- Beitritt
- 22.11.2005
- Beiträge
- 993
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 14
Schneeschmelze
Eiskalt rauscht Wasser aus dem Duschkopf, das Fenster zum Innenhof steht offen, tiefer Winter kehrt Morgenkälte hinein. Er schlottert, konnte, wie so oft in letzter Zeit, nicht schlafen.
Der Schatten auf der Gardine im vierten Stock hat gerade noch Stullen gestanzt und in Tubber gestapelt, hastet nun Fußtstapfen vom Hinterhaus zum Tor, erschreckt den Bewegungsmelder.
Der Duschhahn tropft und er steht in Schneeflocken, die taumeln und tanzen, nicht zu Boden fallen, an den Kacheln oder seiner Haut verenden.
Im Raum, dort, wo für gewöhnlich Fernseher unter Poster stehen, vielleicht auf einem Tisch, da wartet die Leinwand, in die Staffelei schon fast eingewachsen, auf die nächsten Pinselhiebe. Ein Meer zieht sich weit in die Tiefe, braun ein Floß gezeichnet, im Wellenblau kämpfend, und so karibisch der Himmel gepinselt scheint, kündigt sich durch das hinausdrückende Grau doch ein Sturm an.
Er vernimmt das Geräusch, als er gerade das Handtuch in sein Gesicht drückt. Der Innenhof, durchaus hellhörig, erzittert durch einen schrillen, kontinuierlichen Schreien. Unverkennbar. Auch, wenn Katzen zuweilen ähnliche Geräusche von sich geben, ist es doch unverkennbar, unverkennbar und bitterlich.
Sich mit dem Handtuch bedeckend hält er seinen Kopf ins Schneetreiben, kann jedoch nichts erkennen, sieht mehrere Fenster erleuchtet und Schatten hinter Gardinen gondeln, hört Morgen aus Montagsmündern maulen, arbeitet sich in Klamotten, springt in Schlappen und rumpelt, den Gürtel festziehend, die Treppe hinunter, presst sein Gesicht an die kleine Sichtscheibe, sieht abermals nur Schneetreiben, springt also in den ersten Stock, schellt dort an:
Farbkotzige Jogginghose, Achselshirt, der letzte Schluck weint noch das Kinn hinunter, Flasche fliegt gegen Staffelei, die daraufhin umknickt und zu Boden scheppert, wenn es nicht die Türschelle war, dessen Klang ihm gänzlich unbekannt ist.
Er quält sich schließlich hin; ein Stück weit mit ihm ziehen sich erdfarbene Fäden durch das Wachslicht durchleuchtete Atelier; er tritt auf Bilder, hört Holzrahmen knacken, zieht die Tür auf, ist geblendet vom Neonlicht des Treppenhauses und hört weiter hinten, dort, wo eine Treppe in den Innenhof führt, eine Stimme, sehr hektisch, schaut durch ein Fenster in Schneewirrwarr, wischt sich die Augen.
Er kommt näher, gestikuliert als würde es brennen, ist dann still, mucksmäuschenstill, legt den Finger vor die Lippen, und nach einer Weile: das Schreien, unverkennbar, eindeutig aus dem Innenhof.
Er beteuert, leider auch keinen Schlüssel beihand zu haben, könne ihn zwar suchen, sicherlich, aber was würde das doch dauern, wird am Unterarm ergriffen und die Treppe bis in den Keller gedrängelt:
Eine Holztür, verstaubt. Die Luft trocken, schnürt Hälse ab; Fahrradteile wie Leichenteile; Rohre führen aus Dunkelheit in Dunkelheit; Gerümpel wie hingekotzt; er hinkt garstig, zielstrebig auf die Tür, lebt hier, wie Gerümpel, wie hingekotzt, blätternd, eiert selten, auf seinem Krückstock gestützt, durch den Hof.
Die Tür knarrt auf; er hat es ja schon gehört, ist ja nicht taub. Als hätte er mit den Katzen und Ratten nicht schon genug Ärger hier unten. Er bedauert es, Captain Kratzbart, wie er den Kater nennt, der vor vergessener Zeit den Weg in sein Kellergewölbe gefunden hat, zurücklassen zu müssen. Fettleibig und alt, einen Platz zum Sterben hatte er gesucht. Die streunenden Katzen sind eine Plage, vermehren sich wie Karnickel, unkastrierte Mischkatzen. Nicht wie der Captain, reinrassig und als Stubenkater jahrelang unterbelastet, von fetten Kindern gemästet und getreten, von hässlichen Mädchen als lebendige Puppe missbraucht; ein viel besserer Wachkater ist er, passt auf, dass sein neuer Mensch nicht von Ratten angeknabbert oder von Mischkatzen zerkratzt wird, wenn dieser wodkabesoffen in den Schlaf fällt.
Die Treppen sind eine Schwierigkeit, was er sich niemals anmerken lassen würde, die Richtung ist klar, die Frage nach dem Schlüssel unangebracht; zu viele Jahre seines Lebens hat er in diesem Haus verbracht, hat hier seine Ruhe, rumpelt nur selten die alten Malereien aus der Ecke, obschon er gelegentlich die Finger nicht von den Farbtuben lassen kann, die sich immer wieder doch noch etwas ausquetschen lassen.
Die Tür häuft Schnee und es ist in der Tat ein Säugling, unbekleidet, unverkennbar, unverkennbar war es ja zu vernehmen; Korpus und Gesicht blau angelaufen, bewegt sich nicht mehr, schreit nur noch, ohne dabei zappeln oder zucken zu können. Schockbleich legt er seine Hand um den Hals und drückt, drückt und stirb und schmilzt mit dem Schnee als sei nie etwas gewesen.