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- 19.02.2006
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Schreibwahn
„Sie schreiben also Geschichten?“
„Ja, doch … ja“, kam die Antwort etwas verspätet. „Sie kennen wirklich keine Geschichten von mir?“
Der Therapeut verneinte. „Ich habe kurz recherchiert, aber nichts von Ihnen gefunden.“
Herr Schraiber atmete erleichtert aus. „Das ist gut, sehr gut.“
„Sie haben demnach noch nichts veröffentlicht?“
Sichtbares Unbehagen grub sich ins Gesicht des Patienten. Einen Moment schien er mit der Antwort zu ringen. Schließlich brachte er ein geducktes „doch“ hervor. Beinahe flüsternd ergänzte er dann: „Bisher habe ich allerdings nur ... unter einem Pseudonym geschrieben.“
Als dieses Bekenntnis heraus war, sah sich Herr Schraiber mit ängstlicher Miene in der Praxis um. Fast so, als rechne er mit einem unsichtbaren Dritten, der sich plötzlich aus einem Versteck hervor und auf ihn stürzen würde.
Nichts dergleichen geschah. Das sparsam ausgestattete Zimmer bot auch keinerlei Raum für ein Versteck. Es beherbergte lediglich das Podest mit der Matratze, die dem Patienten vorbehalten war, eine abgenutzte Couch, auf welcher der Therapeut thronte, nebst einem kleinen Beistelltisch und einem Wandregal, in dem sich einige Bücher langweilten. Ein großes Fenster versuchte dem Raum mehr Lebendigkeit einzuhauchen, doch dieser Versuch scheiterte an den zugezogenen Vorhängen.
Das war das Erste gewesen, was Herr Schraiber getan hatte, kaum dass er die Praxis betrat. Er war regelrecht zu dem Fenster gesprungen und hatte mit einem Ruck die Außenwelt ausgesperrt.
„Weshalb schreiben Sie nicht unter Ihrem richtigen Namen?“
Der Autor verzog gequält das Gesicht. Es war ein unauffälliges Gesicht, so wie auch die gesamte Erscheinung unauffällig wirkte. Nichts sagend, würden wohl einige meinen. Blass.
„Ich …“ Es schien, als müsse Herr Schraiber jedes einzelne Wort unter großen Anstrengungen hervorpressen. „Ich kann nicht.“
Der Therapeut versuchte es auf einem anderen Wege.
„Wovon handeln Ihre Geschichten?“
„Von mir.“ Gehaucht, als schäme er sich dafür.
„Sie schreiben autobiografisch?“
Der Patient gab keine Antwort. Mit verschleiertem Blick saß er da.
„Wie fühlen Sie sich gerade?“
„Entrückt …“
„Versuchen Sie dieses Gefühl näher zu beschreiben.“
„Es passiert wieder“, stammelte er. Leichte Zuckungen durchliefen seinen Körper.
„Was passiert wieder?“
„Es wird alles zu einer Geschichte …“
„Haben Sie das Gefühl, diese Situation sei nicht real?“
Plötzlich fuhr Herr Schraiber hoch. „Was machen Sie da?“
„Kein Grund zur Beunruhigung, ich mache mir nur ein paar Notizen.“ Er lächelte eines jener unverbindlichen Therapeutenlächeln. „Das ist selbstverständlich streng vertrau-“
„Legen Sie das sofort weg!“, fiel ihm Herr Schraiber ins Wort.
„In Ordnung.“ Der Therapeut legte Stift und Notizbuch zur Seite; mit langsamen Bewegungen, einem Verbrecher im Film gleich, der sich, von Polizisten umzingelt, seiner Waffe entledigen musste.
Der Schriftsteller ließ sich schwer atmend auf die Matratze zurückfallen. „Verstehen Sie doch“, appellierte er. „Das ist es, was es will!“
„Wer ist es?“
Ein unkontrolliertes Blinzeln befiel Herrn Schraiber. Dazu wippte er mit dem Oberkörper vor und zurück.
„Wer ist es?“
Die Schaukelbewegung nahm zu.
„Ich kann Ihnen helfen“, erbot sich der Therapeut mit ruhiger Stimme. „Aber dafür müssen Sie mir entgegenkommen. Wer ist es?“
Ein Ruck ging durch den Körper. „Mein Pseudonym.“
Unvermittelt hielt er mit dem Schaukeln inne.
Ein Lächeln versuchte sich auf der Miene des Autors zu sammeln, fand nirgends Halt und glitt an den Zügen der Ängstlichkeit ab.
„Wieso fürchten Sie sich vor Ihrem Pseudonym?“
„Es stiehlt mir mein Leben!“ Herr Schraiber atmete schwer.
„Inwiefern?“
„Ich kann mir nicht mehr sicher sein, was real ist und was nicht. Alles könnte eine Geschichte sein, in der ich nur ein Protagonist bin.“
Der Therapeut wartete, bis sein Patient von sich aus weitersprach.
„Ich kann nicht mehr unterscheiden zwischen tatsächlich Erlebtem und Dingen, die sich nur in meinem Kopf abspielen.“
Das Gesicht des Schriftstellers war gefährlich gerötet, jede Geste drückte Verzweiflung aus.
„Das alles hier kann Teil einer Geschichte sein. Sie könnten mein Pseudonym höchstselbst sein!“
Er riss die Augen auf. „Ja, vielleicht … vielleicht diktieren Sie mir gerade diese Geschichte. Ja, ja, vermutlich sitze ich augenblicklich zu Hause und schreibe das ganze Szenario hier auf. Nach Ihrem Diktat in meinem Kopf.“
Plötzlich krampfte sich sein Gesicht zu einer Faust zusammen. „Ich kann förmlich sehen, wie ich an meinem Schreibtisch sitze, den Bildschirm vor mir. Ich … ich spüre die Tastatur unter meinen Fingern …“
Der Therapeut sah, dass sein Patient erneut in eine Art Trance zu verfallen drohte.
„Was fühlen Sie in diesem Augenblick?“
„Ich fühle mich eingesperrt, meiner Freiheit beraubt … wie eine Marionette …“
„Was hält Sie gefangen?“
Der Patient begann von Neuem mit rhythmischen Bewegungen seinen Körper zu wiegen.
„Es ist, als wäre das Buch meines Lebens bereits geschrieben. Aber nicht von mir. Es fühlt sich an, als wäre mir jede Entscheidung bereits abgenommen. Alles, was ich tue, ist vorbestimmt.“
Der Damm war gebrochen. Mit einem Mal sprudelte es aus Herrn Schraiber heraus. Er sprach so schnell, dass es dem Therapeuten schwer fiel, alles zu verstehen. Aber er unterbrach den Sprechenden nicht.
„Ich wollte doch nur etwas Erfolg haben, von meinem Schreiben leben können. Oh, Ideen hatte ich viele! Aber sie wollten sich nicht literarisch formen. Verstehen Sie das? Können Sie nachvollziehen, wie schrecklich das ist? Den Kopf voller Visionen, die nicht heraus können? Mein Schädel drohte beinahe zu bersten, so viele Ideen sammelten sich an. Aber alles, was ich zu Papier brachte ... Es war schlecht. Es war miserabel!
In meiner Vorstellung war ich ein angesehener Literat, ein reicher Schriftsteller, der all das schaffte, was mir nicht vergönnt war. Ich flüchtete mich immer mehr in diese Scheinwelt, bis ich bald mehr Zeit in der Fiktion verbrachte als in der Wirklichkeit. Ich lebte in einer Art Dämmerzustand.
Dann meldete sich eines Tages diese Stimme in meinem Kopf. Ich weiß, es klingt lächerlich, aber sie sprach zu mir, versprach mir Hilfe. Und es war nicht irgendeine Stimme, es war die Stimme meines zweiten Ichs. Das Ich meiner Träume! Und in meiner Verzweiflung hörte ich auf diese Stimme. Und sie half! Ich musste mich nur ihrer Führung anvertrauen, und die Schreibblockade verschwand. Innerhalb kürzester Zeit kam ich zu Ansehen und Geld.
Ich dachte mir nichts dabei unter dem Namen meines Alter Egos zu schreiben, denn ich verstand dies als Sinnbild für meine zweite Geburt. Verstehen Sie?
Aber dann ... dann übernahm mein Pseudonym immer mehr die Kontrolle über mein Leben. Es war nicht länger so, dass ich mich seiner bediente, sondern es bediente sich meiner! Ich selbst wurde mehr und mehr zum Protagonisten in den Geschichten, die mein Pseudonym schrieb.
Begreifen Sie? Mir wurde meine Freiheit geraubt! Ich hatte keine Wahl mehr und konnte nicht länger tun, was ich wollte, sondern bewegte mich lediglich in den vorgeschriebenen Bahnen, die mir mein Pseudonym diktierte.“
Der Wortschwall schien Herrn Schraiber alle Energie entzogen zu haben. Kraftlos sackte er in sich zusammen.
Behutsam stellte der Therapeut die entscheidende Frage: „Was möchten Sie?“
„Frei sein.“ Es war kaum mehr als ein Flüstern.
„Was können wir tun, um Ihnen diese Freiheit zu verschaffen?“, flüsterte der Therapeut zurück, um den Kontakt zu halten.
„Ich weiß es nicht.“ Herr Schraiber schloss müde die Augen und ließ den Kopf hängen.
Der Therapeut beugte sich noch etwas weiter vor. Er verlieh seiner Stimme einen beruhigenden, zuversichtlichen Ton. „Vielleicht weiß ich eine Lösung.“
Die Augen des Patienten öffneten sich, saugten sich an den Lippen des Sprechenden fest.
„Wenn es so ist, wie Sie sagen, dann ist alles, was Sie tun, bereits vorherbestimmt. Demnach können Sie nichts tun, was Ihr Pseudonym nicht vorhergesehen und in die Geschichte, von der Sie sprechen, eingebaut hat. Richtig?“
Herr Schraiber nickte vorsichtig.
„Wenn Sie also doch etwas tun könnten, das nichts mit dieser Geschichte zu tun hat,“ fuhr er fort, „dann wäre dies doch der Beweis, dass Sie freier sind, als Sie annehmen, oder?“
„Nun ja …“
Der Therapeut konnte sehen, wie der Gedanke in seinem Patienten arbeitete. Zögerlich hellte sich dessen Gesicht auf.
„Verinnerlichen Sie sich diese Situation hier“, wies er weiter an. „Sie sitzen beim Therapeuten. Sie wollen aus Ihren gewohnten Mustern ausbrechen. Was können Sie tun, was vollkommen untypisch für Sie ist? Tun Sie etwas Verrücktes, etwas -“
Herr Schraiber sprang plötzlich auf. „Moment mal!“
Ein anklagender Zeigefinger stach nach dem Therapeuten.
„Ich kenne nicht einmal Ihren Namen.“
„Natürlich kennen Sie meinen Namen.“ Er sprach langsam und betont. „Sie haben ihn aus dem Branchenbuch – Sie haben mich angerufen. Erinnern Sie sich nicht?“
Herrn Schraibers Stirn verwandelte sich in ein Faltenmeer. „Mag sein, dass ich Sie angerufen habe, aber Ihren Namen kenne ich trotzdem nicht. Und wissen Sie auch, warum nicht? Weil er für diese Geschichte keine Bedeutung hat. Es reicht, wenn Sie einfach nur der Therapeut sind. Verstehen Sie?“
Der Therapeut machte eine beschwichtigende Geste. „Nun gut, wenn ich meinen Namen sage, geschieht also bereits etwas, das nicht in der Geschichte vorgesehen war?“
Herr Schraiber kaute auf seiner Unterlippe. „Das könnte Teil des Plans sein“, murmelte er schließlich. „Das genügt nicht als Beweis.“
Ein unauffälliger Blick auf die Uhr verriet dem Therapeuten, dass die Zeit sich allmählich dem Ende näherte.
„Dann probieren wir etwas anderes. Schreien Sie mich an!“
Sein Gegenüber zuckte zusammen.
„Na, machen Sie schon. Schreien Sie mich an. Lassen Sie all Ihre angestaute Verzweiflung an mir aus.“
„Nein, das werde ich nicht tun!“ Herr Schraiber war verdutzt und empört zugleich. „Ich bitte Sie, ich schreie Sie doch nicht grundlos an. Das ist nicht meine Art.“
„Genau darum geht es ja. Tun Sie es!“ Die Bitte verwandelte sich eine Forderung.
„Also hören Sie mal-“
„Jetzt schreien Sie endlich!“, fuhr ihn der Therapeut heftig an.
„Ich möchte Sie aber nicht anschreien!“, brüllte der Patient zurück.
Der Therapeut lehnte sich zufrieden in sein Sofa. Diesmal zeigte er ein echtes Lächeln. „Und – glauben Sie Ihr Pseudonym hätte das voraussehen können? Glauben Sie noch immer, dass Ihnen jemand diktiert, was Sie zu tun haben?“
Zaghaft übertrug sich das Lächeln auf das Gesicht des Autors.
„Es entspricht nicht Ihrem Wesen jemanden grundlos anzuschreien. Trotzdem haben Sie es vollbracht. Das hätte keiner, der Sie kennt, von Ihnen erwartet, oder?“
Der Patient gab ein Kopschüttelnicken von sich.
„Sie können mit Ihren alten Schemata brechen, wenn Sie sich nur dazu entschließen. Niemand determiniert Ihr Leben. Niemand außer Sie selbst.“
Herr Schraiber nickte, aber dem Therapeuten entging nicht der Rest des Zweifels, der sich in der Stirn des Autors festkrallte und einfach nicht loslassen wollte.
„Nur um auf Nummer sicher zu gehen, sollten Sie dieses Exempel noch einmal wiederholen“, empfahl er deshalb.
„Das ist nicht nötig“, beeilte sich Herr Schraiber zu versichern. Die Verlegenheit zeichnete deutlich sein Antlitz. „Ich habe verstanden.“
Übergangslos wurde die Stimme des Therapeuten hart. „Zeigen Sie mir, dass Sie frei sind zu tun, was Sie möchten!“
„Niemand befiehlt mir, was ich zu tun habe!“, kam es gebrüllt zurück.
Der Schriftsteller grinste verlegen, dann strahlte er über das ganze Gesicht.
„Ich bin frei!“
„Sie sind nicht Opfer, sondern Schöpfer Ihrer Welt. Sie selbst schreiben Ihr Lebensbuch, vergessen Sie das nicht!
Unsere Zeit ist um.“
Der Therapeut schloss hinter seinem Patienten die Tür und gönnte sich ein leichtes Kopfschütteln. In seiner langjährigen Praxiserfahrung hatte er feststellen müssen, dass Autoren, die ihre eigenen Welten erschufen und darin Schöpfung und Gott zugleich verkörperten, mit ausgeprägten Identitätsproblemen zu ihm kamen.
Bis zu einem gewissen Grad konnte das fiktive Ausleben verschiedener Persönlichkeiten mit ihren facettenreichen Spektren an Neigungen und Ängsten hilfreich und reinigend sein, aber anscheinend war es vielen Autoren nicht gegeben, das Schreiben als reines Ventil zu benutzen. Vielmehr schien sich ihre Gabe in eine Art Sog zu verwandeln, der sie selbst verschlang.
Wie er es immer zu tun pflegte, begab er sich zum Fenster, um seinem Patienten nachzublicken. Die Körperhaltung eines Menschen, der aus der Therapie zurück in die Welt schlüpfte, die ihm Pein bereitete, gab mitunter Aufschluss darüber, wie die Sitzung angeschlagen hatte.
Als er jedoch die Vorhänge beiseite zog, erwartete ihn eine Überraschung. Er blinzelte einige Male, aber von seinem eben verabschiedeten Patienten war keine Spur zu entdecken.
Für einen Moment überkam ihn ein seltsam unreales Gefühl.
Er kratzte sich am Kinn. Das war ein klarer Fall für seinen Supervisor. Er drückte das Gefühl weg und machte sich daran, die seltsame Sitzung niederzuschreiben.
Dabei fiel ihm auf, dass er gar nicht nach dem Namen des Pseudonyms gefragt hatte.
Aufdringliches Klopfen ließ Johan Schraiber hochschrecken. Einen gedehnten Augenblick lang wusste er nicht, wo er war.
Erneutes Hämmern. „Ist alles in Ordnung bei Ihnen? Ich habe Schreie gehört“, erklang es dumpf durch die Tür seines Apartments.
„Alles in Ordnung“, rief Johan mit einiger Verspätung. Er gab sich dabei keine Mühe, den Groll aus seiner Stimme zu verbannen. Dieser eitle Geck von Nachbar lauerte mit dem Ohr an der Wand, war bei jedem Hauch eines Anlasses zur Stelle, um sich zu beschweren. Grummelnd entfernte sich die Stimme auf dem Flur.
Johan rieb sich die müden Augen. Er musste vor seinem Laptop eingenickt sein. Wie lange mochte er hier mit dem Kopf auf dem Tisch gelegen haben? Sein Körper war grässlich verspannt.
Mit aller Macht unterdrückte er ein Gähnen. Er hatte die beängstigende Erfahrung gemacht, dass er - so gierig er auch Sauerstoff einsog – stets mehr ausatmete, als er zuvor aufgenommen hatte. Und zwar nicht nur Kohlendioxid, sondern etwas, das er nicht besser beschreiben konnte, als mit der „Essenz seiner Selbst“. Es fühlte sich grausam an: Ihm war, als atme er sich selbst aus.
Ein konstantes Blinken verriet, dass eine Mail auf ihn wartete. Klick. Von seinem Verleger.
Da war es wieder, dieses seltsam flau-unwirkliche Gefühl. Mit zitternder Hand öffnete er die Mail und überflog den Inhalt. Sein Verleger bedankte sich für das Einsenden der jüngsten Geschichte und sicherte ihm zu, diese wie gewünscht in die neue Anthologie mit aufzunehmen.
Johan scrollte nach unten. Er wusste nichts von einer eingesandten Geschichte. Doch der Beweis war an die Mail angehängt.
lautete der vielversprechende Titel. Darunter prangte wie gewohnt der Name seines Synonyms. Hanjo König.
Von einer schlimmen Vorahnung beseelt, las er den ersten Satz.
„Sie schreiben also Geschichten?“
Nein, das konnte, das durfte nicht wahr sein!
„Ja, doch … ja“, kam die Antwort etwas verspätet.
Hatte er den Besuch beim Therapeuten tatsächlich erlebt? Es hatte sich alles so verdammt real angefühlt ... Vielleicht, ja vielleicht hatte er die Sitzung erlebt und anschließend aufgeschrieben, das wäre möglich. Ja, das war mit Sicherheit die Erklärung.
Der Inhalt entsprach haargenau dem, was ihm beim Therapeuten widerfahren war. Johan fluchte, als er letztlich lesen musste, dass der Arzt die Sitzung niederzuschreiben begann. „Dieser Mistkerl hat es doch getan.“
Das nächste Kapitel wartete mit einer Überraschung auf. Es begann beim Supervisor des Therapeuten.
„Sie wissen doch, wie das in unserem Gewerbe ist.“ Der Supervisor breitete die Hände aus. „Wir werden mit so vielen Dingen konfrontiert, da fällt es einem manchmal schwer sich abzugrenzen.“
„Danke Dr. König, was würde ich nur ohne Sie tun?“
„NEIN!“, heulte Johan auf. „Das kann nicht sein!“
Der Therapeut legte den Kopf schief. „Haben Sie das auch gehört?“
„Sie sind ganz schön angespannt, gönnen Sie sich ruhig mal einen längeren Urlaub. Kommen Sie wieder zu Kräften.“
„Ja, das werde ich tun.“ Der Therapeut seufzte.
„Überlassen Sie mir Ihre Aufzeichnungen? Ich möchte sie noch einmal eingehend studieren und in unserer nächsten Sitzung darauf zurückkommen.“
„Tu es nicht!“, flüsterte Johan. „Tu es nicht!“
„Selbstverständlich.“ Sie gaben sich zum Abschied die Hand, dann fiel die Tür mit einem sonderbar dumpfen Laut ins Schloss.
„Das ist nicht real!“, schrie Johan. Er stolperte von seinem Computer weg, der Stuhl polterte zu Boden. Johan biss sich in die Faust. „Das! Ist! Nicht! Real!“
Die Faust im Mund, hielt er den Atem an und lauschte. Keine Stimme, die zu ihm sprach.
Widerwillig schleppte er sich zurück zum Tisch, näherte sich dem Laptop, als handele es sich dabei um ein giftiges Insekt.
Hanjo König lachte. „Dachtest du tatsächlich, du könntest so leicht ausbüchsen? Die Grundidee mit dem Therapeuten war nicht schlecht. Aber wie das meiste von dir mit wenig Fantasie umgesetzt.“
„Ich bin nicht Opfer, sondern Schöpfer meiner Welt“, wimmerte Johan, schloss die Augen, öffnete sie wieder und las weiter.
„Ob du die Augen schließt oder geöffnet hast, ändert nichts an der Geschichte“, lachte sein Pseudonym. „Jeder Lidschlag ist Teil davon.“
„Ich bin nicht Opfer, sondern Schöpfer meiner Welt. Ich bin nicht Opfer ...“
„Mach dich doch nicht lächerlich“, schnaubte Hanjo.
„Du bist nicht real!“, beharrte Johan. „Ich bin frei zu tun, was ich möchte.“
„Und weshalb unterhältst du dich dann mit einem Buch? Soll ich dir zeigen, wie frei du bist? Ich sage dir, was als Nächstes passiert, was du als nächstes tun wirst. Du wirst dich erschrocken umdrehen und dabei über deinen Stuhl -“
Ein erneutes Hämmern an der Apartmenttür ließ Johan herumwirbeln. Dabei stolperte er über den umgefallenen Stuhl und stürzte brutal zu Boden. Bei dieser Bewegung verdrehte er sich das Bein so heftig, dass es laut knackte.
Hanjo König lachte.
„Köstlich, einfach köstlich.“
Johan kroch auf die Tür zu.
„Wo willst du hin, Schraiber?“, lachte Hanjo. „Glaubst du immer noch, das alles sei real –du seiest real?“
„Lass mich in Frieden!“, winselte Johan, während er weiter auf die Tür zukroch, die von Schlägen geschüttelt wurde.
„Ich fürchte, deinen Frieden wirst du nicht finden“, höhnte Hanjo. „Davon steht nichts im Drehbuch.“
„Ich bestimme über mein Leben!“
„Ja, wirklich beeindruckend: Keine Made könnte selbstbestimmter über den Boden kriechen!“
Das Klopfen an der Tür wurde lauter. „Alles in Ordnung bei Ihnen?“
„Hilfe!“, schrie Johan. „Helfen Sie mir!“ Er konnte seine eigene Stimme kaum hören, in dem wahnsinnigen Gelächter, das Hanjo von sich gab.
„Komm zu Papa!“
Er kam wieder auf die Beine, humpelte die letzten Schritte zur Tür und riss sie auf.
Sein Nachbar starrte ihn an. „Was ist mit Ihnen geschehen, Herr ...“
Johan fiel seinem Nachbarn in die Arme. „Helfen Sie mir!“
„Aber was ist denn mit Ihnen, Herr König?“
Johan prallte zurück. „Was sagen Sie da? Wie haben Sie mich genannt?“
„Aber Herr König ...“ Der Nachbar sah ihn mit seltsamem Blick an.
„Ich bin nicht Herr König!“, brüllte Johan sein Gegenüber an. „Verdammt, wir sind doch schon so lange Nachbarn.“
Johan folgte dem Blick des Mieters und stöhnte entsetzt auf, als er den Namen unter seinem Türklopfer las.
„Das ist nicht wahr!“, heulte er auf.
„Geht es Ihnen nicht gut?“
Die Stimme klang seltsam. Sie sollte alarmiert klingen, besorgt vielleicht, aber da schwang noch eine andere Nuance mit ...
„Was geht hier vor sich?“, bellte plötzlich eine Stimme durch den Flur. Die massige Gestalt des Vermieters stampfte heran.
Natürlich, stöhnte Johan. Das alles konnte nur eine Geschichte sein! Nur in einer Geschichte vermochte etwas derart Konstruiertes zu geschehen!
„Herr König, dachte ich’s mir doch. Wie immer nichts als Ärger mit Ihnen! Schreien Sie vielleicht so herum, weil Sie endlich Ihre Miete zahlen können?“
„Ich bin nicht ... bitte ... Verstehen Sie doch ...“
Doch der Vermieter hatte sich bereits von Johan abgewandt und sprach mit deutlich ruhigerer Stimme auf dessen Nachbarn ein.
„Es tut mir wirklich außerordentlich leid. Ich weiß, dass besonders Sie als Schriftsteller auf ein ruhiges Haus angewiesen sind. Herr König wird Sie auch nicht länger belästigen. Mit Ende dieses Monats wird er hier ausziehen.“
Bildete Johan sich das nur ein, oder blitzten die Augen seines Nachbarn spöttisch in seine Richtung?
„Sie verschwinden jetzt hübsch in Ihrem Apartment, Herr König – und ich will keinen Mucks mehr hören, sonst rufe ich die Polizei!“
Johan sackte in sich zusammen, riskierte einen Blick in seine Wohnung. Hanjos Lachen war verstummt.
„Und bei Ihnen möchte ich mich noch einmal in aller Form entschuldigen, Herr Schraiber.“
Etwas platzte in Johans Kopf. Mit vorquellenden Augen starrte er seinen Nachbarn an. Der grinste zurück. Zwinkerte sogar einmal spöttisch.
„Sie? Sie sollen Herr Schraiber sein?“
„Jetzt reicht es aber wirklich ...“
Bevor der Vermieter seinen Satz zu Ende sprechen konnte, hatte sich Johan bereits auf seinen Nachbarn gestürzt. Er schrie wie ein Wahnsinniger und presste mit ebensolcher Kraft die Gurgel des Mannes zu. Doch so fest er auch drückte und schrie – das Lachen des Mannes vermochte er nicht abzuwürgen.
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„Danke, dass Sie so schnell einen Termin für mich freimachen konnten.“
Der Therapeut schüttelte seinem Patienten die Hand. „Eine glückliche Fügung, jemand ist spontan abgesprungen.“
„Welch ein Segen für mich.“
Mit einer einladenden Handbewegung wies der Therapeut seinem Patienten den Platz auf dem Podest zu. „Gut, fangen wir an. Was machen Sie beruflich?“
„Ich bin Autor.“
„Was schreiben Sie denn?“
Ein verlegenes Lachen des Patienten. „Bisher habe ich nur unter einem Pseudonym geschrieben. Aber davon habe ich mich endlich frei gemacht.“
„Das klingt so, als würde Sie das sehr erleichtern, Herr König.“
„Das tut es auch, das tut es.“
„Was ist Ihr Gefühl dabei?“
„Es ist ein großartiges Gefühl. Ich habe mir endlich den Platz genommen, der mir zusteht.“
Herr König strahlte. Etwas an dem Strahlen irritierte den Therapeuten.
„Erklären Sie das doch bitte genauer“, sagte er lahm.
„Sehen Sie, gewissermaßen habe ich mich von meinem Pseudonym verdrängt gefühlt. Es hatte zu viel Kontrolle über mein Leben.“
„Inwiefern?“
„Es hat mich als Fiktion einpferchen wollen. Aber es ist genau umgekehrt. Ich bin das einzig Reale, was existiert.“
„Sie sind also der Überzeugung, nur Sie selbst wären real und alles um Sie herum entspringt Ihrer Fantasie?“
„So ist es.“
„Und wie ist es mit dieser Situation hier? Ist die auch nicht real?“
„Das klingt jetzt vermutlich hart, Doktor. Aber die Wahrheit ist: Sie sind nicht real. Sie sind nur eine Figur in meiner Geschichte. Also im Grunde ist es gar nicht meine Geschichte. Es ist die Geschichte meines Pseudonyms. Ich schreibe sie nur zu Ende.“
„Und welche Funktion habe ich in dieser Geschichte?“ Die eigene Stimme schien ihm mit einem Mal von weit her zu kommen.
Herr König hüstelte. „In Wirklichkeit sind Sie nur eine Randfigur. Der Rahmen sozusagen. Was glauben Sie, weswegen Sie keinen Namen haben? Also – ich hätte Ihnen einen Namen gegeben, aber Johan hat sich dagegen entschieden. Er wollte damit offen lassen, dass womöglich Sie selbst in Wirklichkeit das Pseudonym sind, das mit ihm die Plätze zu tauschen versucht. Eine falsche Fährte für den Leser sozusagen.“
„Doch ich bin nicht das Pseudonym?“ Warum klangen seine Worte so kraftlos?
Herr König seufzte. „Natürlich hat Johan Sie theatralisch langsam schaltend konzipiert. Aber ich will Ihnen auf die Sprünge helfen: Johan Schraiber. Sie erinnern sich? Diese Stunde wäre eigentlich sein Termin gewesen.“
Der Therapeut konnte spüren, wie ihm seine Maske der Professionalität entglitt.
„Herr Schraiber?“, echote er. Tatsächlich schien Herr König eine gewisse Ähnlichkeit mit Herrn Schraiber zu haben. Wieso fiel es ihm so schwer, dessen Bild heraufzubeschwören? Ein klarer Fall für seinen … Für wen? Sein Denken erstickte in diffusem Nebel.
„Nehmen Sie es nicht persönlich, Doc. Aber um wirklich in der Realität Fuß zu fassen, scheint es mir notwendig, von allen Figuren Abschied zu nehmen, die ich mit Johan gemeinsam ersonnen habe.
Sie sind leider eine solche. Im Grunde sogar die letzte. Der Überbringer. Deswegen schien es mir irgendwie ... hm ... angemessen persönlich vorbeizukommen. Als letzte Reminiszenz an Johan Schraiber sozusagen.“
„Moment mal ...“ Es sollte ein heftiges Aufbegehren werden, doch es klang mehr nach einem Gähnen. Eine seltsame Leere durchspülte den Therapeuten und hinterließ lediglich das ermattende Gefühl von Hilflosigkeit.
„Vergessen Sie nicht aus dem Fenster zu schauen, wenn ich gegangen bin. Ach und“ – er grinste boshaft – „unsere Zeit ist um.“
Selbst als Herr König die Tür hinter sich zugezogen hatte, hallte noch sein hässliches Lachen in der Praxis wider.
Mit tauben Gliedern schleppte sich der Therapeut zum Fenster.
Ihn erwartete eine ähnliche Überraschung wie bei seinem letzten Fall. Von seinem Patienten keine Spur. Doch diesmal sah er auch den liebevoll gepflegten Hof nicht, den geschlängelten Weg, der zu seiner Praxis führte. Er sah ... gar nichts.
Reflexartig taumelte er zurück. Doch da war nichts, in das er hätte taumeln können. Er wollte schreien, doch er atmete nur das Nichts ein. Und als er ausatmete, atmete er sich selbst ins Nichts.