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- 30.06.2004
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Schneereiterin
Die Hufe des riesigen weißen Pferdes sinken weich und lautlos in den Fluss aus Luft. Hier, über ihm, ist es windstill, sein leises Rauschen klingt gedämpft in den Ohren der Schneereiterin. Unter ihr zieht die winterliche Landschaft dahin, Häuser, Tannen, hier und dort ein silbern blinkender Fluss. Alles verhüllt von einer weißen, unberührten Decke.
Schneeflocken rieseln aus ihren Haaren, aus der Mähne und dem langen Schweif des Pferdes, eine Ankündigung der Wolken, die der Reiterin nachfolgen, und die noch mehr Weiß über die Welt streuen.
Zuckerguss, der über eine Lebkuchenlandschaft gestrichen wird. Der Gedanke ist schal, sie hat ihn zu oft gedacht. Sie schüttelt den Kopf, leicht verärgert, und ein Flockenschauer geht über dem Dorf nieder, das sie gerade passiert.
Plötzlich ein Ziehen in ihrem Bauch, unangenehm. Ein stummer Ruf, ein Befehl, dem sie folgen muss. Die Reiterin versucht einige Momente lang, sich dagegen zu wehren, doch das Ziehen wird immer stärker, versucht, sie aus dem Sattel zu reißen. Es kommt von unten, von der Erde.
Unwillig wendet sie das Pferd, gibt ihm mit einem leichten Schenkeldruck zu verstehen, was sie von ihm möchte. Es wiehert leise, dann senkt es seinen Kopf, tiefer sinken seine Hufe in den Luftstrom, bald taucht es ganz in ihn ein, trabt immer weiter Richtung Erde. Die Haare der Schneereiterin wirbeln im plötzlichen Wind, Flocken tanzen, stieben unkontrolliert nach allen Seiten davon, dann ist es auf einmal ruhig, sie sind unter dem Wind.
Geräusche dringen auf sie ein, menschliche Geräusche. Vieh, das in den Ställen brüllt, Gespräche in den Häusern, Weinen und Lachen. Ihr Gehör ist scharf, die Klänge sind viel zu laut für sie. Laut und unwichtig. Sie berühren die Welt der Schneereiterin nicht.
Der Ruf kommt von einer Lichtung in einem kleinen Kiefernforst. Direkt hinter den schneebedeckten Wipfeln liegt eine große Stadt. Die Schneereiterin kennt ihren Namen nicht, und er ist ihr auch gleich. Sie folgt dem Ziehen auf die Lichtung. Mitten im unberührten Weiß hat eine junge Frau Spuren hinterlassen, steht mit einem trotzigen Gesichtsausdruck im Zentrum der Lichtung und blickt der Schneereiterin entgegen. Lautlos berühren die Hufe des Pferdes den Schnee, sinken ein, hinterlassen die Decke dennoch unberührt, tragen die Reiterin bis zu der Frau. Dort zügelt die Reiterin das Pferd und sieht auf ihre Beschwörerin hinab.
Sie ist wirklich sehr jung, eher noch ein Mädchen als eine Frau. Sie sieht aus, als habe sie in der letzten Zeit viel Gewicht verloren, eine Magerkeit, die auf Unbefriedigung hindeutet. Nur ein dünnes schwarzes Kleid verhüllt ihren viel zu dürren Körper, ihre Miene ist verbissen, die Lippen aufeinander gepresst. Rote Striemen an ihren Handgelenken. Sie starrt zu der Schneereiterin auf, fest entschlossen, sich nicht beeindrucken zu lassen. Die Reiterin muss lächeln. Wie bekannt ihr das alles vorkommt.
„Warum hast du mich gerufen?“
Das Mädchen zittert vor Kälte. Vielleicht auch vor ihrem Entschluss. Ihre Angst ist beinahe greifbar. Sie holt tief Luft, schöpft Mut.
„Ich will, dass du mich tötest!“
Die Schneereiterin neigt den Kopf, lächelt kühl. „Warum?“
Das Mädchen seufzt, Wehmut tritt in ihre Augen. „Weil Wanja mich nicht liebt.“
„Warum soll ich dich töten? Warum tust du es nicht selbst? Hast du Angst?“
Sie hebt die Hände, hält der Schneereiterin die verschorften Wunden wie eine Anklage entgegen.
„Ich hab es versucht. Sie haben mich zu früh gefunden. Wenn du mich tötest, werden sie mich nicht mehr retten können.“
Die Reiterin schüttelt den Kopf. „Ich töte niemanden. Und du willst auch überhaupt nicht sterben.“
„Du bist die Herrin der Kälte und des Todes, warum kannst du nicht einmal ein Leben nehmen, das dir angeboten wird. Du bist doch sonst auch nicht wählerisch.“
„So ist das nicht. Ich nehme keine Leben. Ich bringe nur den Winter. Der tötet.“
Der Trotz in den Augen des Mädchens weicht Enttäuschung und Schmerz. Sie lässt den Kopf hängen, ihre Haare fallen ihr strähnig ins Gesicht. Die Schneereiterin lächelt, es ist kein freundliches Lächeln.
„Ich kann dennoch etwas für dich tun, wenn du es wirklich möchtest.“
Sie blickt auf, Tränenspuren im Gesicht. „Was?“
„Ich kann dir den Schmerz nehmen. Aber es gibt einen Preis.“
Für einen Augenblick huscht Furcht über das Gesicht des Mädchens. Dann fasst sie sich wieder. „Was für ein Preis?“
„Wenn ich dir das Leid nehme, dann ist es für immer.“
Sie zuckte mit den Schultern. „Und?“
„Ich muss dir auch die Freude nehmen. Ohne Freude kein Leid. Ohne Leid keine Freude.“
Tiefes Durchatmen. Eine schweigende Minute verstreicht. Das Mädchen nickt. „In Ordnung. Das ist besser als gar nichts.“
Ein weiteres freudloses Lächeln der Schneereiterin. Sie beugt sich vor, so weit, dass sie beinahe vom Pferd gleitet. Mit einem Finger streicht sie die Wange des hageren Gesichts entlang. Das Mädchen schaudert. Leicht berühren die Lippen der Reiterin die Stirn des Mädchens. Als sie einatmet, fühlt sie einen kühlen Hauch, der von der junge Frau ausgeht. Es ist vollbracht.
Sie richtet sich auf, blickt nicht zurück, als sie das Pferd wendet und antreibt. Die lautlosen Hufschläge tragen sie davon, wieder zurück in ihre Welt der Stille und Einsamkeit. Sie empfindet eine unbestimmte Freude, als sie über der stummen Erde dahingleitet. Zu Hause.
Dörfer, Städte, Wälder unter ihr. Menschen in der Winterkälte. Viele sterben. Es ist ein harter Winter, den sie dieses Jahr gebracht hat. Die Schneereiterin blickt herunter, und spürt, wie ihr Herz schwer wird. Tränen in ihren Augenwinkeln, unerträglich heiß zuerst, bevor sie auf ihrer Haut zu Kristalltropfen erstarren.
Die folgenden Winter sind mild, der Schnee fällt nur sanft. Nur wenige Menschen finden den Tod.
***
Die Schneereiterin hat kein Gefühl für Zeit, aber sie weiß, dass welche vergangen ist, als sie den Ruf erneut hört. Nun kennt sie die Stimme schon. Und dieses Mal fängt ihr Herz freudig zu schlagen an, als sie das Pferd durch den Wind lenkt.
Das Mädchen ist nun kein Mädchen mehr sondern eine richtige Frau. Ihre Gewänder sind kostbar, sie trägt einen pelzverbrämten Mantel und schweren Goldschmuck. Ihr kindlicher Trotz ist einem hochmütigen Gesichtsausdruck gewichen, mit dem sie die Schneereiterin erwartet. Sie wartet nicht, bis die Reiterin fragt, sondern trägt ihre Forderung vor, sobald die Hufe des Pferdes still stehen.
„Ich möchte, dass du meinen Mann tötest.“
„Warum?“
„Weil ich die mächtigste Frau der Stadt sein werde, wenn ich sein Geschäft übernehme.“
Mit ausdrucksloser Mine schüttelt die Reiterin den Kopf. Flockengewirbel. „Ich sagte dir schon, ich töte nicht. Warum tust du es nicht selbst?“
Die Frau presst die Lippen zusammen, senkt den Blick zu Boden und sagt nichts. Doch die Reiterin kennt die Antwort schon.
„Du hast Angst, nicht wahr?“
Unmerkliches Nicken.
"Und du liebst ihn noch ein wenig."
Das Schweigen dehnt sich in die Unendlichkeit.
„Ich kann dir deine Angst nehmen. Für immer. Aber auch das hat seinen Preis.“ Sie erwartet, dass die Frau nachfragt, aber die schweigt nur weiter. „Mit der Angst werde ich auch die Liebe nehmen. Sie würde dich in deinem Vorhaben sowieso nur behindern.“
Schweigen. Die Schneereiterin kann sehen, wie die Frau Mut fasst, bevor sie langsam nickt. „In Ordnung.“ Ihre Stimme klingt heiser. Sie sieht nicht auf, als die Reiterin sich hinab beugt, ihre Wangen mit dem Mund streift.
Der Hauch, der dieses Mal an den Lippen der Schneereiterin vorbei streicht, ist nicht mehr ganz so kalt. Die Frau tut ihr leid, als sie sich von ihr abwendet, und das Pferd in den Himmel lenkt.
In den nächsten Jahren gibt es immer weniger Schnee. Gerade genug, um die Pflanzen und Samen zu bedecken und bis zum nächsten Frühling zu schützen. Es taut sehr früh. Schneestürme kommen keine mehr vor. Die einzigen Todesfälle sind sehr alte oder kranke Menschen.
***
Sie hat auf den Ruf gewartet, ihn herbeigesehnt. Es kommt ihr ewig vor, bis sie ihn wieder hört. Sie reißt das Pferd herum, treibt es zu einer schnelleren Gangart an, als sie zu der Lichtung strebt.
In der Stadt am Wald brennt es. Mehrere Stellen, hochschlagende Flammen, gierig, verzehrend. Die Schneereiterin kann das Heer hören, das vor der Stadt liegt. Waffenlärm, derbe Gespräche. Sie sieht nicht hin, es zieht ihr das Herz zusammen.
Die Frau ist um ein paar weitere Jahre gealtert. Ihr Mantel besteht nun aus reinem Brokat. In einiger Entfernung steht eine Kutsche mit vergoldeten Beschlägen. Ohne Angst hat sie es weit gebracht. Doch sie sieht müde aus, verzweifelt.
„Hilf mir!“, verlangt sie, noch bevor die Reiterin ihr Pferd zügelt. „Ein feindliches Heer lagert vor meiner Stadt. Sie werde uns bald erobern. Ich bitte dich, schicke den Winter über sie. Lass sie erfrieren in ihrem erbärmlichen Zeltdorf.“ Hass verzerrt ihre Züge.
Die Reiterin schweigt lange. Ein warmer Klang liegt in ihrer Stimme, als sie schließlich antwortet. „Du verlangst immer das Gleiche von mir. Du weißt doch, dass ich es dir nicht geben kann. Ich töte nicht.“
„Dann handele mit mir, wie die letzten beiden Male!“ Gier in der Stimme, aber auch Verzweiflung. Vielleicht eine der wenigen Regungen, die ihr geblieben ist. „Ich würde ja meine Soldaten aussenden, wahrscheinlich würden sie den Feind sogar schlagen können, aber viele würden sterben. Nur, um die Stadt zu retten. Um meine Stellung zu sichern. Das ist viel verlangt.“
Die Reiterin überlegt. Sie nickt. „Du hast noch dein Gewissen. Ich könnte es dir nehmen.“
„Was ist der Preis?“ Dieser Eifer.
„Es gibt keinen Preis, Ein Leben ohne Gewissen ist Bezahlung genug.“
„Versuchst du, mich umzustimmen?“
„Ich sage nur die Wahrheit.“ Wie hart ihr Gesicht geworden ist. Wie lange ist es her, dass sie sich wegen eines Jungen umbringen wollte? Ob sie sich noch erinnert.
„Tu es!“ Ein scharfer Klang in der Stimme der Frau, ein unwiderruflicher Befehl.
Die Reiterin lässt sich vom Pferd gleiten, schreitet auf die Frau zu, Schnee tanzt um ihre Füße. Sie ist größer als die Frau, ein wenig muss sie sich bücken, um sie sanft auf den Mund zu küssen.
Wärme fließt in den Körper der Schneereiterin, sie lächelt. Auch die Frau lächelt, doch ihre Augen sind kalt. Diesmal ist sie es, die als erstes geht. Sie würdigt die Reiterin keines weiteren Blicks.
Es ist ein seltsamer Winter. Schnee fällt nur über den Feldern und Gärten. Der Frost kommt nur kurz, um Samenkapseln zu sprengen und Knospen zu wecken. Wilde weiße Wirbel tanzen auffällig an Stellen, wo ein Mensch in Gefahr ist, so lange, bis Hilfe kommt. Einzelne Flocken wehen verirrten Wanderern voran und bringen sie auf den rechten Weg zurück.
Die einzigen Todesopfer kosten der Krieg und die Hungersnot, die auf die alles vernichtenden Insektenschwärme folgt.
***
Die Schneereiterin ist auf der Lichtung, bevor die Frau dort eintrifft. Ihre Füße knirschen in der dünnen weißen Schicht, die den Boden bedeckt. Das Pferd wartet am Waldrand.
Die Frau sieht gebeugt aus, gebrochen und alt, viel älter als sie sein sollte. Schatten hängen unter ihren Augen.
„Ich möchte meine Gefühle wieder haben!“ Sie fragt überhaupt nicht, woher die Schneereiterin wusste, dass sie kommen würde.
Die Reiterin betrachtet sie interessiert. „Warum das?“
„Der Krieg ist gewonnen, ich habe einen neuen Mann, ich bin reich, mächtig, berühmt.“
„Das ist doch, was du wolltest.“
Die Frau zuckt mit den Schultern. „Aber ich kann es nicht genießen. Ich sehe, was ich erreicht habe, und es fühlt sich schal an. Ich brauche meine Gefühle wieder. Bitte!“
Das Bitten muss ihr schwer gefallen sein. Sie meint es nicht ehrlich, das weiß die Reiterin genau. Trotzdem rührt es sie an. Traurig schüttelt sie den Kopf. „Ich hatte dir gesagt, es sei für immer, weißt du noch?“
Die Frau starrt stumm, wütend. Doch gleich darauf werden ihre Augen wieder teilnahmslos. Sie kann nun nichts mehr fühlen, nicht für lange, auch das ist der Schneereiterin bewusst. Nur noch Begehren, ab und zu. Sie muss jetzt schnell machen, bevor es sich die Frau anders überlegt.
„Es gibt vielleicht eine Möglichkeit.“
„Welche?“
„Du musst dir deine Gefühle von anderen zurück holen.“
„Wie?“ Gier, das ist alles, was ihr noch geblieben ist. Die Schneereiterin schreitet langsam zum Rand der Lichtung, greift nach den Zügeln des Pferdes und führt es zu der Frau hin.
„Hier“, sie streckt ihr die Zügel entgegen. Die Augen der Frau werden für einen Moment weit vor Schreck.
„Was soll ich damit?“
Die Reiterin lächelt. „Das, was ich auch getan habe. Reiten. Über der Erde, über dem Wind. Reiten für den Winter. Bis jemand anderes dumm genug ist, dir seine Gefühle zu verkaufen.“ Ihre Augen glitzern schelmisch, als sie sich umdreht. Leicht und frei schreitet sie mit weiten Schritten über die Lichtung. Sie fühlt sich jung und lebendig. Wie lange ist es her, dass sie das zum letzten Mal erlebt hat? Jahrhunderte? Sie weiß es nicht. Es ist ihr auch gleich. Sie will jetzt leben.
Hinter ihr steht verlassen die Schneereiterin, die Zügel des weißen Pferdes fest umklammernd.