Geburtstag mit den anderen neuen Volontären aufs Dach gelaufen, hatte die Spur israelischer Leuchtmunition am Himmel verfolgt, die schweren Dieselmotoren, die dröhnten wie die Maschinerie einer mittelgroßen Baustelle; versucht zu erraten, durch welche Straßen und in welche Richtung die Panzer rollten. Ob es sich um einen kleinen, leichten, nur mit einem Maschinengewehr bestückten Spähwagen handelte, oder den klassischen Kampfpanzer, hörten wir schnell heraus.
Nach wenigen Wochen wich der Kick der Müdigkeit. Der Notwenigkeit, zu arbeiten und junge Erwachsene zu betreuen, die längst über den Lärm hinweg schliefen, und so gewöhnte ich mich wie jeder andere daran, ihn zu ignorieren.
Doch jetzt, ausgeschlafen nach dem letzten Nachtdienst, ist nicht daran zu denken.
Zwischen dem hellen Klackern palästinensischer Kleinwaffen, das rasch näher kommt, lausche ich auf das typische kreischende Knirschen der Panzerketten auf Asphalt. Nichts. Mehrere Granateneinschläge ganz nahe, nach dem ersten presse ich die Finger in die Ohren. Ein Schatten fällt über mich. Arsen steht im Türrahmen, in Schlafanzug, Pullover und Socken, die Decken um sich gewickelt.
„Schön warm bei dir.“
Ich rutsche auf dem zum Sofa umfunktionierten Kinderbett zur Seite und mache ihm Platz. Ich hatte nicht gewusst, dass er immer noch aufwachte. Eine Weile lauschen wir schweigend den kreisenden Hubschraubern.
„Ich glaube, ich werde Silvester nie wieder leiden mögen“, sage ich irgendwann.
„Ich mochte es noch nie. Weiß auch nicht, warum.“ Arsen rückt dicht an mich heran, sein knochiges Knie presst gegen meinen Oberschenkel. „Das Beste an Silvester war immer, dass es nur noch sechs Tage bis Weihnachten waren. Um diese Zeit herum haben meine Eltern Weihnachtssüßigkeiten zum halben Preis gekauft und vor meinen Brüdern und mir versteckt. Vor dem sechsten Januar gab es nichts. Dafür hat sich die ganze weibliche Verwandtschaft in unserer Wohnküche versammelt, und dann haben sie fünf Tage lang ununterbrochen gekocht und gebacken. Das war was, sag ich dir!“ Er seufzt selig.
„Ich glaube, die mussten nachholen, was bei den Kommunisten nicht möglich war. Dafür hatten wir in Russland Schnee an Weihnachten“, meint er mit wehmütigem Blick auf die regennasse Straße.
Mein Gehör sucht immer noch nach den Panzern. Wenn die Israelis sich in den Kopf gesetzt haben, in Beit Jala einzurücken, werden die Behinderten morgen nicht in die Schule und zur Arbeit gehen können. Dann müssen wir uns etwas einfallen lassen. Doch es bleibt still.
Arsen hat seinen Kopf auf meine Schulter gelegt. Es ist halb drei, und auch ich werde wieder müde, doch der Gedanke an mein kaltes Zimmer erfüllt mich mit Grausen.
„Kommst du mit zu mir? Ich weiß nicht, ob ich allein noch mal einschlafen kann.“
„Hast du eine Wärmflasche?“
„Ist schon kalt.“
„Ich mach sie nochmal frisch.“
Ich hole meine Decken und quetsche mich zwischen Arsen und die Wand. Eine Weile schieben wir kichernd den heißen Gummibeutel zwischen uns hin und her, dann falle ich in kurzen, unruhigen Schlaf.
Als ich am nächsten Morgen aus Arsens Zimmer schleiche, starrt Claartje mich erst ungläubig, dann zornig an, bevor sie hinausstürmt und die Tür krachend ins Schloss wirft.
„Was‘n los?“, brummle ich.
Niemand antwortet. Ich werfe einen Blick nach draußen, Sofians Sohn winkt mir von seinem Taxi aus zu, bevor er zum Shuk tuckert, oder zum Checkpoint, um auf Fahrgäste zu warten. Keine Ausgangssperre also, das ist gut. Der verkehrte Schlafrhythmus steckt mir noch in den Knochen, sehr verlangsamt mache ich mich fertig für einen Tag in Jerusalem.
Irritierend wenige Soldaten flanieren durch die Straßen. Ich lasse meine Fotos entwickeln. Kein einziger palästinensischer Polizist ist auf ihnen zu sehen. Sofian hat sich umsonst Sorgen gemacht.
Am dreißigsten flammen die Schießereien wieder auf, bis die Tanzim schließlich auch bei Tage in Betlehem und Beit Jala bleiben; am dritten Januar, vier Stunden vor meinem Schichtende und sechs Stunden, bevor der Gasmann kommen und unsere Vorräte wieder auffüllen wollte, rücken die Israeli ein.
Marijke, die mich ablösen kommt, weht mit einem Schneeschauer herein.
„Wenn du dich beeilst, kannst du noch durch die Gärten klettern, bevor alles vereist ist. Aber nimm auf keinen Fall den Umweg über die Jeansnäherei, dort haben sie die Artillerie aufgebaut.“
Die Jeansfabrik ist nur eine Straße hinter der Volontärswohnung.
„Wer sagt das?“
„Sofians Sohn. Er hatte noch einen Fahrgast nach Beit Sahour, deshalb hat er die Ausgangssperre verpasst. Sie haben ihn sein komplettes Taxi auseinandernehmen lassen. Reifen abmontieren und was weiß ich, er könnte ja ne Bombe drin habe. Puh, hätte nicht gedacht, dass das neue Jahr so anfängt. Haben wir noch Tee? Meine Mutter hat extra Kandis geschickt!“
Ich werde die Teetrinkerei der Holländer nie verstehen, wo nichts über einen starken Kaffee geht. Oder Kakao … mit Zimt und Pfeffer … ich merke, dass es mich unwiderstehlich nach Hause zieht.
„Arsen ist noch in Jerusalem“, ruft Marijke mir hinterher. „Ich habe ihn auf dem Handy angerufen und Bescheid gesagt. Er wird mit dem Bus nach Har Giloh fahren und von dort versuchen, über die grüne Grenze zu kommen. Oder steht da oben auch Armee?“
Ich zucke mit den Achseln, ich weiß es nicht. Solange keine Tanzim auf dem Weg sind … die Israeli warnen einen zumindest erst, bevor sie schießen, und einen Europäer werden sie wohl passieren lassen. Hoffe ich zumindest.
Oberhalb des Heimes knirscht ein Panzer den weichen Asphalt weg, bestimmt von Har Giloh auf dem Weg nach Betlehem. Das ist gut, dann hat Arsen mindestens eine Stunde Zeit. Wenn er denn schon in dem israelischen Dorf angekommen ist.
Für einen kurzen Moment denke ich daran, tatsächlich durch die verschneiten Gartengrundstücke zu kriechen, in kaum gefrorenen Matsch auszurutschen und die Steinterrassen bis zu unserem Haus hinunterzufallen – und stapfe dann im Schatten der Hauswand zur Hauptstraße hinunter.
Der Kampfpanzer und ich erreichen zeitgleich die Kreuzung vor unserem Haus. Ich gehe geradeaus weiter, er rangiert, um die Kurve zu umrunden – und biegt auf die Hauptstraße zum Industriegebiet ein.
Er tut dir nichts, denke ich, während das Rohr sich auf mich einpendelt. Du bist Europäerin. Du bist gleich zuhause, fünfzehn Meter noch. Der Panzer bremst ab, sein Diesel hämmert Rußwolken ins Straßenlaternenlicht und schmilzt Schnee in der Luft, der sich als glänzender Film auf die Luke legt. Zehn Meter, stur gerade aus. Die Luke klappt auf und ich denke, es ist doch vernünftiger, unsichtbar zu werden, und ziehe mich in Sofians Hauseingang zurück.
Der Soldat holt mich ein, bevor ich an der Tür klopfen kann. Er ist jung, jünger und kleiner als ich, ein hübsches, weiches Kindergesicht, die Uniformjacke hängt locker um seine Schultern. Die Maschinenpistole zeigt auf den kleinen Fleck Erde zwischen unseren Fußspitzen; er riecht nach Angst, und so langsam werde auch ich nervös. Er leuchtet mir mit einer starken Taschenlampe ins Gesicht.
„Was machst du hier? Wohin willst du?“
Ich kratze mein spärliches Ivrit zusammen. „Nach Hause.“ Ich deute über die Straße. „Ich wohne dort.“
„Um die Uhrzeit? Weißt du nicht, dass das gefährlich ist, es ist Ausgangssperre!“
Ich verstehe ihn nicht, und er muss es auf Englisch wiederholen.
„Bleib zu Hause; wir sind sowieso nur ein paar Tage da.“
Damit verschwindet er. Ich bleibe noch eine Weile unter Sofians Tür stehen. Mein Herz schlägt langsam, viel zu langsam, ich bin mit einem Mal viel zu ruhig. Gehe über die Straße, das Bewusstsein dicht unter der Haut, und fühle mich gefährlich unantastbar. Im Nachbarhaus bewegt sich eine Gardine, als ich hinsehe, fällt der Vorhang wieder. Ob sie sich wundern, was der Soldat bei Sofians Haus wollte?
Arsen ist tatsächlich hinter dem Panzer die Serpentinen heruntergeschlichen, immer eine Kurve hinter dem Stahlkoloss. Während er sich aus den durchnässten Kleidern schält, berichtet er von plattgewalzten Autos am Straßenrand.
„Bei den meisten fehlten die Räder, der Motor ausgebaut, oder sie waren durchgerostet – die waren schon am Arsch, bevor die Israelis auch nur die Mobilmachung ausgerufen haben. Aber für die Weltpresse macht es sich natürlich gut.“
Ich denke an etwas anderes, nämlich daran, dass Arafat vielleicht auch neue Autos zahlt, wenn man die alten im Dschihad opfert.
„Können wir nicht einen zweiten Ofen anmachen?“, klagt Arsen.
„Geht nicht, Gas ist fast alle“, Claartje mümmelt unbeirrt salzige Lakritze, als sei es Kohle und sie könne damit einen inneren Kamin heizen. Sie schiebt Arsen welche hin, der dankend ablehnt. Mir bietet sie keine an, doch das ist mir ganz recht. Ich muss auf meine Figur achten, das arabische Essen schlägt gut zu Buche.
„Schade“, meint Arsen. „Ich hab mich so auf eine heiße Dusche gefreut.“
„Na, für eine wird es noch reichen“, meint Claartje großzügig.
„Oh prima!“ Arsen springt auf, dann fällt sein Blick auf mich, wie ich engstmöglich verknotet in dem zerfledderten Korbstuhl hocke und die Hände an der Kakaotasse wärme.
„Obwohl … du könntest es auch vertragen, glaube ich.“
„Geh mal“, winke ich ab. „Du warst zuerst da.“
Doch Arsen gedenkt, die Erziehung seiner Eltern zu ehren, und lässt den Gentleman raushängen. Wir streiten uns in Zuvorkommenheit, bis ich entnervt aufgebe.
„Duschen wir eben zusammen.“
Rücken an Rücken ziehen wir uns aus; obwohl wir beide hier zur Genüge nackte Körper in allen Formen gesehen und berührt haben, eigenartig beschämt. Ich brause mich ab und reiche den Duschkopf an ihn weiter, streife dabei seinen alabasterweißen Rücken, erlaube mir, verstohlen an den mit goldenen Sommersprossen übersprenkelten Schultern hängen zu bleiben, während ich mich einseife.
Er muss meine Blicke gespürt haben, er blinzelt kurz über die Achsel, ein zarter Hauch überflammt seine Wangen, als sich unsere Augen treffen. Er streift mich mit seinem nassen, schwarzen Haar, als er an mir vorbei nach der Seife greift, mein Gott, ich bin keine fünfzehn mehr, was zucke ich so zusammen? Hastig mache ich mich fertig, ziehe die feuchten Kleider wieder an – natürlich habe ich vergessen, frische mitzunehmen – und verlasse eilig das Bad.
In der Nacht beginnt die Artillerie bei der Jeansfabrik über unser Haus hinweg zu feuern; Lärm, der die Scheiben in der Fassung zittern lässt, den Schädelknochen zum Singen bringt, das Innerste in Lärm vergewaltigt, so sehr es sich auch sträubt. Überwältigend, durchtränkend, penetrierend. Ich krieche unter die Decke, presse die Fäuste auf die Ohren, singe laut. Flüchte schließlich in Arsens Zimmer und kralle mich an seinem stocksteifen Leib fest.
„Meinst du, sie können uns treffen?“
„Ich glaube, sie schießen übers Haus weg.“
„Aber was ist, wenn die Tanzim zurückschießen?“
„So dicht trauen die sich nicht ran.“
„Was, wenn die Tanzim zu kurz feuern? Dann sind wir in der Linie.“
Ich antworte nicht, sondern presse mich noch dichter an ihn. „Es passiert nichts“, murmle ich schließlich in seinen Hals. „Es wird schon nichts passieren …“
Und es passiert nichts, außer dass er seine kalten Hände auf meinem Bauch wärmt.
Am Spätnachmittag des sechsten Januar zieht die Armee sich zurück und hinterlässt zerbrochene Fensterscheiben, Panzerspurrillen im Asphalt und hie und da gelbe Warnwimpel, wo elektrische oder Gasleitungen getroffen wurden, und wo trotz des orthodoxen Feiertages bald Mitarbeiter der Stadtwerke ihre Baustelle eingerichtet haben. Ob sie die Tanzim gefasst haben, weiß keiner, auch Sofian nicht, den ich frage, wer die Schäden bezahle.
„Arafat natürlich.“
„Wenn die Israelis kommen und alles in Grund und Boden stampfen?“
„Wir haben ein Auslieferungsabkommen mit den Juden. Die Tanzim hätten zumindest festgenommen und hier inhaftiert werden müssen. Aber Arafat fordert sie noch dazu auf, Anschläge zu verüben.“
Natürlich, wie hatte ich es vergessen können. Die Tanzim, die Jugendorganisation der Fatah. Die Fatah, Arafats Kentruppe, die seine Leibwächter stellte, die stärkste Fraktion der PLO. Kein palästinensischer Polizist würde es wagen, die Hand gegen sie zu erheben.
"Und deswegen", Sofian sah sich um, ob jemand uns zuhörte, "ist es nur gerecht, dass er bezahlt."
Abends hocken Claartje, Arsen und ich bei Glühwein und russischen Leckereien zusammen auf dem verglasten Balkon. Arsen hat eine Gitarre aufgetrieben und versucht vergeblich, uns armenische Weihnachtslieder beizubringen. Unsere verhaltenen Gesangskünste enden samt und sonders in albernem Gelächter, woraufhin Arsen umso lauter schmettert: „Chorhud medz yev skandscheli …“, und „Krisdos dznav yev haydezav …“. Die großen, trockenen Lebkuchen brechen wir in Stücke, die wir untereinander verteilen und vor dem Essen in Glühwein stippen, weil Arsen sagt, das müsse so sein. Claartje findet auch das urkomisch, wieder brechen wir in Gelächter aus, und zum ersten mal seit langem habe ich das Gefühl, alles zwischen ihr und mir ist in Ordnung.
„Lies uns die Weihnachtgeschichte vor … auf armenisch!“, bettelt sie schließlich, nachdem wir den Glühweitopf halb geleert haben.
Arsen lehnt ab, wird mit einem Mal ernst, und als Claartje ihn weiter bedrängt, raunzt er: „Mit Gottes Wort macht man keine Scherze!“
Betroffen schweigen Claarje und ich uns an, Arsen klimpert in sich versunken auf der Gitarre herum.
„Tut mir leid“, sage ich schließlich. „Komm, sing noch was. Das war schön.“
Das Geklimper wird zur Melodie, Arsens volle Schmolllippen entlassen ein wohlklingendes Summen, doch es will keine rechte Stimmung mehr aufkommen. Nach wenigen Minuten stellt er die Gitarre weg, und greift nach einem Lebkuchen, den er als ganzes isst.
„Sie haben den Schwiegersohn des Supermarktbesitzers mitgenommen, den, der im Laden arbeitet. Einfach die Tür eingeschlagen, und ihn aus dem Bett gezerrt.“ Claartjes Worte fallen unvermittelt schwer in den Raum. „Seinen Bruder auch. Sie seien bei der Tanzim.“
„Stimmt das denn?“, fragt Arsen.
„Wer weiß das schon“, Claartje zuckt mit den Achseln. „Jeder sagt etwas anderes. Aber sie sind weg, das ist sicher.“
Grölen auf der Straße, schlagende Autotüren und Gelächter. Ich weiß nicht, wie viele Bewohner im meistenteils christlichen Beit Jala orthodox sind und wie viele katholisch, doch dass die Jugend Kirchenfeste lieber auf ihre Art feiert, scheint hier wie überall üblich zu sein.
Auf einmal splittert Glas. Elektrisiert springen wir vom Kinderbett hoch. Vor Sofians Haus hat sich ein Mob junger Männer versammelt, mit Eisenstangen zerschlagen sie Rafats Taxi, kindskopfgroße Steine fliegen durch die Scheiben im Erdgeschoss, Stiefel zertrampeln Rosen, Fäuste reißen Weinranken von der Mauer, Sofians Käfer liegt auf dem Kugeldach und reckt hilflos die Räder in die Luft, als sein Motorblock in Flammen aufgeht. Schüsse pfeifen in die Luft, ein Projektil zerschlägt einen Sonnenkollektor auf unserem Dach, wie auf Kommando rutschen wir vom Sofa auf den Boden. Ich komme vor einem Gasofen zu sitzen, mein Hintern fängt an zu glühen, doch die Schüsse wollen und wollen nicht enden. Schließlich halte ich es nicht mehr aus und stehe auf, sofort reißt Claartje mich zurück.
„Bent je gek? Op de vloer!“
Ich stoße sie weg, springe auf und renne in mein Zimmer.
Du bist schuld, du dumme Kuh! Du hast immer über die Tanzim reden wollen, du warst bei Sofians Haus ... der bewegte Vorhang, sie dachten, der Soldat geht zu Sofian, sie denken, er ist ein Veräter ... du bist schuld, du dumme Kuh ...
Ich will auf die Straße rennen, sie anschreien, dass sie aufhören sollen. Ich will sterben. Ich will die Zeit anhalten, und nie mein Studium abgebrochen haben.
Minuten später ist draußen alles vorbei, und jemand klopft verhalten an meine Tür.
„Elly?“ Die Türklinke wird gedrückt, doch ich habe abgeschlossen. „Elly mach auf … bitte!“
Ich ziehe die Decken fester über den Kopf, drehe das Gesicht zur Wand und presse die Faust in den Mund, um das hysterische Lachen zu ersticken.
Irgendwann ertrage ich mich selbst nicht mehr, die Stille nicht, die feuchtklamme Luft. Ich wünschte, die Armee käme zurück um zu zerstören, wie ich mich zerstört fühle. sehne den Lärm herbei, der jeden Gedanken auslöscht.
Arsen schläft wie ein Baby, eingerollt auf der Seite, die Knie zur Brust gezogen, die Hände unters Kinn geklemmt.
Sein Pullover riecht tröstlich anders als meiner, als ich zu ihm unter die Decke krieche und meine Nase in seinem Haar vergrabe. Ich schiebe meine Hände unter die unterste Kleiderschicht, ertaste seinen Rücken, die wenigen Härchen auf dem Bauch, die als schmaler Strich in der Hose verschwinden.
Als ich ihn in den Nacken küsse, wieder und wieder zwischen Genick und Ohr hin und her wandere, wacht er auf und dreht sich zu mir um.
"Elly?" Er betastet mein Gesicht, unsere Lippen treffen sich, er vorsichtig tastend, ich verzweifelt drängend. Während er noch sacht mein Haar streichelt, umkralle ich längst sein nacktes Gesäß und ziehe ihn über mich.
"Komm ... halt mich fest, bitte!"
Sein Gesicht entfernt sich von meinem, Arsen richtet sich auf und gleitet von mir herunter. "Ich will das nicht ... nicht so."
Er streckt sich neben mir aus, umfasst meine Taille und legt den Kopf auf meine Schulter. Sein Atem in meinem Haar tröstet nur den Rand meiner Seele.
"Ob Sofian etwas passiert ist?", murmelt er irgendwann.
"Es ist alles meine Schuld ..."
"Scht!"
"Du hast ja keine Ahnung!"
Er hält mich noch fester, als habe er Angst, ich könne gleich aufstehen und gehen. "Ich habe dich gesehen ... die Nachbarn nennen ihn schon seit Wochen Judenfreund. Glaub mir, sie hätten einen anderen Grund gefunden, irgendwann."
Wozu bin ich überhaupt in dieses Land gekommen, das sich nicht helfen lassen will? Um ein Held zu sein?
Am nächsten Morgen stehe ich vor allen anderen auf. Sofians Haus wage ich nur kurz mit dem Blick zu streifen, als ich durch den Schnee über die Kreuzung und den Berg hinunter schliddere. Die Pflanzen des einstmals wunderschönen Gartens liegen verkohlt auf einem Haufen im Hof; der Käfer nur noch ein kaltes Stahlgerippe, dem Taxi die Reifen zerstochen, der Innenraum voll Splitter. Im neugebauten Obergeschoss bewegt sich etwas, vielleicht nur eine optische Täuschung.
Auf der langen Geraden zwischen Betlehem und dem Checkpoint halten mehrere Taxen an, ob ich mitfahren wolle. Ich winke sie alle durch.
Hinter dem zugigen Kontrollverschlag stehen drei schneeüberzuckerte Panzer, die Rohre gegen Jerusalem gerichtet. Aufbruchsstimmung. Der Soldat, ein blonder Mittdreißiger mit rosig frischem Gesicht, kontrolliert meinen Pass nachlässig, um die Marktfrauen, die wenige Meter hinter ihm durch das Loch im Grenzzaun marschieren, kümmert er sich nicht.
„Deutschland?“
Ich sage nichts, nicke nicht, starre gleichgültig an ihm vorbei in sein ungeheiztes Kabüffchen. Checkpointblick.
„Meine Schwester lebt in Berlin. Schöne Stadt! Schönes Land!“
Keine Ahnung. Ich komme aus der schwäbischen Provinz, aus einem Kaff, in dem man jeden mit allen guten und schlechten Seiten sehr schnell kennen lernt, ob man will, oder nicht. Meine Augen tränen von dem kalten Wind. Ich dachte, nichts Menschliches sei mir fremd.
„Einen schönen Tag noch in Jerusalem“, verabschiedet er mich und winkt den nächsten heran, einen alten Mann, der von Dialyse im Sha’are Sedek-Krankenhaus redet.
Die Soldaten sind in die Straßen zurückgekehrt, und mit ihnen die alarmierte Ruhe, misstrauische Wachsamkeit unterm Scheinalltag, Taschenkontrolle an jeder Tür. In der Filiale der HaPoel-Bank in der Ben Yehuda hebe ich so viel Geld ab, wie man an einem Tag aus dem Automaten ziehen kann; es sieht nach einer Menge aus, doch wie viel ist viel für eine neue Existenz? Und vor allem, wo?
Zurück in Beit Jala ist das Taxi vor Sofians Haus verschwunden. Die Tür steht noch offen, im Flur liegen zerbrochene Möbel, die Bilder an den Wänden, kitschige Drucke von Alpenpanoramen, fehlen. Sonst ist alles unverändert, nur der Käfer, immer noch auf dem Dach liegend, ist vor unsere Gartenmauer geschoben worden.
Arsen erwartet mich am Gartentor, die Hände in die Taschen vergraben, die Schultern gegen die Kälte zusammengezogen. Er trägt keine Jacke.
„Sie sind vor einer halben Stunde gefahren. Zu Sofians Onkel nach Nablus.“
"Ich dachte, die beiden verstehen sich nicht gut?"
Arsen zieht die Schultern enger zusammen. "Wohin denn sonst?"
Meine Finger umklammern den Geldbeutel mit tausend nutzlosen Schekalim. Was werden sie mit ihm machen, wenn das Gerücht bis Nablus vordringt, dass er ein Judenfreund sei? Ein Verräter, ein israelischer Spion?
"Vielleicht gehen sie später nach Amerika ... seine Frau hat einen Cousin dort."
Arsen nimmt mich am Arm und führt mich ins Haus zurück, vorbei an den Zitronenbäumen, von denen Schnee rund abschmilzt.
"Ich soll dir noch Grüße sagen - und du sollst dir keine Vorwürfe machen."
Auf der Hollywoodschaukel im Garten sitzt, dick eingepackt, Zafirah. Als sie uns Arm in Arm kommen sieht, spitzt sie schmatzend die Lippen. Arsen wird rot, Marijke, die sich aus dem Fenster über uns lehnt, lacht, bis ich nicht mehr anders kann und mitlächle.
Und dann beginne ich endlich, zu weinen.