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Schumis Papa
Begeistert klatschen meine Eltern in die Hände und springen vom Sofa auf.
"Schumi ...", beginnt meine Mutter tränengerührt.
"Schumi ist Erster. Er hat das Rennen gewonnen."
Es dauert keine zehn Sekunden, bis das Telefon klingelt.
"Rolf?", fragt mein Vater den Hörer. - "Natürlich haben wir es gesehen. Ja ... ja ... ein tolles Rennen. Kommt a´ gleich vorbei, auf ´en Schumi anstoßen?"
Ich schüttel den Kopf und verkrieche mich auf mein Zimmer.
Warum müssen Sonntage bloß immer so beschissen sein? Warum muss es die Formel 1 überhaupt geben? Wieder kommt die Frage in mir auf, weshalb meine Eltern nicht einfach tödlich verunglücken. Als erstes würde ich dann die Ferrarifahne wegschmeißen, obwohl ich mir sicher bin, dass einer von den beiden einen Vermerk im Testament gemacht hat, dass dieses Ding bei der Beerdigung auf dem Sarg zu liegen hat.
Ich beschließe, zu onanieren. In der hintersten Ecke des Schranks, dort, wo meine Mutter nie hinsieht, warten aberhunderte von Magazinseiten darauf, etwas Feuchtigkeit spendiert zu bekommen.
"Paul", kommt es aus dem Wohnzimmer.
Ich drücke den Schrank wieder zu.
"Paul, watt is, fährste zur Tanke, Diebels holen?"
Ich gehe ins Wohnzimmer. Mein Vater schwitzt aus allen Poren, während meine Mutter hüftschwingend vor dem Fernseher auf das Ende der Werbepause wartet. Dann nämlich kommt die Siegerehrung.
Wie oft ich diesen Satz schon gehört habe.
Dann kommt die Siegerehrung. Dann kommt Schumi. Sekt und halbnackte Weiber.
"Watt issen Paul? Du guckst so bedröppelt ausser Wäsche."
Ohne lange zu überlegen, sage ich: "Wie sehr ich euch doch hasse."
In diesem Augenblick endet die Werbung.
"Da Gerd, es ist soweit. Da kommt die Siegerehrung", brüllt meine Mutter.
Mein Vater schaut nicht gleich zum Fernseher. Kurz noch hält er den Blickkontakt mit mir. Seine Augen werden feucht, und dann läuft eine Träne seine Wange hinab.
Erst jetzt schaut er zum Fernseher. Aber er verhält sich anders, als noch vor einer Minute. Die Freude ist bloß gespielt. Das merke ich sofort.
Mir wird ganz komisch.
"Was ist, soll ich nun zur Tanke fahren?"
"Nee, lass mal gut sein, das mach´ ich schon. Ist ja Sonntag, du hast doch bestimmt auch noch was vor, und so."
"Nee Gerd, du hast doch schon was intus, lass mal den Jungen los", mischt meine Mutter sich ein.
Vater greift nach den Autoschlüsseln und steht auf.
"Ach watt, soviel ist das nicht. Wir können den Jungen nicht immer einspannen, der hat auch was vor."
Als er an mir vorbeigeht, würdigt er mich nicht einen Blickes.
Erinnerungen kommen hoch.
Zuerst die, die ich immer habe.
Ohrfeigen dafür, wenn ich als Kind zu lange bei Freunden zu Besuch war.
Die unzähligen Hausarreste, die folgten, wenn meine Eltern mich beim Rauchen erwischten, oder wenn ich sonstwelchen scheiß gebaut hatte.
Erinnerungen an die Formel 1, die BILD Zeitung, dumpfes diskutieren über Dinge, von denen man keine Ahnung hat.
Doch dann kommen plötzlich auch neue Erinnerungen.
Vater, wie er mir zu meinen guten Noten im Studium gratuliert hat, obwohl er immer wollte, dass ich in seine Fußstapfen trete.
Mama, wie sie mir vor zwei Jahren aus der Patsche geholfen hat, als die Sache war, über die später niemand mehr ein Wort verloren hat.
So sehr ich auch suche, nirgends entdecke ich die zwei enttäuscht. Nicht eine einzige gehässige Bemerkung über das, was ich mache. Keine Vorwürfe.
Meine Mutter lacht schrill, als der Korken aus der Flasche fliegt, und Schumi den Sekt in die Menge spritzen lässt.
Ich drehe mich um, gehe zur Wohnungstür, laufe runter auf die Straße.
Neben dem Auto steht Vater.
Zum ersten Mal in meinem Leben sehe ich ihn weinen. Er weint tatsächlich, der alte Koloss.
Ich sollte ihn in den Arm nehmen, aber das geht nicht, das kann ich nicht, das will ich nicht.
Als er sich zu mir umdreht, sagt er: "Lustig machen ja, das habe ich immer gewusst. Aber hassen?"
"Ach Vater, es ist nur ..."
"Ne ne, lass mal. Du hast gesagt, was du gesagt hast. Die Mama und ich, wir sind keine gebildeten Leute. Aber ... Paul ... hassen?"
Er steigt ins Auto und fährt los.
Ich versuche nicht, ihn daran zu hindern.
Man sollte sich nicht darum bemühen, Getanes zu widerrufen.
Ich passe mich der Situation an; bin öfters nett zu ihnen, schaue auch schonmal ein Stück Formel 1 mit.
Nächsten Monat werde ich ausziehen. Vater hat mir die Wohnung über einen Arbeitskollegen besorgt.
Gefreut hat er sich, als ich mich bei ihm dafür bedankt habe.
Es war weniger der Dank selbst, sondern vielmehr das eine Wort, mit dem ich begonnen habe.
Papa.