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Schneeblind
Schneeblind
Alan liebte diesen einen Moment des Morgens. Der erste verhaltene Alarmton zog ihn an die Oberfläche seiner Träume und dicht an die Wahrheit, aber noch hatte das zweite Schrillen nicht eingesetzt, das seine Stille in Fetzen zerren würde, wie eine Hyäne ihre Beute. Blutige Spuren in ihm hinterlassend. Diesen einen Moment liebte er, die Sekunden bevor er die Augen öffnete. Den Rest des Morgens ertrug er nur. Meist. Schule ist Schule, aber mögen muss man sie nicht.
Nach dem Alarm rutschte er vom Bett herunter, meist ohne Simon zu treten, der mit nur wenig mehr Energie aus dem unteren Bett fiel. Alan öffnete dazu normalerweise nicht einmal die Augen. Simon machte Licht, um seine Kleidung zu finden. Wäre es nach Alan gegangen, hätten sie sich noch ein paar Minuten Stille und Dunkelheit gegönnt, bevor sie die Tür aufrissen und in die gleißende Helligkeit des Neonlichts drängten. Aber Simon war älter, fast vierzehn und Alan konnte nichts dagegen tun, dass das Licht zu früh in seinen Tag vorstieß. Der Flur, der Waschraum, der Frühstückssaal. Mehr Licht, als das Auge verarbeiten konnte.
In der letzten Woche hatten sie einen Lehrfilm in Biologie gesehen, indem es um Taucherkrankheit und Schneeblindheit und ein paar andere Dinge ging. Er hatte nicht aufgepasst, aber diese beiden Krankheiten waren ihm immer noch in Erinnerung. Er merkte sich nur Dinge, die eine persönliche Bedeutung hatten. Für anderes hatte er keine Reserven.
Ein Taucher, der zu schnell aufsteigt, kann daran sterben. Das hatte sich festgefressen und spülte nun über ihn. Er war aus seinen Träumen beinahe aufgetaucht, diese zwei Minuten bevor der Alarm ein zweites Mal schrillte oder Simon ihn schließlich wachrüttelte, waren der letzte Ankerpunkt an der Sicherheitsleine. Er brauchte sie, um die Balance nicht zu verlieren. Nur einige Augenblicke zwischen dem tiefen Blau der Nacht und der kalten Morgenluft.
Wanderer, gefangen im Weiß der arktischen Wüste, Sonne die vom Schnee gebrochen wurde, die Fusion aus erbarmungslos kaltem Licht und nicht enden wollender Gleichförmigkeit. Er hatte nicht gewusst, dass man durch zu viel Licht blind werden kann, aber er hatte es Morgen für Morgen geahnt. Solche Dinge behielt er aus dem Unterricht, denn jetzt wusste er, dass seine Furcht berechtigt war.
Während er diese Gedanken hinter den geschlossenen Lidern verschob, dämmert die Erkenntnis. Der zweite Alarm hätte längst kommen müssen. Es mussten mehr als zwei Minuten vergangen sein, seit er aufgetaucht war. Bei dem Gedanken daran, was geschah, wenn er zu spät im Speisesaal war, verzog sich sein Gesicht kurz zu einem Faltengebilde. Das letzte Mal war noch keine Ewigkeit her und der Schmerz saß tief. Was immer man für erzieherisch richtig hielt, war für ihn der schlimmste Teil des Morgens. Das und die Angst, schneeblind zu werden, wenn er in die grellen Lichter heraustrat.
Simon hatte noch keinen Laut von sich gegeben. Normalerweise schien jetzt bereits das Licht der Deckenlampe durch seine Lider und zerstörte die Oberfläche der Seifenblase wie eine Patschehand, die danach greift. Aber es musste noch dunkel sein. Und der Alarm schrillte nicht. Vielleicht war es zu früh. Vielleicht hatte er sich den Alarm nur eingebildet. Daneben schob sich das sichere Gefühl, nach dem ersten Alarm wieder tief eingeschlafen zu sein.
Es konnte noch nicht zu spät sein. Simon würde ihn wecken. Trotz allem würde er Alan nicht so sehr im Stich lassen. Er war da, würde ihn wecken, wenn es Zeit wäre. Er hatte es hundert Mal getan, seit sie ein Zimmer teilten, aber er würde ihn nicht verschlafen lassen. Alan war sich so gut wie sicher. Und Alan würde niemandem erzählen, dass Simon ihm das obere Bett aus Angst davon überlassen hatte, er könne herausfallen. Das war an dem Morgen gewesen, als Simon wieder ins Bett gemacht hatte. Aber auch darüber würde Alan nicht sprechen.
Simon war einer von denen, aber seit sie zusammen wohnten, schien er etwas von seiner Schärfe verloren zu haben. Vielleicht fürchtete er Rache, vielleicht wollte er Frieden, ein wenig jedenfalls. Simon war gestern übel geworden. Er hatte sich wohl im Sportunterricht übergeben und sie hatten ihn ins Krankenzimmer gebracht.
Mit einem Ruck setzte Alan sich auf, die Augen immer noch geschlossen, aber der Bann der Seifenblase war gebrochen. Simon war nicht hier. Er hatte die Nacht im Krankenzimmer verbracht. Er hätte ihn nicht wecken können. Er war nicht da. Der Alarm hatte alle geweckt. Alle außer Alan.
Er atmete tief ein und blinzelte vorsichtig. Im Zimmer war es stockdunkel. Die Schulleitung ließ nachts die automatischen Rollläden herunter. Morgens drückte Simon auf den Knopf und Licht flutete herein. Dunkelheit war sein Freund, aber heute hatte ihn selbst dieser eine Freund verraten. Immer noch im Dunkeln rutschte er aus dem Bett und ertrug das kalte Linoleum unter den Fußsohlen. Er tastete mit kleinen Augen nach der Armbanduhr auf dem Nachttisch, fand schließlich den Knopf für das Licht und erstarrte. Beinahe viertel nach acht. Zum Frühstück erschien man um halb acht. Er konnte es bereits fühlen. Zuerst würde seine Haut glühen, dann würden sie über ihn lachen. Er wusste nicht, was schlimmer war.
Er nahm sich nicht einmal die Zeit, die kurze Pyjamahose auszuziehen. Stattdessen kletterte er in ein paar Jeans und zog ein Sweatshirt über den Kopf. Dann biss er sich auf die Lippe und trat an die Tür. Eins zwei drei. Er kniff die Augen zusammen, wappnete sich für die Flut aus Neonlicht, und zog die Tür auf.
Blinzelnd stand er einen Moment lang da und schüttelte seinen Kopf, als wolle er eine Handvoll Motten abschütteln. Auch der Flur lag in absoluter Finsternis. Schneeblind. Es war über Nacht geschehen. Er war schneeblind geworden. Jetzt lag die ganze Welt für immer in Dunkelheit. Er hätte nicht wirklich geglaubt, dass Neonlicht jemanden blind machen konnte. Er hatte es behauptet, aber nicht geglaubt. Die Dunkelheit im Flur war der Beweis. Während er nach Luft rang, erinnerte er sich daran, dass er den Wecker gesehen hatte, die Zeiger, die Zeit. Wenn er blind wäre, hätte er das nicht sehen können. Aber um acht Uhr morgens musste selbst der fensterlose Flur zwischen den Zimmern hell sein, alle Lampen brennen.
Er musste die Uhr falsch herum gehalten haben. Wenn er über Kopf gestanden hatte, musste es jetzt ... viertel vor zwei nachts sein, nicht viertel nach acht morgens. Er hatte sich selbst einen Streich gespielt. Er griff noch einmal nach der Uhr und tastete nach dem Licht. Viertel nach acht, kein Zweifel. Er hatte richtig gesehen. Einige Sekunden zögerte er, dann streckte er sich nach dem Schalter neben der Die Uhr verstellt, die Birne rausgedreht, nicht das erste Mal, dass sie ihn aufs Korn nahmen. Vielmehr wäre es der erste Tag gewesen, den er ohne Schaden überlebt hätte. Nicht sehr wahrscheinlich, aber möglich.
Er stolperte zum Fenster hinüber. Er würde Gewissheit haben. Draußen dämmerte es. Er musste nur den Rollladen hochfahren, dann wüsste er Bescheid. Aber nichts rührte sich. Der Knopf blieb in der Aufwärtsstellung stehen, aber die Jalousie rührte sich nicht. Kein Strom. Erst jetzt bemerkte er, dass die rote Standby-Leuchte des Radios nicht schimmerte. Er schüttelte sich wieder. Dieses Kribbeln, dass in ihm aufstieg, war anders als gewöhnlich. Sie müssten jetzt aus dem Flur hereingeströmt kommen, lachen, oder urplötzlich die Sicherung wieder reinschnappen lassen und ihn im Licht, dem Geplärr des Radios und ihrem Lärm ertränken. Sie würden jeden Moment einen Eimer Eiswassers über ihm ausleeren und dann erst lachen. Er verharrte. Sollten sie kommen. Er war vorbereitet. Nicht das erste Mal, nicht das letzte. Aber minutenlang geschah nichts.
Alan schüttelte sein Bein aus. Vor Anstrengung hatte er zu kribbeln begonnen, als wäre es eingeschlafen. Dann streckte er seine verspannten Schultern. Zwei Wirbel knackten vernehmlich, als er sich bewegte. Das war lächerlich. Im Dunkeln vor dem Fenster zu stehen, wir Karate Kid auf der Lauer, würde ihm nicht helfen. Auf Zehenspitzen schlich er zurück zur Tür. Die Überraschung würde auf seiner Seite sein. Er riss die Tür mit einem Ruck auf und sprang in den Flur hinaus. Wer ist jetzt die Hyäne? Aber nichts tat sich. Weder bogen sie sich vor Lachen, noch stürzten sie sich auf ihn. Er war allein. Alan suchte den Schnappschalter für das Flurlicht, aber außer einem trockenen Knacken tat sich auch hier nichts. Er blieb im Dunkeln. Er war allein. Er wusste nicht, warum.
Alan fühlte die kleinen Perlen auf seiner Stirn, sie wurden kalt, rannen in seine Augenbrauen. Er kniff die Augen wieder zusammen und setzte sich in Bewegung. Die Jungen lachten über Tom, weil sein Schnarchen noch zwei Zimmer weiter zu hören war. Immer. Aber als Alan sich der Tür näherte, war es still. Die Tür stand einen Spalt breit offen und er lugte hinein. Auch hier war es finster. Die Betten waren ungemacht, aber leer. Es war keine Überraschung mehr, dass der Lichtschalter nicht funktionierte. Auch die nächsten beiden Räume, die er kontrollierte, waren leer und dunkel.
Er zog die Stirn in Falten und lehnte im Türrahmen des letzten Zimmers auf dem Flur. Ein Stromausfall war eine Sache, aber leere Betten konnten nur bedeuten, dass alle längst beim Frühstück waren, oder schon in den Klassen. Er hatte ein Problem. Für einen Moment dachte er wieder einmal daran, die Außentür zu öffnen und einen Fuß vor den anderen zu setzen, nach Hause zu laufen. Hier wollte er eigentlich gar nicht sein. Aber die Türen hatten einen Alarm und er würde nicht einmal ein paar Schritte weit kommen. Er hatte es versucht, aber nur einmal. Sicherheitsgründe, Aufsichtspflicht. Sie hatten viele Erklärungen.
Mit einem Ruck stemmte er sich vom Türrahmen ab und holte tief Luft, bevor er lossprintete. Seine nackten Füße klatschten auf dem Linoleum ein Stakkato. Einige Male stieß er gegen eine der Wände, die er nicht sehen konnte und auf der Treppe hätte er sich beinahe überschlagen. Aber er hätte vor einer Ewigkeit unten sein müssen. Jetzt war jede weitere Sekunde Luxus. Vor der großen Schwingtür des Speisesaals holte er Luft und strich sich durch die Haare. Er strich über seine Kleidung und versuchte sich zu erinnern, ob die Jeans und das Shirt sauber gewesen waren. Er realisierte seine nackten Füße. Heute bekamen sie etwas für ihr Geld. Heute war er die Lachnummer. Er versuchte, es noch einen Augenblick zu verzögern. Dann stieß der gegen die Tür zum Speisesaal, gewappnet gegen alles, was ihm entgegenschwappen würde. Durch die Fenster im oberen Teil der Tür sah er Licht. Aber die Tür gab kein bisschen nach. Verschlossen hatte er diese Tür noch nie gesehen. Aber sie mussten da drin sein. Er lauschte.
Zuerst war es der Knall, der die Stille zerriss. Dann folgte ein hoher, spitzer Schrei, dann herrschte wieder absolute Stille. Alan hatte sich instinktiv zu Boden geduckt, ohne zu wissen, was geschah. Er wollte nicht gesehen werden, nicht hier im Flur, nicht allein, nicht auffallen. Einige Momente später polterte etwas metallisch, dann verhallte das Geräusch in den Fluren.
Alan drückte sich dicht an den Türrahmen und streckte sich, um durch die Scheiben spähen zu können. Dort waren sie alle beieinander. Die ganze Schule saß dicht zusammengedrängt und fixiert auf etwas, das sich an der Wand neben der Tür befinden musste. Sie hatten bleiche, starre Gesichter, wirkten unnatürlich steif. Niemand aß. Vielleicht hatte es schlechte Nachrichten gegeben. Wem hörten sie zu? Er bemerkte, dass auch Lehrer dazwischen saßen, sogar die Biolehrerin, die darauf bestand, dass man sie Fräulein nannte. Sie aßen sonst am Lehrertisch, direkt neben der Tür.
Bevor er sich weiter darüber wundern konnte, stockte sein Atem. Unmittelbar vor ihm hatte sich ein Hinterkopf ins Bild geschoben. Wer immer das war, er gehörte nicht hier hin. Es war nicht so sehr ein Kopf. Vielmehr eine Kappe, unter der einige Strähnen dunkler Haare hervorragten. Der Kragen des karierten Hemdes war völlig verfärbt. Er starrte darauf wie hypnotisiert.
Neben dem Kopf erkannte Alan ein metallisches Rohr, das auf der Schulter ruhte. Es dauerte einen Augenblick, bis er an ein Gewehr dachte. Aber in diesem Augenblick hatte der Mann es bereits gehoben und einen weiteren Schuss in die Deckenverkleidung abgegeben. Ein zweites Mal durchschnitt dieser Peitschenschlag den Korridor. Alan zuckte zusammen und verlor den Halt auf seinen Zehen.
Polternd fiel er gegen einen der Schränke in der Flurwand, Blut quoll unter den Zähnen aus seiner Lippe. Als der Tumult in der Halle sich gelegt hatte, die spitzen Schreie und Schluchzer, die auf den Schuss gefolgt waren, wieder verklungen waren, blieb es still. Die Tür unbeweglich, der Mann nicht mehr zu sehen, so als wäre auch der Speisesaal völlig leer.
Alan löste sich aus seiner Erstarrung und kroch rückwärts, dicht, aber nicht zu dicht an der Wand. Nur kein Geräusch machen. Sie würden ihn einen Feigling nennen, aber er wollte nur fort. Sicherlich sollte er Hilfe holen, ein Telefon suchen, aber alles, woran er denken konnte, war hier rauszukommen und irgendwo abzuwarten, bis alles vorbei war. Seine Gedanken rasten fieberhaft, während er das Blut von seiner Lippe leckte. Der metallische Geschmack irritierte ihn und ließ ihn immer wieder zusammenschrecken, obwohl er sich nicht veränderte. Mehr zufällig als bewusst erreichte er eine Tür, die nicht ganz geschlossen war. Das Lehrerzimmer war ebenso leer, wie alle anderen Räume, als er hineinkroch.
Er sah sich in der Dunkelheit um, ohne etwas zu erkennen. In seiner Erinnerung war das Zimmer unklar, Feindesland. Aber das Lehrerzimmer hatte eine Tür nach draußen. Die Lehrer konnten kommen und gehen. Niemand kontrollierte es. Kein Alarm. Alan schlüpfte durch die Dunkelheit, an die sich seine Augen nicht gewöhnen konnten. Nur mühsam arbeitete er sich um Tische, Stühle und Bücherregale herum zur Tür.
Mit der Hand schon auf der Klinke zögerte er. Türen machten das mit ihm. Dann stieß er sie auf und trat einen Schritt in die Sonne hinaus. Zuerst sah er nichts, stand nur da und ließ sich bescheinen. Dann trat er einen Schritt weiter hinaus.
„Schüler.“ Der Schrei zuckte kurz auf, links hinter den Büschen, dann kam Bewegung in die Hecken entlang des Fußwegs zum Lehrerparkplatz.
Männer in grünen Overalls zogen ihn zu Boden, trugen ihn halb, umringten ihn. Das Gewitter der Fragen aus tausend Mündern verebbt nur zögernd, als der weißhaarige Mann vortritt: „Wie viele?“ Alan zuckte nur die Achseln. Die Frage erschien konfus. „Wo?“ Alan deutete auf den Speisesaal mit seinen hochliegenden Fenstern, dann sackte er in sich zusammen und begann, ganz ruhig zu atmen. Der weißhaarige Mann gab Anweisungen und Dinge geschahen.
Alan saß noch da und atmete, als man die Biologielehrerin auf dem Weg nach draußen stützen musste. Als man die Schüler ins Freie brachte und am Schluss den Mann im karierten Hemd aus der Tür schob, die Hände in Fesseln, zu dem Bus mit den Gittern vor dem Tor. Alan war immer noch damit beschäftigt, zu atmen und nichts zu hören.
Heute lernte Alan die Bedeutung der Begriffe Trauma und Held viel zu genau. Geiselnahme dagegen blieb diffus und eine Verbindung schien in der Dunkelheit verborgen zu bleiben, in die er flüchten wollte. Aber das Licht im Polizeipräsidium stellte ihm ein Bein.