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Schreie
Herr Wolpert schrie. Er saß bereits seit er vor zehn Jahren Rentner geworden war im Rollstuhl, aber erst an seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag zog er in das Pflegeheim. Er konnte kaum noch etwas alleine erledigen und seine Ehefrau war mit der ständigen Pflege überfordert. Jetzt war noch eine psychische Erkrankung hinzugekommen: Er schrie. Von Morgens bis in die Nacht. Und während einige Mitbewohner sich belästigt fühlten, meinten andere, die Pflegekräfte ließen ihn schreien ohne sich um ihn zu kümmern.
Herr Wolpert konnte das Schreien nicht steuern. Mir fiel aber mit der Zeit auf, dass er verschiedene Worte schrie. Üblicherweise schrie er "Hallo". Andere Bewohner benutzen den Klingelknopf, um eine Schwester zu rufen, aber Herr Wolpert verstand dieses Klingelprinzip nicht. Nun ja, eine Klingel kann man nur einmal drücken und dann muss man warten, bis eine Schwester kommt. Die Stimme kann unbegrenzt eingesetzt werden und bis heute ist bei Herrn Wolpert auch keine Heiserkeit eingetreten.
Ein anderer Ruf war "Rita". Rita war die Ehefrau von Herrn Wolpert. Sie lebte in ihrem Häuschen, mehrere Kilometer entfernt, so dass die Rufe ungehört von ihr verhallten. Wie sehr Herr Wolpert das Schreien gar nicht bemerkte, konnte man hören, wenn seine Ehefrau zu Besuch gekommen war. Sie saß neben ihm und er schrie "Rita!"
Das dritte Wort war "Hilfe". Und wenn Herr Wolpert "Hilfe" rief, kam sofort eine Pflegekraft. Denn der Hilferuf bedeutete, dass er zur Toilette musste. Und da er den Rollstuhl nicht alleine verlassen konnte, brauchte er für Toilettengänge Unterstützung. Mir wurde hier jedenfalls klar, dass die Pflegerinnen Herrn Wolpert nicht einfach schreien ließen, sondern genau darauf hörten, was er rief.
Es gab Bewohnerinnen, die schnell lernten, dass ein Toilettenruf umgehend beantwortet wurde. Frau Leisenstein konnte nicht lange stillsitzen. Sie trug den ganzen Tag einen Trainingsanzug. Vielleicht eine Gewohnheit aus ihrer Zeit als Langstreckenläuferin. Bevor sie ins Pflegeheim gekommen war, lief sie jeden Tag wenigstens dreißig Minuten lang. Jetzt musste sie einen Rollator benutzen und hatte nicht mehr die Kraft in den Beinen, um zu laufen. Nun ging sie den ganzen Tag mit ihrem Rollator die Gänge im Pflegeheim auf und ab und das so schnell, dass sie die Schwestern immer wieder überholte. Zu den Mahlzeiten kam sie in den Speisesaal, stand aber nach wenigen Minuten wieder auf und ab ging mit ihrem Rollator auf den Gang. Die Schwestern forderten sie dann auf, sich wieder zu setzen, aber wenn der Laufdrang zu groß wurde, wollte Frau Leisenstein auf die Toilette. Sie konnte alleine zur Toilette gehen, aber bei den Mahlzeiten ging eine Schwester mit, weil sie erfahrungsgemäß sonst nicht in den Speisesaal zurückkam, sondern weiter auf dem Gang entlanglief. Frau Leisenstein lebte nicht für sich, wie die meisten Bewohnerinnen, sondern schaute auf die anderen und hielt auch Kontakt zu ihnen. So bat sie beim Essen: "Herr Jürgens braucht einen großen Löffel", oder sie schaute bei ihren Gängen ins Zimmer von Herrn Wolpert und meinte: "Warum schreien Sie so?".
Aber die sozialen Kontakte von Frau Leisenstein waren die Ausnahme. Die meisten Bewohnerinnen redeten kaum mit ihren Nachbarn und blieben lieber für sich. Mir kommt da Frau Bormann in den Sinn. Sie war fast neunzig Jahre alt und trug seit dreißig Jahren die gleiche Kleidung. Größere Menschenansammlungen machten ihr Angst. So konnte es geschehen, dass sie in den Speisesaal kam und sah, dass schon zwölf Mitbewohnerinnen am Tisch saßen. Angesichts dieser Menge drehte sie mit ihren Rollator um und ging wieder auf ihr Zimmer. Meistens schaffte sie es dann in einem zweiten Anlauf, im Saal zu bleiben und sich an den Esstisch zu setzen. Aber es kam auch vor, dass eine Schwester sie holen musste und sie dann zu ihrem Platz geleitete.
Diese Scheu den Mitbewohnern gegenüber war öfter anzutreffen. Das Leben in einem Pflegeheim verlief ohne Wechsel. Arbeit und Freizeit, Einkaufen, Essen zubereiten, sich um die Familie kümmern - diese wechselnden Tagesabschnitte gab es hier nicht. Mir kommt Frau Lohberg in den Sinn. Sie war gerade vierundsiebzig Jahre alt und schien recht rüstig zu sein. Aber eigentlich wussten die anderen Bewohner nichts Näheres von ihr. Sie kam immer früh zum Esstisch, sprach mal ein Wort mit den Schwestern, aber nicht mit den anderen Bewohnern. Sie schien kein Interesse an der Gemeinschaft zu haben, denn sie ging, sobald sie mit ihrem Essen fertig war. Abends brachte sie oft eigenes Essen mit an den Tisch. Dann aß sie schon, während alle anderen noch auf die Austeilung des Abendessens warteten und ging, bevor die anderen ihr Abendessen erhalten hatten. Vielleicht fühlte sie sich auch nicht wohl, wenn viele Menschen um sie herum saßen. Als ich darüber nachdachte, fiel mir auf, dass Frau Lohberg nicht mit den anderen Bewohnern zusammen am Marktplatz saß und auch an den Freizeit-Angeboten nicht teilnahm. Offensichtlich erschien sie nur zu den Mahlzeiten und verbrachte ansonsten die Tage in der Ruhe ihres Zimmers. Am Frühstückstisch hatte sie beim Aufstehen einmal gesagt: "Ich gehe wieder in mein Bett." Ob die Bewohner nun den Tag in einem Liegesessel in Gemeinschaft oder im eigenen Bett alleine verbrachten, die Tage flossen gleichmäßig dahin, getaktet von den Mahlzeiten und der Nachtruhe - Tag für Tag und Nacht für Nacht.