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Schwarze Augen
Schwarze Augen
Draußen tobte noch immer der erste Herbststurm des Jahres und die Kälte, die er mit sich brachte, drang Jai bis in die Knochen.
Er drehte die Heizung höher, bevor er sich auf die Couch neben seinen Vater setzte. Im Haus war es rasch viel zu warm geworden, trotzdem kämpfte Jai noch erfolglos gegen die Gänsehaut an, die sich auf seinen Unterarmen ausgebreitet hatte und wohl eher durch die Anwesenheit der Polizisten als durch die Kälte verursacht wurde.
Sie waren überall, fotografierten die Stelle an der Shantis Leiche gelegen hatte und wo noch jetzt ein großer Blutfleck daran erinnerte, wie grausam sie gestorben sein musste, liefen durchs Haus, öffneten und schlossen Türen und sprachen über Shanti als sei sie einfach ein Fall mehr, um den sie sich kümmern mussten.
Jai schloss müde seine Augen und presste seine Finger an seine Augen. Selbst mit geschlossenen Augen sah er Shantis leblosen Körper und ihr Blut vor sich.
Er hörte die Schritte der Polizisten auf dem Parkettboden. Sie durchsuchten alle Zimmer, sogar die Schränke, nach Hinweisen auf den Täter. Jai wusste nicht, was genau die Übelkeit verursachte, die in ihm aufstieg; die Tatsache, dass man seine Frau getötet hatte, oder die Polizisten, die ihre Nase in jeden Winkel des Hauses, seines Lebens, steckten.
„Wir bräuchten ihre Fingerabdrücke.“
Jai sah auf und nickte nur langsam, Bauer, den Beamten, der die Untersuchung leitete und sich ihm gegenübersetzte, sah er nur verschwommen. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass er zu weinen angefangen hatte.
„Muss das denn unbedingt jetzt sein?“, fragte Jais Vater genervt, Jai wollte protestieren, ihm erklären, dass es in Ordnung war, dass die Polizisten nur ihre Arbeit machten, aber er bekam kein Wort heraus. „Meine Schwiegertochter ist...“
„Ich weiß, es ist eine schwierige Situation, aber es muss sein. Wir brauchen die Fingerabdrücke um sie von den Fingerabdrücken des Täters unterscheiden zu können“, Bauer atmete tief durch. „Sagten Sie nicht, Sie hätten das Messer, mit dem man Ihre Frau getötet hat, in der Hand gehabt?“
„Ich hab’s meiner Tochter abgenommen! Ich sagte Ihnen doch schon, ich kam nach Hause und fand meine Frau auf dem Boden. Meine Tochter hockte daneben und hatte dieses Messer in der Hand... ich hab’ sie überredet, es mir zu geben“, erklärte Jai so ruhig, wie es ihm noch möglich war, während er seine Wangen trockenwischte. „ Sie ist doch erst sieben, sie... was hätten Sie getan?“
Bauer nickte nachdenklich und sah an Jai vorbei. Er war eine große, respekteinflößende Erscheinung mit einer tiefen, ruhigen Stimme. Seine kurzen, dunkelbraunen Haare saßen, trotz des Regens, perfekt und waren genauso trocken wie sein schwarzes, makellos gebügeltes Hemd. Er war nicht gerade das, was Jai sich unter einem Polizisten vorgestellt hatte, aber er konnte mit diesem Auftreten wahrscheinlich fast jeden zu einem Geständnis bringen. Auch Jai, der unschuldig war, fühlte sich in seiner Nähe unwohl und wurde nervös.
„Ihre Frau und Tochter waren alleine im Haus, stimmt das?“, fragte Bauer plötzlich, obwohl er die Antwort darauf schon kannte.
„Ja.“
„Wo waren Sie nochmal?“
„Ich? Ich sagte Ihnen doch schon, ich hab’gearbeitet!“
„Bis etwa sieben Uhr.“
„Genau“
„Und dann?“
„Dann bin ich nach Hause gefahren!“
Bauer nickte wieder und strich dabei über sein Kinn. „Mit dem Wagen braucht man von Ihrem Büro bis hierher etwa zwanzig Minuten. Sie brauchten heute abend über eine Stunde!“
„Draußen tobt ein Sturm, man kommt kaum vorwärts. Die Autobahn war vollkommen zu, es hat ein paar Auffahrunfälle gegeben. Sie sollten das doch wissen!“, Jai massierte seine Schläfen und starrte dabei auf den Boden. „Was sollen diese Fragen?“
„Ich habe ein paar interessante Dinge über Ihre Ehe erfahren...“
„Was geht Sie meine Ehe an?“
„Ihre Frau wurde erstochen, also geht es mich etwas an! Sie haben eine Geliebte?“
„Wie kommen Sie auf diesen Unsinn? Mein Sohn hat seine Frau geliebt!“, rief Jais Vater wütend aus, Jai legte ihm eine Hand auf den Arm, um ihn zurückzuhalten.
„Ich hatte eine...Geliebte,aber Shanti und ich..." begann Jai leise. „Wir haben darüber geredet. Ich hab’ meiner Frau alles gebeichtet. Sie zu betrügen war ein Fehler, ein sehr großer Fehler, ich hab’ es bereut und dafür bezahlt. Das können Sie mir ruhig glauben.“
„Bezahlt?“
„Meine Frau wollte mich verlassen als sie es erfuhr und...“
„Wirklich?“
„Ja, aber...“
„So eine Scheidung ist heutzutage ziemlich teuer, nicht wahr? Sie als Anwalt wissen das wahrscheinlich besser als ich.“
„Worauf wollen Sie hinaus?“
„Gibt es irgendwelche Zeugen für die Autofahrt nach Hause?“
„Ich...“
„Das ist doch lächerlich! Meine Enkelin hat Ihnen den Mann doch beschrieben, der meine Schwiegertochter umgebracht hat!“, mischte sich Jais Vater wieder ein.
„Ein Mann mit schwarzen Augen“, las Bauer von dem Notizblock ab, den er aus seiner Hemdtasche geholt hatte. „Keine sehr ausführliche Beschreibung!“
„Kiran ist sieben und sie hat den Mord an ihrer Mutter miterlebt! Was erwarten Sie von ihr?“
„Ein Mann mit schwarzen Augen“, wiederholte Bauer mit hochgezogener Augenbraue.
„Vor ein paar Wochen erzählte Kiran ihrer Mutter von einem Mann mit schwarzen Augen, den sie im Garten gesehen hatte. Wir haben es damals abgetan, Kiran ist ein Kind mit viel Phantasie, aber vielleicht gab es diesen Mann ja tatsächlich.“
„Wie auch immer!“, Bauer steckte seinen Notizblock zurück in seine Hemdtasche und warf Jai einen kurzen Blick zu. „Würden Sie uns jetzt bitte begleiten? Wir brauchen Ihre Fingerabdrücke!“
„Natürlich, ich will mich nur kurz von meiner Tochter verabschieden!“
„Es wird nicht lange dauern!“
„Ich würde trotzdem gerne zu ihr gehen!“
„Natürlich“, Bauer gab schlechtgelaunt nach und beobachtete, wie Jai aufstand und quer durchs Wohnzimmer in die Küche ging, wo Kiran auf dem Schoß ihrer Großmutter saß und interessiert die Arbeit der Polizisten verfolgte.
Jai war überrascht darüber, wie gefasst die Kleine war. Sie war viel ruhiger als seine Mutter, die der Kleinen immer wieder zuflüsterte, dass alles wieder gut werden würde. Vielleicht, dachte Jai sich, verdrängte sie einfach was sie gesehen hatte, vielleicht verstand sie es auch nicht.
Er zwang sich zu einem Lächeln, während er sich langsam vor den Stuhl hockte, auf dem seine Mutter saß, Kiran lächelte zurück als sie ihren Vater sah. Ihre meeresgrünen Augen strahlten.
„Ich muss jetzt kurz weg, aber Oma und Opa werden bei dir bleiben. Sie nehmen dich nachher mit zu sich, okay?“, flüsterte er und strich dabei über ihre weiche Wange.
„Wohin gehst du?“
„Ich muss kurz mit den Polizisten mitgehen, aber ich werde nicht lange wegsein. Ich komme nach.“
„Kann ich mit zur Polizei?“
„Nein, du wirst mit deinen Großeltern mitgehen! Es ist spät und du gehörst schon längst ins Bett... sei lieb, verstanden?“
„Ja“
„Versprochen?“
„Versprochen!“
„Bekomme ich eine Umarmung und einen Kuss?“
Kiran legte sofort ihre Arme um seinen Hals. Er drückte sie so fest an sich, wie er sie noch nie umarmt hatte. Sie roch so sauber und süß, ihre langen, dunklen, weichen Haare rochen nach Vanille, genauso wie die ihrer Mutter gerochen hatten. Jai saugte diesen Duft in sich auf, er hatte plötzlich das Gefühl, dass er sein kleines Mädchen nie wieder sehen würde. Jai wollte sie gar nicht mehr loslassen, aber Bauer war ihm schon in die Küche gefolgt und trommelte ungeduldig mit seinen Fingern auf der Platte des Küchentischs herum.
„Ich muss jetzt gehen!“, erklärte Jai leise, drückte Kiran einen Kuss auf die Wange und schob sie von sich. „Du hast mir was versprochen, denk’ dran!“
Kiran nickte und kuschelte sich wieder in die Arme ihrer Großmutter. Jai stand nur ungern vom Fußboden auf und ließ sich von Bauer wie ein Verbrecher aus dem Haus leiten. Er richtete seinen Blick stur auf den Boden vor sich und unterdrückte den Drang, wieder zurückzulaufen und Kiran wieder an sich zu drücken.
„Es dauert nicht lange“, murmelte er in sich hinein. „Papa ist bald wieder bei dir, Kleines.“
Kirans Blick folgte ihrem Vater, bis er nicht mehr zu sehen war. Nach und nach packten auch die Polizisten, die sie zuvor so interessiert beobachtet hatte, ihre Sachen und folgten Bauer aus dem Haus. Müde schloss Kiran ihre Augen. Niemandem im Haus war aufgefallen, dass diese inzwischen tiefschwarz geworden waren.