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Schweigen ist Gold
Während das Flugzeug abstürzt, frage ich mich, ob die Stewardess auf mich steht.
Vorhin, als sie mir die knisternde Erdnusstüte in die Hand drückte, ganz sanft, mit niedergeschlagenem Blick, war mir, als tue sich ein alternatives Universum zwischen uns auf.
Könnten wir eine Fernbeziehung führen? Bei der wir uns in verschiedenen Ländern trafen? Würden unsere Kinder schön sein? Dunkel und exotisch wie sie? Groß und schlank wie ich? Hätten wir sie zweisprachig erzogen? Ist ihr der Terminus Flugbegleiterin lieber?
Bitte, hatte sie mit südländischem Akzent geflüstert, als sich unsere Hände berührten. Mehr nicht. Nur … Bitte.
Ich sah ihr dabei tief in die Augen und nickte verliebt.
Eigentlich perfekt. Und doch, jetzt, da wir beide auf den Tod zurasen, wünsche ich mir, ich hätte mehr getan.
Ringsum herrscht Chaos. Alles blinkt und ruckelt. Links neben mir sitzt ein Türke mittleren Alters mit einem dichten Schnurrbart. Er trägt einen grauen Anzug und strahlt etwas Würdevolles aus. Er hält einen Koran in der Hand und betet mit zugepressten Augen. Kurz frage ich mich, ob Allah was mit diesem Flugzeugabsturz zu tun hat. Gleichzeitig finde ich es schade, dass ich keinen Gott habe, zu dem ich beten kann. Mein Glaube wird von der Wissenschaft geprägt: Die Schwerkraft der Erde zieht das Flugzeug nach unten.
Was bringt mir dieser Gedanke jetzt?
Ich bin kurz davor, den würdevollen Türken zu fragen, ob ich seine Hand halten darf. Würde er das zulassen?
Ich wage einen Blick aus dem Fenster und sehe die Erde näherkommen. Mich packt der Drang, zu schreien, nur weiß ich gar nicht mehr, wie das geht. Wann habe ich das letzte Mal richtig geschrien? Ich kriege keinen Ton heraus, spüre nur, wie sich mein Mund verzieht.
Die Ohnmacht schlägt in Wut um: ich bin wütend auf die Flug-Industrie, ich bin wütend auf den Türken, dessen Gott nicht für mich da ist, ich bin wütend auf die Gesetze der Physik, und ich bin wütend auf mich selbst: Hätte ich der schönen Stewardess doch gesagt, wie schön sie ist…
Ich höre den türkischen Herrn aufatmen. Er steckt den Koran ein, holt ein weißes Tuch aus der Jackentasche hervor und reibt sich damit übers Gesicht.
Wir sind gelandet. Der Pilot entschuldigt sich über die Sprechanlage mehrmals für die „Inconveniences“ und fragt, ob es allen gut geht.
Schon holen die ersten Passagiere ihr Handgepäck aus den Fächern, ganz so, als wäre nichts passiert. Der Türke und ich trennen uns nach sieben Stunden Flug, ohne ein Wort gewechselt zu haben. Kurz bevor er den Gang entlang verschwindet, nickt er mir würdevoll zu. Ich erwidere die Geste und bleibe sitzen.
Als Letzter hole ich meinen Koffer aus dem Fach. Langsam bewege ich mich zum Ausgang. Der Pilot steht da, sichtlich mitgenommen, zwischen zwei Stewardessen – die rechte ist meine.
„Thank you for flying with Easy-Wings!“, sagt sie mit einem breiten Lächeln. Ihr Lippenstift hat die Farbe von Wein, und ihre Augen sprechen die Sprache unseres gemeinsamen alternativen Universums.
Ich bleibe verdutzt vor ihr stehen, sehe sie an und spüre, wie meine Zunge brennt. Eine ganze Sekunde lang stehe ich einfach da. Vielleicht sogar zwei. Sie lächelt weiter, während der Pilot sich verlegen über den Nacken fährt.
Und dann bin ich weg, ohne ein Wort zu sagen. Zurück auf der Erde. Ich gehe die Gangway hinab, spüre festen Boden unter den Füßen. Eine kühle Nordsee-Brise weht mir ins Gesicht, und ich atme tief ein. Ich hole mein Handy aus der Tasche, drücke mein Kinn auf die Brust und denke: Alles richtig gemacht.