Schrödingers Katze
Ich fühle mich wie Schrödingers Katze. Es ist dieser Zustand, in dem dein Gehirn längst tot ist, aber dein Körper auf eine merkwürdige Art noch immer existiert. Du sitzt in einer schwarzen Kiste und wartest auf das Zischen, das ausströmendes Giftgas für gewöhnlich verursacht.
Solange die Kiste noch geschlossen ist, sagt Schrödinger, ist seine Katze weder tot noch lebendig. Sie ist eine Art Zombie. Erst wenn jemand die Kiste öffnet und ein erster Lichtstrahl durch den Spalt fällt, erst dann manifestiert sich ihr tatsächlicher Zustand und es entscheidet sich, ob die Katze morgen noch Mäuse jagen wird oder ein Fest für die Würmer ist. Schrödinger bewertet die Überlebenschance seiner Katze mit 50%.
Nur hat meine Kiste weder eine Tür, noch eine Klappe. Und ich kenne auch niemanden, der die Kiste aufmachen würde, um nach mir zu sehen.
Das ist der Nachteil, wenn du kein Versuchskaninchen im Gedankenexperiment eines verwirrten Physikers bist. Das ist der Nachteil, wenn du ohnehin keine Lust mehr hast, morgen noch auf Mäusejagd zu gehen. Scheiß auf Quantenmechanik. Das hier ist die Realität.
Und meine Überlebenschance?
Gleich Null.
Schrödinger, du bist ein Idiot.
Ich arbeite als Putzfrau in einem Atomkraftwerk. Die korrekte Bezeichnung ist der Begriff 'Hausmeister', so steht es zumindest in meinem Arbeitsvertrag. Um ehrlich zu sein: ich habe in diesem Laden noch nie eine Lampe gewechselt oder ein Türschloss geölt. Wenn Sie es deshalb vorziehen mich lieber 'den Typ mit dem Wischlappen' oder 'Mister Putzfrau' zu nennen, machen Sie das ruhig. Ich bin einiges gewöhnt.
Wer in einem Atomkraftwerk arbeitet braucht ein verdammt dickes Fell. Sie glauben gar nicht, was für Prozeduren man täglich durchlaufen muss, um am Ende des Monats mit 900 Euro Netto nach Hause zu gehen. Da ist nichts los mit: mal eben rein, seine Arbeit erledigen und schnell wieder raus und hier ist ihr Geld und Danke für Ihre Mitarbeit.
Jeder deiner Schritte und Handgriffe, vom Betreten bis zum Verlassen des Geländes, ist in einer Betriebsverordnung geregelt und wird von Kameras überwacht. Bis ins kleinste Detail.
Dein Tag beginnt damit, dass du beim Einlass auf versteckte Waffen, Sprengstoff und gefährliche Gegenstände untersucht wirst. Beim geringsten Verdacht, wie einem MP3-Player oder einer Haarklammer, nimmt eine Vertrauensperson des gleichen Geschlechts eine Leibesvisitation an dir vor. Man schiebt deine Vorhaut zurück oder spreizt die Schamlippen deiner Vagina, bohrt einen Finger in deinen Arsch und durchsucht deinen Mund und deine Haare. Auch das ist in der Betriebsverordnung so geregelt.
Anschließend führt dich ein schmaler Gang zur 'Schleuse'. Du musst dich bis auf die Unterhose ausziehen und in einen von diesen Raumanzügen schlüpfen. Er soll dich vor eventuell austretender Strahlung schützen. Ist das nicht witzig? Wenn es hier knallt, bringt dir auch dein Anzug nur einen feuchten Dreck. Aber Vorschriften sind eben Vorschriften und Dummheit sind keine Grenzen gesetzt. So ist das Leben. Ab diesem Moment wird auch jeder deiner Schritte permanent überwacht und irgendwo im Keller auf Endlosbänder aufgezeichnet.
In den ersten Wochen habe ich mir noch gelegentlich einen Spaß daraus gemacht und mich mit dem Rücken zur Kamera gedreht und so getan, als würde ich masturbieren. Oder ich habe einen Herzinfarkt vorgetäuscht, mich auf den Boden geworfen und darauf gewartet, dass irgendetwas passiert. Dass vielleicht ein Alarm ausgelöst wird oder jemand einen Arzt ruft.
Aber inzwischen glaube ich nicht mehr daran, dass irgendwo ein Mensch mit viereckigen Augen sitzt und permanent auf eine Wand aus kleinen Monitoren starrt. Das ist eine Hollywood-Erfindung. Ich denke, diese ganzen Aufzeichnungen sind nur für den seltenen Fall gedacht, dass jemand einen Brennstab mit nach Hause nimmt oder einen Anschlag auf das Kraftwerk verübt. Eine masturbierende oder sterbende Putzfrau ist auf jeden Fall kein Grund, gleich den Alarm auszulösen. Oder auch nur einen Arzt zu rufen.
Es liegt wahrscheinlich daran, dass du als Putzfrau in einem Atomkraftwerk einfach nur Abschaum bist. Du bist noch weniger Wert als die bemitleidenswerten Kreaturen, die in Bahnhofklos die Toiletten schrubben oder verwahrloste Klassenzimmer sauber machen. Der Unterschied ist, dass du hier von Menschen umgeben bist, die das 10 oder 20-Fache verdienen und Berufsbezeichnungen tragen, die du kaum aussprechen kannst. Und sie lassen es dich spüren. Oh ja, das tun sie. In jedem einzelnen Moment.
Ich hätte diesen Job schon vor Monaten an den Nagel gehängt, wäre da nicht Helen. Diese schlanke Frau mit unglaublich straffen Brüsten und einem Schmollmund, der beim kleinsten Lächeln deine Hormone in Aufruhr versetzt und du den Gedanken nicht mehr los wirst, sie würde mit diesen Lippen an deinem Schwanz lutschen. Sie ist eine Göttin der Sinnlichkeit. Helen ist nicht wie die anderen.
Eigentlich weiß ich nicht, was Helen den ganzen Tag macht und in welcher Abteilung sie arbeitet. Ich treffe sie nur gelegentlich, wenn ich den Boden der Cafeteria desinfiziere oder sie mir zufällig auf dem Gang begegnet. Es ist vielleicht nur ein kurzer Moment, aber ihr schnippisches „Hi“ und das schnelle Lächeln, dass sie mir dabei zuwirft, rechtfertigen jeden verdammten Tag, den ich in diesem Laden vergeude. Ich glaube, ich habe mich in Helen verliebt.
Sie fragen sich vielleicht, ob Helen meine Gefühle erwidert und ich kann aus tiefster Überzeugung sagen: ja, sie tut es. Ich hatte nie besonderes Glück mit den Frauen. Es ist nicht so, dass ich kein Interesse an ihnen zeige, aber meistens langweilen sie mich nach kurzer Zeit oder sie sind zu leicht zu haben. Ich brauche dieses Kribbeln und den Nervenkitzel, das schnelle Katz und Maus-Spiel, bis du irgendwann nicht mehr weißt, woran du eigentlich bist. In Libido-Fragen bin ich Connaiseur, ein Kenner der weiblichen Künste. Und Helen hat ein Gespür für diese Dinge.
Nur hilft mir das im Moment herzlich wenig. Seit zwei Stunden sitze ich in diesem Loch, eingesperrt wie ein Zwerghamster in seinem Käfig, und die kleine rote Lampe über der Tür blinkt ohne Pause und draußen heult die Sirene wie die fetten Walküren von Wagner. Es wird rot und heult auf, dann schwarz, es flaut ab, dann wieder rot und schwarz und rot und schwarz und es heult auf und wird leiser und heult auf und wird leiser und so weiter und so weiter. Es macht mich wahnsinnig. Wäre Helen nicht bei mir, ich hätte mir längst die Pulsadern aufgebissen und wäre jämmerlich verblutet. Aber ich kann sie nicht alleine lassen. Nicht jetzt.
Helen schläft. Eben habe ich noch versucht sie vorsichtig zu wecken, aber als sie so vor mir lag, still und rein wie ein Engel, da brachte ich es einfach nicht übers Herz. Sie hat beim Schlafen ihren Mund offen und atmet so leise, dass man es kaum hören kann. Ich habe ihr die Haare aus dem Gesicht gestrichen und als ich meine Hand zurückzog, habe ich so getan, als würde ich ihre Brust nur zufällig berühren. Ich glaube nicht, dass sie etwas gemerkt hat. Aber mein Kleiner war sofort auf hundertzwanzig und musste in die Hocke gehen, damit sie es nicht sehen kann.
Es ist schade, dass ich nicht weiß, was aus uns beiden wird. Ich meine, nach dieser ganzen Sache hier. Seit sich die Tür geschlossen hat und kurz darauf der Alarm losging, herrscht Funkstille im Laden. Normalerweise tönt jede halbe Stunde eine Männerstimme aus den Lautsprechern und sagt in diesem typischen Warteschleifen-Stil die Uhrzeit an: „Es ist vierzehn – Uhr – dreißig“, „Es ist siebzehn – Uhr“, „Ich bin ein – menschlicher - Roboter – ohne – Gehirn“. So komisch es sich vielleicht anhören mag, aber irgendwie vermisse ich dieses dumme Arschloch schon jetzt.
Es ist irgendwie komisch, nicht zu wissen, was überhaupt los ist. Da ist die Welt so riesengroß und du sitzt in einem Zimmer mit 4 auf 6 Metern und um dich herum existiertmit einem Schlag rein gar nichts mehr. Es gibt nur dich, den Fußboden, die Wände, die Decke und Helen. Und wenn du Pech hast, eine kleine blickende Lampe über der Tür und eine verdammt nervige Sirene.
Wenn ich könnte, würde ich alles anders machen. Nur lässt sich die Vergangenheit nicht mehr ändern, man kann sie vergessen oder leugnen, aber ändern kann man sie nicht. Die Zukunft ist ähnlich, mit dem kleinen Unterschied, dass man sie zumindest in Teilen beeinflussen kann. Oder man meint zumindest, es tun zu können. Haben Sie nie versucht die Zukunft zu beschwören? Als kleiner Junge stand ich oft mit einem Ball im Garten und habe gedacht: „Wenn du den Apfelbaum da drüben triffst, ist morgen Schulfrei!“ Oder später, an einem langweiligen Nachmittag, starrst du auf den Telefonhörer neben dir und denkst: „Wenn es in den nächsten 30 Sekunden klingelt, gewinnst du im Lotto.“ Es hat zwar nie funktioniert, aber es ist eine geniale Art, um die Zeit totzuschlagen.
Machen wir ein Spiel! Keine Angst, es geht dabei um nichts. Sie können Ihr Geld und Ihre Frau behalten.
Ich wette mit Ihnen: wenn ich Helen jetzt küsse und sie dabei nicht aufwacht, dann werden wir bis zum Ende unseres Lebens zusammen sein.
Ich glaube, dass ich dieses Mal gewinnen könnte.