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Schritte im Dunkeln
Schritte im Dunkeln
Ampy öffnete die Augen, doch sie sah nichts. Nichts war um sie herum, nur tiefschwarze Dunkelheit. Es muss noch mitten in der Nacht sein. Sie wollte sich zur Seite drehen, um mit ihren Fingern nach der Nachttischlampe zu tasten, als ihr bewusst wurde, dass sie nicht lag. Schon gar nicht in ihrem Bett. Sie stand barfuss in der Finsternis. Über diese Erkenntnis geriet sie abrupt ins Taumeln. Unwillkürlich streckte sie beide Arme von sich, um Gleichgewicht zu finden. Verwirrung breitete sich mit der Balance in ihrem Körper aus, forderte sie auf, sich neu zu orientieren. Wenn ich in meinem Zimmer bin, muss irgendwo an der Wand der Lichtschalter sein.
Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den nächsten, während ihre Hände die Umgebung nach Bekanntem - nach dem Eichenschrank, der Wand, dem Bücherregal - absuchten. Aber kein Hindernis, keine Begrenzung stellte sich ihr in den Weg. Sie war mindestens zwanzig Schritte gelaufen. Das Zimmer ist niemals so groß. Ich muss träumen!
Sie fragte sich, ob ihr bewusst sein konnte, dass sie träumte oder ob dies eher einer Indiz für ihre Vigilanz war. Nachdem sie sich etliche Male schmerzhaft in den Unterarm gekniffen hatte, entschied sie zu glauben, dass sie wach war, um dann fassungslos zu rekonstruieren, was sie erinnern konnte.
Weiße Blätter eines blühenden Kirschbaums - rieselten wie Puzzleteile vom blaugrauen Himmel. Sie saß unter dem Baum an einem kleinen Holztisch - ihre Augen geschlossen - die Nase nach oben gereckt. Genüsslich sog sie den Duft des Frühlings ein, während einige Blütenblätter Stirn und Wangen streiften und danach lautlos vom Wind auf das Gras getragen wurden. Sie spürte Ales Atem an ihrem Hals, bevor seine Lippen sie dort warm berührten.
Viele Schmeicheleien hatte er ihr zugeflüstert - über ihre vollen Lippen, das hübsche Kleid, ihren Humor. Er hatte sie endlos angesehen, aufmerksam zugehört und an den richtigen Stellen herzhaft gelacht. Der anfängliche Abstand zu ihr - war immer geringer geworden, bald berührte er sie bei fast jeder Geste. Ihr Magen kribbelte und prickelte wie früher, wenn sie zuviel Brausepulver genascht hatte.
Der Kuss im letzten Tageslicht, während Blüten auf sie herabrieselten wie dichte Schneeflocken, war sein wertvollstes Kompliment an sie.
Die weißen Blätter welkten, wurden braun, bis sie sich schließlich im Schwarz der Wirklichkeit auflösten. Ampy schritt blind weiter ohne an Grenzen zu stoßen. Der Boden fühlte sich jetzt an wie Eis. Kälte bohrte sich langsam durch ihre Zehen bis zu den Waden und immer höher hinauf. Sie zitterte und verschränkte die Arme vor ihrer Brust. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie vollkommen nackt war. Nur kleine Härchen stellten sich schützend über ihrer Haut auf. Wie bin ich hier nur hineingeraten? Gestern war doch alles noch schön!
Ihre Ratlosigkeit stimmte sie so traurig, dass sie Tränen, die sich hinter ihren Lidern drängten, nicht mehr zurückhalten konnte. Hilflos ließ sie zu, dass mehr und mehr strömten und rasch über ihr Kinn ins Nichts sprangen.
Sie suchte verzweifelt Unterschlupf in den verflossenen Bildern, suchte Ales begehrenden Gesichtsausdruck und seine Hände, die beseligend gestreichelt hatten. Was ist danach geschehen?
Nachdem er ihr all die feinen Liebkosungen geschenkt, sie in ihrem Selbst erbaut und sie spät nach Sonnenuntergang zu Hause abgesetzt hatte, war er aus ihr heraus gebrochen wie ein fauler Zahn.
Die vorangegangenen Stunden verblassten zur Bedeutungslosigkeit. Ales Bauwerk war zerflossen, wie eine Sandburg im Regen, ließ sie haltlos zurück. Hatte sie sich nicht eben noch für kostbar gehalten? Hatte er ihr nicht gezeigt, wie sehr er sie schätzt, wie sehr er sie mag?
Wie viel bin ich wert? Wie viel bin ich mir wert? Düsternis zog sie zurück, legte sich drückend auf ihre Schultern. Es kam ihr so vor, als wöge sie plötzlich das Doppelte. Die Bewegungen wurden langsam und zäh, ihre Lungen kämpften um Atem. Keuchend blieb sie stehen, argwöhnend, ob sie je irgendwo ankommen würde.
Und wenn doch, was erwartete sie?
In ihrem Leben war stets Hoffnung gewesen. Auch bevor sie Ales in dem Café kennen gelernt hatte. Viele Menschen kamen und gingen, bauten auf und brachen ein. Niemand war an das Vertrauen herangekommen, das sie sorgsam im Tiefsinn verbarg. Ihre Ansichten erschienen ihr so präzise und facettenreich wie ein Diamant.
Sie vergrub das Gesicht mit der Düsterheit in ihren Händen. Bedenken schlichen sich unaufhörlich in ihren Kopf, rumorten im Hirn, ließen sie über die Perspektive ihres Daseins nachdenken. Ist er mir vielleicht zu nah gekommen?
So wie jemand mit einem offenen Feuer verfährt, in Distanz die Wärme genießt, um sich an den Flammen kein Mal zuzuziehen, hatte sie ihm begegnen wollen. Dass er sie sehen, sie wirklich sehen, seine Hände sie wirklich spüren würden, hätte sie nie, nie für möglich gehalten. Von dieser Gefahr war sie keinesfalls ausgegangen.
Denn sie selbst kannte sich nicht. Bis zu dieser Nacht.
Ampy kauerte sich auf den eisigen Untergrund und gähnte. Des Gehens und Nichtverstehens war sie müde geworden. Ich werde versuchen zu schlafen. Wenn ich erwache, ist alles wie früher.
Sie senkte die Augenlider.
Mit einem Mal blinzelte sie ein Licht an, nicht größer als das eines brennenden Streichholzes. Erstaunt beobachtete sie, wie dieses Licht stetig wuchs. Der schmale Raum weitete, dehnte, streckte sich, bis er ihr unendlich erschien.
Allmählich gewöhnten sich ihre Pupillen an die quälende Helligkeit. Suchend blickte sie um sich, fand jedoch nichts. Weder über, weder neben, noch unter ihr war etwas. Selbst ein Boden existierte nicht.
Dieser Ort war leer. So leer wie ihre Seele.