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Schwarze Schleier

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19.05.2015
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Schwarze Schleier

Der Sommer verblasste über den Hügeln von Texas, als Anna an jenem Abend zum Old Tunnel State Park fuhr. Die Sonne verbrannte die Sträucher am Rand der Straße. Auf dem Parkplatz fand sie den letzten freien Platz. Menschen in Shorts, Familien, Paare, mit Kameras und Kindern an der Hand, strömten zum Aussichtspunkt. Anna ging langsam, hielt sich abseits. Der Rucksack lastete auf ihrem Rücken, aber sie ging mit leichten Schritten. Die Anlage war liebevoll gepflegt, Gräser und Beete strotzten vor Kraft. An einer Stelle war eine Apparatur angebracht, aus der Vögel Wasser saugen konnten. Ein kleiner Vogel mit orangem Gefieder flog wieder und wieder an die Tränke, schwebte in der Luft, vibrierte, stand still, trank und segelte davon. Ein Kolibri, der sich hierher verirrt hatte. Ein Pfad führte durch Gebüsch und Gras, vorbei an kleinwüchsigen Laubbäumen nach unten zu einem verlassenen Eisenbahntunnel. Vor dem Weg und mit Sicht auf das sanfte Tal, befand sich eine Bühne, die fast restlos besetzt war. Jeden Abend zur Dämmerung stürzten sich Hunderttausende Mexican Free-tailed Bats aus dem alten Eisenbahntunnel in den Himmel. Ein Spektakel.


Anna suchte nach etwas anderem, nach den Resten. Erinnerungen, die nie verblassen werden. An diesem Ort. Anna und Tom. Pures Glück. Vor einem Jahr. Letzter Urlaub. Don’t mess with Texas. Rodeo. Pferde. Grasland so wirr der Blick reichte. Letztes Lächeln. Bruchstücke des Schreckens, weit entfernt, tief im Herzen versteckt.
Er hatte gesagt: „Wenn wir alt sind, kommen wir hierher zurück. Weißt du, dass Fledermäuse Menschen gleichen.“


„Quatsch. Fliegen halt anders wie Vögel.“

„Die können in der Luft stehen bleiben, zur Seite gleiten, abrupt abdrehen, Künstler der Lüfte.“

„Ach, das meinst du.“

„So möchte ich fliegen lernen.“

„Spinner.“

Als die Rangerin ihre Ansprache begann, schlich sich Anna den Seitenpfad hinab. Niemand beachtete sie. Im Schatten der Bäume stellte sie Toms Urne neben einen verwitterten Findling und öffnete sie. Nachdem Tom in den Flammen seines Wagens verbrannt war, kehrte er verwandelt zurück. Die Urne hatte eine glatte Oberfläche. Zikaden schrieen. Der Himmel färbte sich violett. Nach und nach verloren die Farben des Himmels ihre Kraft. Aus der Dunkelheit ins Licht. Ewiges Wechselspiel.

Die Stimmen der Menschen verstummten nach und nach. Das Wehen der beginnenden Nacht blieb zurück mitsamt der Erwartung, dass das Schauspiel beginnt. Nach einer Weile setzte ein merkwürdig tiefes, pulsierendes Rauschen ein. Ein Geräusch wie ein heftiger Sommerregen. Gleichzeitig füllte sich der Himmel mit Leben. Die Fledermäuse stiegen auf. Schwarze Schleier brandeten gegen das Licht. Tausende. Zehntausende. In Spiralen, wie Rauch, wie Geister, wie Gedanken, die man nicht loswird.

Anna weinte nicht. Sie lachte leise.
"Siehst du das, Tom? Du wolltest doch fliegen.“

Als der letzte Schatten über den Himmel huschte, ging sie den Pfad zurück, ohne sich umzudrehen. Ein leiser Frieden. Der Schleier war gefallen.

 

Hallo @Isegrims

Ich bin sehr gerne dabei gewesen, habe zusammen mit Anna das Schauspiel der tausenden auffliegenden Fledermäuse beobachtet und wie der schwarze Schleier fiel. Das ist ein sehr schönes Bild! Ich finde auch deine Sprache gelungen, allerdings hatte ich bei der ein oder anderen Passage das Gefühl, der Kitsch- oder Klischee-Alarm gehe los. Beispiele:

ihr Herz fühlte sich leicht an
Erlösung.
Weites Land.
Mit faltiger Haut und klarem Blick.
Du wolltest fliegen. Jetzt darfst du dem Himmel entgegen schweben.
Gerade hier im letzten Zitat: Du wolltest fliegen. Das passt natürlich schön zu 'dem Himmel entgegenschweben', aber es kommt so aus dem Nichts, weil Tom ja komplett im Dunkeln bleibt. Er wollte also fliegen. Wieso, warum, wie? Ich finde, die Aussage würde an Kraft gewinnen, wenn es ein Minimum an Hintergrund gäbe.

Ein einziger (Flüchtigkeits-)Fehler ist mir aufgefallen, nämlich hier:

Nachdem Tom in den Flammen seines Wagens verbrannt war, kehrte erverwandelt zurück.
Das müsste getrennt geschrieben werden.

Dann möchte ich noch diese Stelle zitieren:

Zikaden schrieen.
Zikaden schreien? Wirklich? Das klingt so hart, dabei ist der Text eher sanft, fliessend.

Also abschliessend: Dem Text gelingt es, dass ich berührt werde, rein durch die Sprache, über die Charaktere erfahre ich ja nichts (auch schwierig in so einem kurzen Stück). Man könnte dem Text folglich vorwerfen, dass er reine Oberfläche ist, wenig Tiefgang hat, und eben auch ein wenig mit seiner Sprache blendet. Nichtsdestotrotz fand ich ihn gelungen und habe das gerne gelesen! Gerade als Momentaufnahme funktioniert die Geschichte für mich gut.

Beste Grüsse,
d-m

 

Hallo Isegrims,

ein kurzer Text, der es in sich hat. Du hast es geschafft, Kopfkino auszulösen und so viele Emotionen zu transportieren. Hut ab! Das ist Dir wirklich mega gut gelungen. Ich war voll in der Szene dabei, hatte Gänsehaut und die Geschichte hat mich sehr berührt. Hätte ich nicht gedacht, dass es möglich ist, mit so einer kurzen Story, den Leser so mitzunehmen.

Mir sind nur zwei Kleinigkeiten aufgefallen:

kehrte erverwandelt
kehrte er verwandelt

Zikaden schrieen
Muss es nicht schrien heißen, nur mit einem e?

Liebe Grüße
Silvi

 

Der Sommer verblasste über den Hügeln von Texas, als Anna an jenem Abend zum Old Tunnel State Park fuhr.

Sorry, das klingt wie aus einem Kindertext. Texas ist einer der heißesten Staaten der USA mit oft über 50 Grad Celsius, wie verblasst da der Sommer? Wie findet das statt? Welche Hügel? Ist Texas nicht vor allem flach und sandig? Wenn nicht, will ich aber genau wissen, was Sache ist. Old Tunnel State Park klingt halt danach wie aus Google Maps abgelesen.

Anna suchte nach etwas anderem, nach den Resten. Erinnerungen, die nie verblassen werden. Erlösung. An diesem Ort. Anna und Tom. Pures Glück. Vor einem Jahr. Letzter Urlaub. Don’t mess with Texas. Rodeo. Pferde. Weites Land. Letztes Lächeln. Bruchstücke des Schreckens, weit entfernt, tief im Herzen versteckt.
Gibt so eine South-Park Folge, wo es um eine Werbespot geht: You in a tuxedo. Girls. Jacuzzi. Drinks. More Drinks. Hot Girls. Club. Daran musste ich spontan denken. Rodeo. Pferde. Ach, nee, das is nix.
Er hatte gesagt: „Wenn wir alt sind, kommen wir hierher zurück. Mit faltiger Haut und klarem Blick.“
Sagt er das genauso? Mit faltiger Haut und klarem Blick. Das ist so eine Kunst, Dialoge zu schreiben, die echt klingen. Meistens klingen die dann banal und auch etwas trivial oder ordinär, weil die meisten Menschen keine intellektuellen Wasserstoffbomben sind, mir inklusive! In der Literatur sprechen die Charaktere aber immer so, als seien das Hochintellektuelle mit poetischem Weitblick.

Ich halte den Text für größtenteils Kitsch. Da wird mit Metaebenen operiert; Texas, klarer Blick, irgendwann schwebt wer irgendetwas entgegen ... ich will mich gar nicht lustig machen, aber es ist schon der Pilcher-Style. Man darf nicht nachfragen, nicht erneut und langsam lesen, denn dann zerbröselt alles und kaum etwas bleibt übrig.

Flash Fiction heißt auch nicht, nur ein kurzer Abriß, sondern die Kunst liegt ja darin, eine komplette Geschichte so einzudampfen, so zu komprimieren, das jedes, wirklich jedes Wort Schwere und Inhalt bekommt, quasi energieeffizient. Das ist hier nicht gegeben.

Gruss, Jimmy

 

Hej @deserted-monkey

Danke für deinen Kommentar, sehr wertvoll für mich, weil das, was ich mit dem Text bewirken wollte, ein schmaler Grat ist.
Zum Thema Kitsch schreibe ich etwas später ausführlich, wenn ich mir etwas klarer darüber bin.
Deshalb auch bevor ich auf den Kommentar von @jimmysalaryman eingehe, erst mal ein Dankeschön, ist schon enorm wichtig, wenn man Texte schreibt, deren Wirkung ungewiss ist.

Ich bin sehr gerne dabei gewesen, habe zusammen mit Anna das Schauspiel der tausenden auffliegenden Fledermäuse beobachtet und wie der schwarze Schleier fiel. Das ist ein sehr schönes Bild! Ich finde auch deine Sprache gelungen, allerdings hatte ich bei der ein oder anderen Passage das Gefühl, der Kitsch- oder Klischee-Alarm gehe los. Beispiele:
ihr Herz fühlte sich leicht an
Erlösung.
Weites Land.
Mit faltiger Haut und klarem Blick.
Du wolltest fliegen. Jetzt darfst du dem Himmel entgegen schweben.
Gerade hier im letzten Zitat: Du wolltest fliegen. Das passt natürlich schön zu 'dem Himmel entgegenschweben', aber es kommt so aus dem Nichts, weil Tom ja komplett im Dunkeln bleibt. Er wollte also fliegen. Wieso, warum, wie? Ich finde, die Aussage würde an Kraft gewinnen, wenn es ein Minimum an Hintergrund gäbe.
Die Stellen. die du genannt hast, habe ich überarbeitet, teilweise gestrichen, außerdem habe ich einen kurzen Dialog zwischen Anna und Tom eingefügt, was ein bisschen mehr Blick auf ihn bzw beide ermöglicht, wie ich hoffe.

Zikaden schreien? Wirklich? Das klingt so hart, dabei ist der Text eher sanft, fliessend.
ja, vielleicht hart, aber für mich klingen sie so, besonderes wenn sie massenweise in den USA auftreten, wie ich es schon erlebt habe.

Also abschliessend: Dem Text gelingt es, dass ich berührt werde, rein durch die Sprache, über die Charaktere erfahre ich ja nichts (auch schwierig in so einem kurzen Stück). Man könnte dem Text folglich vorwerfen, dass er reine Oberfläche ist, wenig Tiefgang hat, und eben auch ein wenig mit seiner Sprache blendet. Nichtsdestotrotz fand ich ihn gelungen und habe das gerne gelesen! Gerade als Momentaufnahme funktioniert die Geschichte für mich gut.
:Pfeif:

Viele Grüße sendet und einen angenehmen Abend wünscht
Isegrims

 

Hallo @Isegrims

Sehr gerne! Danke für deine Rückmeldung. Ich möchte noch kurz etwas Generelles anmerken, was mir bei dieser Story und auch bei deiner letzten, Hydra schweigt, aufgefallen ist: Ich glaube zu wissen, Du bist ein reisebegeisterter Mensch, der viel rumgekommen ist, Du hast das Auge für fremde Länder, aber ich hatte bei dieser und eben auch bei der letzten Story so ein wenig das Gefühl, die in den Geschichten besuchten Orte sind - etwas böse formuliert - nur Kulisse. Also hier haben wir Texas, in der anderen Geschichte wars Almaty, Kasachstan. Du arbeitest hauptsächlich oder fast ausschliesslich mit Bildern, das ist schön zu lesen, aber irgendwie denke ich, das wirkt auch ein wenig austauschbar, also ich würde mir wünschen, Du tauchst da noch etwas tiefer ein, bringst feine Details, die es nur an diesen Orten zu erleben gibt, Gerüche, Gepflogenheiten, wass weiss ich, Dinge, die sich von uns in Europa unterscheiden, da liegt noch viel Potential, finde ich, sodass ich Texas und Almaty nicht nur sehe, sondern diese Orte auch fühle. Bin gespannt, was Du als nächstes machst!

Beste Grüsse,
d-m

 

Hallo @Isegrims,

ich bin unentschlossen. Ich finde, die Bilder die du zeichnest schön. Ich hab ein Bild im Kopf, kann mir die Szenen gut vorstellen, der Text im Allgemeinen war angenehm zu lesen. Aber es gab Stellen, die mich verwirrten bzw. an denen ich nicht ganz verstanden habe, wieso du denen so viel mehr Raum gibst und/oder Zeilen, die ich nicht verstanden habe. Also zu den Anmerkungen.

Der Sommer verblasste über den Hügeln von Texas, als Anna an jenem Abend zum Old Tunnel State Park fuhr. Die Sonne verbrannte die Sträucher am Rand der Straße. Auf dem Parkplatz fand sie den letzten freien Platz. Menschen in Shorts, Familien, Paare, mit Kameras und Kindern an der Hand, strömten zum Aussichtspunkt. Anna ging langsam, hielt sich abseits. Der Rucksack lastete auf ihrem Rücken, aber sie ging mit leichten Schritten. Die Anlage war liebevoll gepflegt, Gräser und Beete strotzten vor Kraft. An einer Stelle war eine Apparatur angebracht, aus der Vögel Wasser saugen konnten. Ein kleiner Vogel mit orangem Gefieder flog wieder und wieder an die Tränke, schwebte in der Luft, vibrierte, stand still, trank und segelte davon. Ein Kolibri, der sich hierher verirrt hatte. Ein Pfad führte durch Gebüsch und Gras, vorbei an kleinwüchsigen Laubbäumen nach unten zu einem verlassenen Eisenbahntunnel. Vor dem Weg und mit Sicht auf das sanfte Tal, befand sich eine Bühne, die fast restlos besetzt war. Jeden Abend zur Dämmerung stürzten sich Hunderttausende Mexican Free-tailed Bats aus dem alten Eisenbahntunnel in den Himmel. Ein Spektakel.
Anna suchte nach etwas anderem, nach den Resten.
Fast ein Drittel des Textes beschäftigt sich mit dem Aufbau des ersten Bildes, an dem ich als Leser dann aber gar nicht hängen bleiben soll. Anna sucht ja nach etwas anderem, sie geht wo anders hin. Der Ort, an den sie dann geht – der Seitenpfad mit dem Baum ist dagegen sehr minimalistisch beschrieben. Warum diese Entscheidung?

An einer Stelle war eine Apparatur angebracht, aus der Vögel Wasser saugen konnten.
So weit ich das jetzt im Kopf habe, saugen Vögel kein Wasser, sie schöpfen es viel mehr in ihre Schnäbel. Ich weiß gar nicht, ob Vögel überhaupt saugen können.

Er hatte gesagt: „Wenn wir alt sind, kommen wir hierher zurück. Weißt du, dass Fledermäuse Menschen gleichen.“
„Quatsch. Fliegen halt anders wie Vögel.“-
Zwischen dem ersten Satz und dem zweiten ist ein doppelter Absatz, ist der gewollt?
Zum Dialog selbst: Den verstehe ich nicht, was jetzt nichts heißen muss. Aber ich hab nicht verstanden, warum die Antwort auf "Fledermäuse sind wie Menschen" "Fliegen halt anders wie Vögel" ist und warum dann er sagt, dass sie in der Luft stehen können, was ja ihrer Aussage irgendwie untermalt, trotzdem meint sie dann: "Ach meinst du?" - wegen dem Luftkünstler, vermutlich? und dann sagt er, dass er auch so fliegen will. Also ich weiß nicht, klar, wird Menschen geben, die auch solche Gespräche führen. Ich hab's halt von der Dialoglogik absolut nicht geschnallt.

Nachdem Tom in den Flammen seines Wagens verbrannt war, kehrte er verwandelt zurück.
Den Satz fand ich sehr schön. Ich glaub, das ist sogar mein Lieblingssatz.

Nach und nach verloren die Farben des Himmels ihre Kraft. Aus der Dunkelheit ins Licht. Ewiges Wechselspiel.
Hier verstehe ich das "Aus der Dunkelheit ins Licht" nicht. Ist das allgemein gemeint, weil danach das mit dem Wechselspiel kommt, dass sie am Tag dann quasi "wiedergeboren" werden, die Farben? Erzähltechnisch fand ich es ein wenig unglücklich, weil eben erst die Sonne untergeht. In meinem Kopf sind die Farben also grade eig. erst in die Dunkelheit verschwunden und nicht von der Dunkelheit ins Licht gekommen.

Das Wehen der beginnenden Nacht blieb zurück mitsamt der Erwartung, dass das Schauspiel beginnt.
Ist hier mit dem "Wehen der beginnenden Nacht" ein Luftzug gemeint oder der Geburtsschmerz? Konnte ich nicht einordnen.

Anna weinte nicht. Sie lachte leise.
"Siehst du das, Tom? Du wolltest doch fliegen.“
Hier hab ich noch mal gelesen, aber ich bin mir nicht sicher, öffnet sie grade die Urne und lässt seine Asche fliegen oder inwiefern fliegt er? Ist das der "Schleier" der fällt, seine Asche?

Zikaden schrieen.
Und weil ich den Kommentar von @deserted-monkey gelesen habe – mir war "schreien" auch ein wenig zu heavy. Vielleicht zirpen. Ich mein, ja, dass ist die gängige Phrase, aber Zikaden zirpen halt. Und das klingt auch nicht so hart. Ich hab da immer gleich eine Sommernacht im Kopf, wenn ich an zirpende Zikaden denke.

So viel zu meinem Senf,
hoffe, du kannst damit was anfangen.

LG Luzifermortus

 

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