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Schwerelos
Wir laufen der Sonne entgegen. Sie hat den Höhepunkt längst überschritten, nähert sich Stück für Stück dem Horizont und schickt ihre weichen Strahlen über die Strandpromenade. Ein leichter Wind streicht über die Haut, kühlt unsere glühenden Gesichter, verfängt sich in den Haaren. Er riecht nach Sonnencreme.
Ich nippe an der Flasche, fühle den Rum die Kehle hinablaufen, die mulmigen Spuren in meinem Bauch. Wir folgen dem gepflasterten Weg schon eine ganze Weile. Vorbei an Menschen, vom Sonnenbad verbrannt, die unter den Strohdächern der kleinen Bars Schutz suchen, sich bunte Drinks bestellen, voll mit Eiswürfeln, die bei jeder Bewegung klirrend aneinanderstoßen.
„Ach du Scheiße, die ist ja knallrot.“ Meine Freundin zeigt auf eine ältere Dame, die sich auf einen Barhocker hievt. „Warte mal kurz.“ Sie geht auf die Strandbar zu, kramt in ihrer Handtasche und drückt der Dame eine kleine Tube in die Hand. Mir wird ganz warm im Bauch.
Sie kommt zurück und schnappt sich den Rum.
„Du bist toll“, sage ich.
„Du aber auch.“ Sie zwinkert mir zu.
„Hm.“
„Das weißt du doch, oder?“
Ich lecke mir über die Lippen, schmecke das Meer. Ein junges Paar schlendert an uns vorbei. Ich betrachte die Gesichter der beiden Verliebten, die unbeschwerten Gesten, lausche ihrem Gespräch, so als könnten sie mir Worte leihen, die ich gerade nicht finden kann.
„Hey, schau mich an!“
Da ist er wieder, dieser Blick. In ihm liegt etwas, das mich fertig macht. Andere würden ihn empathisch nennen, aufmerksam oder beschützend. Mich erdrückt er. Er gibt mir das Gefühl, kaputt zu sein. Ich weiß, meine Freundin meint es nur gut. Alle meinen es nur gut. Aber ich will, dass sie mich ansehen wie früher.
„Was denn?“
„Lass dir nichts anderes einreden, hörst du? Vor allem – red dir selbst nichts anderes ein.“
„Schon gut. Ich bin toll.“
„Geht doch!“
Wir passieren ein Hotel nach dem anderen, aus manchen tönt laute Musik, aus anderen wehen leise Klaviermelodien hinaus aufs funkelnde Meer.
Mein Kopf hängt in einer Wolke, sanft liegt sie auf meinen Schultern. Sie lullt mich ein, lässt die Konturen um mich herum verschwimmen, alles ist ein bisschen weicher als sonst. Die Gedanken bewegen sich frei, geschmeidig. Sie scheinen zufrieden zu sein.
Der Schatten hat von mir abgelassen mit seiner Schwere, seinen Vorwürfen. Manchmal denke ich noch an ihn, wie er hinter mir lauert, aber wenn ich mich umdrehe, sehe ich nur den gepflasterten Weg, der sich am Strand entlangschlängelt und unter der Hitze flimmert.
Immer wieder halten wir inne, setzen uns auf eine Bank und beobachten Kinder, die Bällen hinterherjagen, Sonnenschirme, die im Wind flattern oder Hunde, die im Sand herumflitzen.
„Fühlt sich an, als wären wir schon ewig hier“, sagt meine Freundin.
„Stimmt.“ Ich nehme noch einen Schluck Rum. „München ist weit weg.“
„Nur München?“
Vor uns landet ein knallgelbes Frisbee, ein Mann kommt schnaufend auf uns zu, hebt es auf und wirft es seinem Sohn zu.
„Wollen wir weiter? Sonst fängt die Party noch ohne uns an.“
Der dumpfe Beat wummert über den Strand. Ich stelle mir vor, wie die Sandkörner bei jedem Schlag in die Luft hüpfen. Vor dem Haupteingang zum Hotel hat sich eine Schlange gebildet. Wir reihen uns ein. Ich beobachte die beiden Türsteher, die mit ernsten Gesichtern die Taschen kontrollieren. Sehe im Hintergrund die tanzenden Menschen am Pool. Ich drücke die Hand meiner Freundin.
„Das wird mega!“
Sie erwidert den Druck und lächelt.
Die Türsteher nicken uns zu, werfen einen kurzen Blick in unsere Taschen und winken uns durch. Wir laufen durch einen Rundbogen und betreten die riesige Poollandschaft. Zwischen Palmen sind kleine und große Becken verteilt und durch Brücken miteinander verbunden. Am Kopf der Tanzfläche thront der DJ auf einer Bühne.
Ich weiß gar nicht, wohin ich zuerst schauen soll. Um uns herum tanzen junge Mädchen in kurzen Shorts und Bikinioberteilen, Männer in Bademänteln, Frauen in weißen, gehäkelten Kleidern, Betrunkene in Schwimmreifen. Wie ein Sog zieht uns die Menge zu sich. Wir treiben durch den Trubel, lächeln in verschwitzte Gesichter. Der Boden vibriert, der fette Bass wandert meine Beine hinauf, drückt auf meinen Brustkorb, bis mein Herz im Rhythmus der Musik schlägt.
Wir lachen, werfen die Arme in die Luft, werden Teil der tanzenden Menge, verschmelzen mit Fremden, drehen uns umeinander, springen im gleichen Takt, wir atmen gemeinsam, atmen diesen Augenblick.
Ein Knattern vermischt sich mit den harten Schlägen, die aus den Boxen dröhnen. Alle sehen in den Himmel hinauf zu dem Hubschrauber, der über die Party fliegt, die kreisenden Rotorblätter spiegeln sich zitternd in tausend glänzenden Augen. Wir strecken ihm die Hände entgegen, schreien, jubeln ihm zu, bis sich unsere Stimmen überschlagen. Wir fühlen uns vogelfrei, als würden wir mit ihm durch die Luft fliegen, unter uns die feiernde Masse, der feine Sand und das türkisblaue Meer, geküsst von der untergehenden Sonne.
Kanonen schießen Konfetti in die Luft. Ich schließe die Augen, spüre die winzigen Papierschnipsel auf Gesicht und Schultern rieseln, Gänsehaut jagt mir vom Rücken bis in den Nacken hinauf.
„Alles okay?“, schreit mir meine Freundin ins Ohr und legt den Arm um mich.
Ich öffne die Augen, sehe ein wenig verschwommen. „Das ist unfassbar!“
Sie drückt mich an sich. „Ich hab’s dir doch gesagt.“
„Was?“
„Du musst loslassen. Du musst endlich loslassen!“
Vor uns gehen die Scheinwerfer an. Rotes Licht übergießt die tanzende Menge. Grüne Laserstrahlen durchschneiden die Abenddämmerung, malen Muster in die Luft. Der DJ brüllt ins Mikrofon, wir lachen und grölen und springen. Ich tanze, drehe mich im Kreis, sehe in den Himmel, die ersten Sterne leuchten im dunklen Blau.
Ich spreche deinen Namen aus, flüstere ihn erst, sage ihn ein wenig lauter, noch einmal und noch lauter. Bis ich ihn schreie. Ich schreie ihn hinaus in die Nacht, sehe ihm nach. Der stampfende Bass zersetzt ihn in seine Einzelteile, sie verlieren sich zwischen blitzenden Lichtern, wirbeln umher, bis sie der Wind hinausträgt aufs Meer.
Die Wörter waren: Hubschrauber, Sonnenbad, vogelfrei, zersetzt, empathisch