Schockierende Mutproben
Ein kleiner Junge läuft durch die Räume. Er hat Angst, zeigt sie aber nicht. Er weiß, dass sich in diesem Haus gewalttätige Männer aufhalten, aber das ist genau der Kick. Er möchte vor seinen Freunden prahlen, dass er sich getraut hat alleine durch die Räume zu laufen, denn nur darum geht es.
Thomas ist erst 10 Jahre alt, aber für die Anerkennung seiner Freunde muss er etwas leisten. Es ist nicht ganz ungefährlich, die Außenwände dieses Gebäudes haben große Löcher und das Haus könnte jederzeit unter seinen Füßen einstürzen, das hat ihm seine Mutter erklärt, als sie erfuhr, wo ihr Sohn sich mit seinen Freunden herumtrieb. Aber Thomas hörte noch nie auf seine Mutter und überhaupt sind ihm seine Freunde wichtiger.
Er zog sich also nach dem Abendessen seine Jacke an und lief aus dem Haus, ohne dass die Eltern etwas mitbekamen.
Der Weg ist an den Seiten stark bewachsen und in ein paar Jahren werden auch die letzten Kieselsteine mit Gras bedeckt sein. Aber das stört den Jungen nicht, er ist noch nicht in dem Alter, wo man sich über seine Klamotten Gedanken macht. Und außerdem sieht er schon das Haus. Noch wenige Sekunden und er würde den Eingang erreichen.
Die Sonne geht schon unter und auf den Rückweg würde Thomas den Weg nur durch die Hilfe des Mondlichtes finden können. Aber er muss es heute tun. Er blickt zu den angrenzenden Schuppen, in dem sich seine Freunde ein Clubraum eingerichtet haben. und nur, wer die Mutprobe besteht, darf diesen Raum betreten. Thomas schüttelt sich die Angst vom Körper und tritt durch das Loch, wo vor ein paar Jahren noch eine hölzerne Haustür war. Ein paar Schritte geradeaus, und dann die labile Treppe hinauf zu den oberen Räumen, die vollgeladen mit alten Zeitungen, Büchern und Briefen sind. Er nimmt nur jede zweite Stufe, denn Thomas hat kein Bedürfnis, länger als erforderlich in diesem Gebäude zu verweilen. Oben angekommen muss er seinen Weg doch langsamen Schrittes fortsetzen, denn das wenige Licht hier reicht nicht, seinen Fuß sicher zu positionieren. Doch jetzt ist Thomas soweit vorgedrungen, heute wird er diese verflixte Mutprobe beenden. Er läuft vorsichtig den schmalen Gang entlang zu den hinteren Räumen und tastet an den Wänden nach einer Tür. Die erste Tür rechter Seite erreicht, sucht Thomas nach den Türgriff und öffnet sie. Der Raum ist von Dämmerung des Abends heller als der Gang und Thomas spürt die Erleichterung dessen. Doch schon im nächsten Augenblick überzieht ihn eine Gänsehaut. Der Raum ist vollkommen leer, ausgenommen den alten Heizoffen in der rechten Ecke. Verdammt, Thomas braucht einen Brief oder eine alte Zeitschrift, damit diese Mutprobe gültig ist. Er durchschreitet den Raum und geht durch die nächste Tür. Ah, auf den ganzen Boden liegen alte Zeitungen und Briefe zerstreut. Thomas nimmt vorsichtshalber gleich mehr mit als benötigt und geht durch die nächste Tür. Aber hier ist es wieder stockdunkel, also müsste das der Gang sein, von welchem er gekommen ist. Er tastet sich wieder an der alten Wand entlang um zum Treppenabsatz zu finden. Nach einigen Schritten sieht Thomas vor sich auf der linken Seite einen matten Lichtspalt und er schließt daraus, dass Thomas die Treppe gefunden hat. Er tastet sich weiter vorwärts und tritt auf die erste Stufe. Von unten strahlt das Licht der Dämmerung wie durch eine Röhre die Treppe hinauf und Thomas wird mit beschleunigtem Schritt unvorsichtiger. Hauptsache raus aus diesem gruseligen Haus.
Erst als Thomas unten ankommt, bemerkt er, dass dies nicht die gleiche Treppe war wie bei seinem Aufstieg in die zweite Etage. Doch die Treppe wieder hinaufgehen und den bekannten Weg suchen kommt für Thomas nicht in Frage, dafür ist der obere Gang viel zu dunkel. Er muss den Ausgang von dieser Etage aus suchen. Er geht seinen Weg wahllos weiter und späht durch jede offene Tür, in der Hoffnung, dort den Ausgang oder einen ihn bekannten Ort im Haus zu sehen.
Die dritte Tür seines Weges ist geschlossen und Thomas tastet zögernd nach den Türgriff. Er drückt den Griff nach unten und stößt die Tür auf, damit er schnell nach hinten ausweichen kann, falls ihm hinter der Tür ein illegaler Einwanderer entgegenblickt. Thomas weiß, dass dieses Gebäude beliebt für solche Menschen ist, und gerade dieser Umstand macht das Haus so schrecklich grusselig. Er hat selbst mit seinen Freunden die Jacken und Decken, die den Ausländern als weiche Unterlage nächtlichen Schlafes dienten, aus den Fenster geworfen, sodass diese sich in den Ästen der nebenstehenden Bäume verfingen.
Doch hinter dieser Tür steht kein Mann, der Raum scheint gänzlich leer. Thomas nähert sich den Inneren und blickt zu der Seite des Raumes, der von der Tür versteckt ist. Thomas schaut starr auf die Fließen, der Angstschweiß perlt von seiner Stirn, ihn fröstelt. Ist das Blut? Er blickt genau auf die Stelle, in der ein kleines Loch in den Fließen ist und rund herum ist rote Farbe verteilt, die unterhalb des kleinen Loches in Richtung Badewanne verläuft.
Er weiß nicht, wie lange er darauf gestarrt hat, doch schließlich besinnt sich Thomas und läuft voller Entsetzen aus dem Raum und den Gang entlang – vor und wieder zurück – bis er endlich eine Tür entdeckt, die ihn ins Freie bringt. Dort wusste Thomas in welcher Ecke des Hauses er sich gerade eben noch befand und läuft so schnell er kann um das Haus und den Weg hinauf, der zur Straße an sein Elternhaus führt.
Erst auf der Straße hält Thomas inne und ringt erschöpft nach Atem. Er hatte sich getäuscht, die Sonne ist noch nicht ganz hinter den Horizont verschwunden, was die Verarbeitung des Schockes um einiges leichter macht. Aber erst jetzt fällt ihm auf, dass er die Zeitungen und den Brief unten im Haus fallen ließ, als er wie gebannt auf diese rote Farbe im alten Badezimmer starrte. War es wirklich Blut? Thomas wollte es gar nicht mehr wissen und die Clique mit ihrem Clubraum ist ihm jetzt auch egal. Er will nur noch schnell nach Hause, wo er sich in Sicherheit fühlt und dem alten Haus wird er sich nie im Leben weiter nähern als nötig.