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Schwarze Schleier
Der Sommer verblasste über den Hügeln von Texas, die Gluttage wichen dem nahen Herbst, als Anna an jenem Abend zum Old Tunnel State Park fuhr. Die Sonne verbrannte die Sträucher am Rand der Straße. Auf dem Parkplatz fand sie den letzten freien Platz.
Menschen in Shorts, Familien, Paare, mit Kameras und Kindern an der Hand, strömten zum Aussichtspunkt.
Anna ging langsam, hielt sich abseits. Der Rucksack lastete auf ihrem Rücken, doch ihre Schritte waren leicht.
Die Anlage war liebevoll gepflegt, Gräser und Beete strotzten vor Kraft.
An einer Stelle war eine Apparatur angebracht, aus der Vögel Wasser saugen konnten.
Ein kleiner Vogel mit orangem Gefieder flog wieder und wieder an die Tränke, schwebte in der Luft, vibrierte, stand still, trank und segelte davon. Ein Kolibri, der sich hierher verirrt hatte.
Ein Pfad führte durch Gebüsch und Gras, vorbei an kleinwüchsigen Laubbäumen hinunter zu einem verlassenen Eisenbahntunnel.
Vor dem Weg und mit Sicht auf das sanfte Tal befand sich eine Bühne, fast restlos besetzt.
Jeden Abend zur Dämmerung stürzten sich Hunderttausende Mexican Free-tailed Bats aus dem alten Tunnel in den Himmel.
Ein Spektakel. Tom hatte es geliebt. Ein Jahr war es her. Besuch entfernter Verwandter in Fredericksburg, nördlich von San Antonio. Eine merkwürdig deutsch geprägte Stadt: Biergärten, Fachwerkkirche, Main Street. Texas Hill Country. Sanfte Hügel statt endloser Ranches. Zwischen den Feldern nickten die pumpjacks im immergleichen Rhythmus, stumme Wächter der Ölfelder. Freies Land gab es nur in den Parks. So funktioniert es hier.
Anna suchte nach etwas anderem, nach den Resten. Erinnerungen. An diesem Ort.
Anna und Tom. Pures Glück. Vor einem Jahr. Letzter Urlaub. Don’t mess with Texas. Rodeo. Pferde. The Alamo.
Letztes Lächeln. Bruchstücke des Schreckens, tief im Herzen vergraben.
Er hatte gesagt: „Wenn wir alt sind, kommen wir hierher zurück. Weißt du, dass Fledermäuse Menschen gleichen?“
„Quatsch. Fliegen halt anders wie Vögel.“
„Die können abrupt abdrehen, Künstler der Lüfte.“
„Ach, das meinst du.“
„So möchte ich fliegen lernen.“
„Spinner.“
Als die Rangerin ihre Ansprache begann, schlich sich Anna den Seitenpfad hinab. Niemand beachtete sie.
Im Schatten der Bäume stellte sie Toms Urne neben einen verwitterten Findling und öffnete sie.
Nachdem Tom in den Flammen seines Wagens verbrannt war, kehrte er verwandelt zurück.
Die Urne hatte eine glatte Oberfläche. Zikaden schrillten.
Der Himmel färbte sich violett. Nach und nach verloren die Farben ihre Kraft.
Aus der Dunkelheit ins Licht. Ewiges Wechselspiel.
Die Stimmen der Menschen verstummten. Das Wehen der Nacht blieb zurück mitsamt der Erwartung, dass das Schauspiel beginnt.
Ein tiefes, pulsierendes Rauschen setzte ein, wie Sommerregen.
Gleichzeitig füllte sich der Himmel mit Leben. Die Fledermäuse stiegen auf.
Schwarze Schleier brandeten gegen das Licht. Tausende. Zehntausende.
In Spiralen, wie Rauch, wie Geister, wie Gedanken, die man nicht loswird.
Anna weinte nicht. Sie lachte leise.
„Siehst du das, Tom? Du wolltest doch fliegen.“
Als der letzte Schatten über den Himmel huschte, ging sie den Pfad zurück, ohne sich umzudrehen.
Ein leiser Frieden. Der Schleier war gefallen.