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Sechsundachtzig

Seniors
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27.08.2007
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Sechsundachtzig

Die Frau hinter dem BA Abfertigungsschalter arbeitet sowas von langsam, dass ich schon gar nicht mehr hinsehen kann. Um mich herum drängen sich die Reisenden mit ihren Koffern, angespannt und schon vor dem Flug erschöpft vom langem Herumstehen. Der Flug nach London heute Morgen wurde storniert und jetzt versuchen sie offenbar, alle Passagiere in die Mittagsmaschine zu laden. Aber ich habe schließlich meine Mutter im Rollstuhl neben mir. Wenn sie mich umbuchen wollen, werde ich mich einfach weigern.
Die Frau tippt immer noch im Computer herum und starrt konzentriert auf den Bildschirm. Sie sieht müde aus und ihre Jacke hat einen hellen Fleck. Ich schätze sie auf Mitte vierzig, jünger als ich, aber trotzdem sieht sie ein bisschen verlebt aus. Warum haben sie bei British Airways neuerdings solche überalterten, korpulenten Angestellten? Wo sind die traumhaft schönen Stewardessen meiner Jugend hin? Die mit dem strahlenden Lächeln und der unerschütterlichen Freundlichkeit? Sie sind verschwunden und von gereizten Flugbegleiterinnen ersetzt worden, die aussehen, wie man selber, manchmal noch schlimmer.
„Was ist denn nun mit dem Rollstuhl?”, herrsche ich sie schließlich an.
„Darum kümmert sich das Personal in London, keine Sorge.”
Sie blickt nicht einmal auf. Heiße kleine Wellen steigen in mir auf, Wellen der Wut und der Aggression.
„Hören Sie, auf dem Flug nach Berlin hat sich eben niemand darum gekümmert, deswegen frage ich ja! Wir mussten ewig im Flugzeug warten, bis sie den Rollstuhl an den Eingang brachten. Das will ich wirklich nicht noch einmal erleben, meine Mutter ist sechsundachtzig.”
„Ich weiß. Steht in den Unterlagen.”

Sie hackt ungerührt weiter auf dem Computer herum. Ich versuche, mich abzulenken und schaue auf die flackernden Anzeigen mit Billigflugangeboten. Nach Barcelona, Lissabon, wo immer normale Menschen im Sommer hinfliegen, wo wahrscheinlich alle Leute hier hinwollen, mit ihren sperrigen Gepäckstücken und ihren Plastiktüten, die sie folgsam in den Händen tragen. Plastiktüten mit kleinen Flaschen voller Wasser, Babymilch und Medizin. Als ob das irgendeinen Terroristen, der sein Handwerk versteht, abschrecken würde.


Seit heute früh um sechs sind wir schon unterwegs, Mutter und ich. Normalerweise verbringe ich den Sommer mit Fred in Dorset oder zumindest auf meiner Terrasse in meinem schönen Haus in Richmond. Dieses Jahr allerdings hat mir mein Bruder einen Strich durch die Rechnung gemacht.
„Du musst Mutti diesen Sommer nehmen”, meinte er am Telefon „Du weißt doch, dass wir unten ausbauen wollen, da kann sie nicht bei uns bleiben.”
Ich dachte erst, er macht einen Witz.
„Spinnst du? Ich muss arbeiten!”
„Das muss ich auch. Sie ist auch deine Mutter.”
Dagegen konnte ich nichts sagen und das wusste er genau. Natürlich ist sie auch meine Mutter, aber ich lebe schließlich in London, ich kann meinen Job nicht einfach sausenlassen, nur weil er seine untere Etage ausbauen will. Aber mein Bruder versteht nicht, wie meine Arbeit funktioniert.
„Du bist doch selbständig” sagt er immer, „du kannst dir doch deine Zeit einteilen.”
Das mag ja sein, aber als Maklerin muss man immer dranbleiben, sonst schnappt einem gleich jemand etwas weg. Der Markt ist wie ein Haifischbecken und alle lauern auf die Schmäckerchen, auf die wirklich teuren, schicken Villen. Je teurer das Haus, umso höher der Profit.
Manchmal trifft man auch Prominente, die in die Riesenvillen ziehen wollen. Am liebsten aber sind mir die Eltern schulpflichtiger Kinder, die in ein bestimmtes Schuleinzugsgebiet ziehen wollen. Da hat man im Nu einen Verkauf unter Dach und Fach. Die nehmen jede Bruchbude, wenn sie nur in der richtigen Straße ist. Sie kaufen sogar ein Haus, ohne es vorher gesehen zu haben, auch wenn es winzig ist, auch wenn sie den Rest ihres Lebens damit verbringen werden, ihre Häuser nach oben, unten und zur Seite hin zu erweitern, bis sie bald aus allen Nähten platzen.


„So, da haben wir alles”, meldet sich nun die Frau von BA mit einem routinierten Lächeln wieder.
„Den Rollstuhl geben sie am Einstieg ab und bekommen ihn dann in London wieder.”
Ich verkneife mir ein „hoffentlich”, raffe all die Zettel und Pässe zusammen und stopfe sie in die Handtasche. Bloß weg hier.
„Sind wir fertig, Doro?”, fragt Mutter.
„Ja, endlich. Du wirst sehen, es wird diesmal besser klappen, die Frau hat es uns versprochen.”
Ich schiebe Mutters Rollstuhl vor mir her und fange dabei den freundlichen Blick einer jungen Frau mit Kinderwagen auf. Wir beide, scheint ihr Blick zu sagen, wir beide haben es schon nicht leicht, mit unserer umständlichen Fracht zu fliegen. Sie nickt mir zu, aber ich nicke nicht zurück.
Du hast ja keine Ahnung. Keine Ahnung wie das ist, wenn dein Baby sechsundachtzig ist und siebzig Kilo wiegt und immer einmacht, wenn du es nicht in einer Nanosekunde zur Toilette schaffst.
Keine Ahnung hast du. Niemand beugt sich gurrend über den Rollstuhl und sagt „ach wie süß”, und es gibt auch keine Wickeltische für Erwachsene, wo man alles diskret und schnell erledigen könnte.
Wie auf Kommando meldet sich nun Mutter.
„Ich muss mal, Kind”, sagt sie in dieser demütigen Stimme, die sie immer bei dem Thema draufhat.
Als ob da was dabei wäre. Mutter ist es peinlich, mir ist es eigentlich nur lästig, auch wenn es eine Prozedur und ein Kraftakt ist, der mich jedes Mal ins Schwitzen bringt. Bei meinem Bruder im Haus haben sie Haltegriffe an die Wand im Bad montiert und die Tür verbreitert und meiner tüchtigen Schwägerin macht es auch nichts aus, Mutter hundertmal am Tag aufs Klo zu führen, sie ist ja ohnehin den ganzen Tag zu Hause.
„Kannst du die Brille nochmal abwischen, Doro?”
„Aber das habe ich doch gerade gemacht.”
„Bitte mach es nochmal, man weiß doch nie bei diesen öffentlichen Toiletten, das ist mir so eklig.”
Ich wische die Klobrille zum dritten Mal ab, während Mutter halb steht und halb kniet und angestrengt nach unten guckt. Ich verstehe nicht, warum sie so etepetete ist - meistens macht sie die Klobrille ja sowieso gleich wieder dreckig.
„Du hättest wirklich für die Reise die Windelhosen nehmen können Mama, da ist doch nichts dabei. Das sieht doch niemand!”
„Und ob da was dabei ist!”
Mutter zerrt an ihrer Unterwäsche herum und tut so, als ob sie alles selber kann, aber wie immer muss ich ihr letztendlich helfen. Dann muss sie noch eine Beruhigungstablette nehmen und einen Schluck Wasser trinken, während ich mich im Spiegel anschaue.
Trotz meiner Erschöpfung sehe ich ganz gut aus. Ganz gut für dreiundfünfzig. Ich bin schlank und gepflegt und habe das Auftreten einer Frau von Welt, wie Mutter immer sagt. Heute allerdings weniger, ich pflüge ohne Rücksicht auf Verluste den Rollstuhl durch die Menschenmassen. Anders kommt man hier nicht vorwärts.
„Vorsicht, Doro!”, ruft Mutter, aber ich habe heute keine Nerven für Förmlichkeiten.
„Bitte Platz machen!”
Zwei Türkinnen springen erschrocken zur Seite. Zurück am Flugsteig können wir gleich durch die Kontrolle gehen. Das heißt, ich gehe, und dann schiebe und stütze ich Mutter, lasse sie durch den Sensor tappeln und gucke, ob sie auch jemand am anderen Ende auffängt. Sechsundachtzig oder nicht, auch sie muss sich abtasten lassen.
Die Flughafenbeamtin verzieht keine Miene. Ihr Tag besteht aus endlosen Bäuchen und Rücken, aus Gürteln, die abgemacht werden müssen, aus Schweißfüßen, die aus Schuhen herausgeholt werden, aus Schlüsseln, die in Taschen stecken und das Gerät anschlagen lassen.


Kaum sind wir durch die Kontrolle durch, knackt der Lautsprecher und verkündet eine Stunde Verspätung.
Ich fasse es nicht. Heute klappt aber auch gar nichts. Wir sitzen gefangen am Flugsteig, können weder rein noch raus.
„Wird es dir denn auch nicht zu viel werden, Doro?”
Als ob meine Antwort jetzt noch irgendetwas ändern könnte. Bereits vor zwei Monaten wurde mehr oder weniger ohne mein Zutun beschlossen, dass ich Mutter für vier Wochen nach London hole, wo sich tagsüber dann eine bezahlte Betreuung um sie kümmert. Abends, wenn ich nach Hause komme, soll ich dann übernehmen.
„Viel Spaß ihr beiden!”, hat uns doch mein Bruder tatsächlich hinterhergerufen, so, als ob er uns ins Sommerlager schickt
„Aber gar nicht, Mama, es ist doch auch schön, dass du siehst, wie ich jetzt wohne.”
Es ist ein halbherziger Versuch von mir, der Sache etwas Positives abzugewinnen. Mutter war das letzte Mal vor 14 Jahren bei mir, als sie noch reisen konnte. Sie kennt mein jetziges Haus nicht und sie ist das perfekte Publikum, der Gast, den man beeindrucken kann.
„Du wirst sehen, es wird dir gefallen. Der Garten hat eine große Sitzecke, da kannst du den Tag verbringen und lesen und wenn ich heimkomme, koche ich uns was Leckeres.”
Es klingt so gut, so idyllisch, dass ich es fast selber glaube.
„Gibt es denn viele Treppen bei dir?”
„Ja, eine, aber du musst ja gar nicht nach oben, das Gästezimmer ist unten. Die Betreuung ist doch auch noch da.”
Mir fällt ein, dass die Betreuung aller Wahrscheinlichkeit nach kein Deutsch kann und dass Mutter auch nicht mehr selber liest, sondern nur noch vorgelesen bekommt.
Offenbar denkt Mutter gerade dasselbe.
„Werde ich sie denn auch verstehen?”
„Natürlich Mama, du kannst doch gut Englisch.”
„Na, ich weiß nicht, wenn sie so Cockiny redet, verstehe ich sicher nichts.”
„Es heißt Cockney Mama, und das redet sie bestimmt nicht.”
Hoffentlich nicht.
Mutter wühlt in ihrer Handtasche.
„Meine Tabletten, Doro, wo sind die denn, ich dachte, wir hätten sie eingepackt?”
„Natürlich haben wir sie eingepackt.”
Ich greife mir die Handtasche und suche mit einer Hand darin herum.
„Du hattest sie doch vorhin noch auf dem Klo!”
Mein Herz setzt eine Sekunde lang aus. Auf dem Klo. Auf dem gottverdammten Klo, wo die Pillendose sicher immer noch steht, falls sie nicht ein Junkie mitgenommen hat.
Wortlos stehe ich auf und gehe zur Abfertigung zurück.
„Wir haben draußen etwas vergessen, könnte ich bitte noch mal rausgehen?”
Der Mann schaut mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Sein fleischiger Arm weist auf die nicht enden wollende Menschenschlange, die immer noch darauf wartet, durch den Sensor zu gehen.
„Gute Frau, das geht nun wirklich nicht!”
Er spricht extra langsam und laut, in einer für Idioten und Kleinkinder reservierten Stimme.
„Da müssen Sie ja noch mal komplett hier durchchecken”, er spricht es aus wie ‚Eierschecke‘, „und dann geht’s ja hier auch gleich los, nich‘?”
Ich kapituliere.
„Mama, wir müssen dir die Tabletten in England neu besorgen, das ist kein Problem, können wir heute Abend noch machen.”
„Was?”
„Wir kaufen die Tabletten heute Abend in London.”
Sie guckt mich misstrauisch von der Seite an. Es wird ja wohl selbst in dem maroden britischen Gesundheitssystem nicht so schwer sein, die paar Kreislauftropfen und Augentropfen aufzutreiben.
„Kindchen …”
„Ja Mama?”
„Ich glaube, ich müsste noch mal.”


Erwartungsgemäß legen wir den ganzen Einstiegsverkehr lahm, als es endlich so weit ist. Die Stewardessen helfen Mutter gelassen, sie habe schon Gott weiß was alles gesehen.
Aus den Augenwinkeln heraus kann ich sehen, wie hinter mir ein paar Geschäftsmänner demonstrativ auf die Uhr gucken. Mutter tappelt vorsichtig an ihrem Stock vorwärts, zentimeterweise und langsam.
„Ja Vorsicht, hier lang!”, ruft ein Steward auf Englisch, den ich erst jetzt bemerke. Er versucht, Mutter zu helfen und will sie ein bisschen schieben, er weiß nicht, dass er sie dadurch erst recht ins Wanken bringt.
„Nicht schieben!”, rufe ich ängstlich.
„Sorry!” Er wirft seine Hände theatralisch in die Luft und wendet sich demonstrativ dem Passagier hinter mir zu.
Als wir endlich an unserem Platz sind, ist Mutter erschöpft und blinzelt benommen vor sich hin. Ihre Haut glänzt vor Anstrengung und ihre rechte Hand zittert wie unter Strom. Sie tut mir so leid, es muss furchtbar sein, wenn man derart eingeschränkt ist. Ich werde sie beschützen, nehme ich mir vor.
„Excuse me!”
Ein Mann quetscht sich an uns vorbei und setzt sich auf den Fensterplatz neben mir. Es ist doch tatsächlich jeder Sitz ausgebucht und meine Hoffnung auf ein bisschen mehr Platz kann ich wohl nun begraben. Der Mann zieht sofort die “Financial Times” aus der Tasche und spannt sie wie einen Schirm zwischen uns auf, als Schutzschild gegen etwaige Gespräche, Gerüche oder gar Bitten um Hilfe.
„Arschloch!”, denke ich wütend.
Meine Laune wird immer miserabler. Ich habe Wut und möchte einen Streit anfangen mit diesem Wichtigtuer und seiner Zeitung, aber am allermeisten bin ich voller Neid auf alle die anderen, die hier so sorglos reisen können.
Alle die, welche fröhlich plappernd ihre Taschenbücher heraus kramen, so wie die rothaarige junge Frau da drüben. Sie wedelt aufgeregt mit einem Londoner Stadtplan, macht irgendwelche Kreuzchen hinein und plant schon ihre Route.
Ich wende mich ab. Das war einmal. Auch ich bin mal als aufgeregte junge Frau mit Stadtplan durch London gezogen. Zwanzig Jahre später bin ich immer noch dort, habe tausend Termine, die mir unter den Nägeln brennen und jetzt auch noch eine inkontinente Mutter, die ich dorthin schaffen muss. Seufzend lehne ich mich im Sitz zurück.
Die Augen meiner Mutter sind tränenverschleiert.
„Was hast du denn, Mama?”, frage ich erschrocken.
„Es ist nicht zu glauben, dass …”
„Was denn?”
„Das alles hier.” Sie zeigt auf die Sitze, den kleinen Ausklapptisch, das Fenster.
„Ich verstehe nicht, was du meinst.”
„Dass ich noch mal fliege, noch mal zu dir komme, ich …”
Ein Schluchzen erstickt ihre Stimme. Ich lege ihr schnell die Hand auf den Arm. Jetzt bloß nicht sentimental werden, bloß nicht anfangen zu weinen.
„Ist schon gut, Mama, ich freue mich doch auch sehr."
Ich meine es ehrlich.


Trotzdem bin ich erleichtert, als nun die üblichen Abflugszeremonien losgehen, das Aufleuchten und Anschnallen, die pantomimischen Darbietungen der Flugbegleiter und die joviale Begrüßung durch den Piloten. Er wünscht uns allen einen guten Flug und hofft, dass wir bald starten können. Es klingt ein bisschen, als säßen wir alle da vorn im Cockpit und drückten gemeinsam auf den Starthebel. Als wären wir alle zu einem lustigen Klassenausflug im Vergnügungspark. Mutter beruhigt sich etwas und schläft ein.
Mit einem Rums steht der Essenwagen neben unserer Reihe und der empfindliche Steward von vorhin knallt ein Tablett mit Essen vor uns hin.
„Was gibt es denn?” fragt Mutter ängstlich.
„Sandwich und Salat, ich schneide es dir klein.”
Ich ziehe das Besteck aus der Hülle. An der Gabel kleben verkrustete Speisereste.
„Entschuldigung”, sage ich auf Englisch zu dem vorbeilaufenden Steward, „könnten wir eine neue Gabel bekommen, diese hier ist schmutzig.”
“Natürlich!”
Er lächelt angestrengt. Was ist dir nur für eine Laus über die Leber gelaufen, frage ich mich verärgert. Ich warte auf die neue Gabel und schneide das Sandwich in kleine Häppchen. In diesem Moment ist es für mich unvorstellbar, dass Mutters zittrige Hand vor fünfzig Jahren dasselbe für mich getan hat. Kleine Häppchen und kleine Breichen, wie doch das Ende unseres Lebens dem Anfang immer ähnlicher wird. Der Steward läuft mehrmals an uns vorbei.
„Entschuldigung!” Er hört mich nicht.
“Hallo!”
Langsam reicht mir das hier.
„Meine Gabel bitte!”
Er macht auf dem Absatz kehrt, greift nach hinten und holt von irgendwoher eine neue Gabel hervor.
„Madam!”
Er reicht mir die Gabel ohne mich anzuschauen, er gibt mir zu verstehen, dass er zu tun hat, dass er unabkömmlich ist.
Der Mann neben mir schafft es, gleichzeitig sein Mittagessen zu verzehren und seine Riesenzeitung zu lesen. Nur einmal blickt er kurz auf und bellt „Tee!”als Antwort auf die Frage, ob er Tee oder Kaffee möchte. An einem anderen Tag, zu einem anderen Zeitpunkt würde ich ihn wohl skurril finden, typisch englisch, heute finde ich ihn nur unhöflich.
Es ist stickig, die Luft ist verbraucht und der alberne kleine Ventilator über meinem Kopf ist kaputt.
Dafür ist der Kaffee kalt und ich muss mich wohl oder übel wieder an den Steward wenden.
„Der Kaffee ist kalt”
„Wie bitte?”
‚Der Kaffee ist kalt”
„Es gibt noch Tee”, antwortet er in die Luft hinein. „Das ist der einzige Kaffee, den wir haben. Tut mir so leid.”
Es klingt sarkastisch. Ich kann spüren, dass er genauso geladen ist wie ich und meine angestaute Wut entlädt sich nun auf diesen hochnäsigen Steward mitsamt seinem kalten Kaffee.
„Es ist doch wohl das Mindeste”, keife ich in einer mir völlig neuen Altfrauenstimme, „dass die Gabeln sauber und der Kaffee heiß ist, finden Sie nicht? Doch wohl das Mindeste!”
„Madam”, er dehnt das Wort auf eine besonders beleidigende Weise, so dass es fast wie ‘mad man’ klingt. „Wenn Sie Beschwerden haben, so teilen Sie diese bitte unserem Kundendienst mit, die Telefonnummer finden sie auf BAdotcom.”
Er rauscht davon.
„Was hat er gesagt Kind?”, fragt Mutter argwöhnisch. Sie versteht zwar ganz gut Englisch, hat aber von dem schnellen Gespräch nur den gereizten Tonfall mitbekommen.
„Es ist nichts, gar nichts. Wie ist dein Sandwich Mama?”
„Schmeckt nach Pappe. Warum war er denn so böse?”
Ich muss sie ablenken, bevor ich hier noch in Tränen ausbreche. Meine Wangen brennen, ich fühle mich so gedemütigt und gemaßregelt. Was ist das nur für ein fürchterlicher Tag?
Mutter hat aufgegessen und es folgt das Unweigerliche.
„Ich muss noch mal, Doro.”
Das ist nun wirklich der denkbar ungünstigste Moment, da der Essenwagen immer noch vor unserer Reihe steht und der eingeschnappte Steward verschwunden ist.
„Mama, das geht jetzt nicht, kannst du nicht noch ein bisschen warten?”
Sie nickt tapfer und beißt sich auf die Lippen Ich verrenke den Hals nach hinten. Der Steward ist zwei Reihen hinter mir und tut so, als ob er mich nicht bemerkt.
„Entschuldigung.”
Ich stehe auf, damit man mich besser sehen kann.
Der Engländer neben mir grunzt empört, als ich dabei aus Versehen seine Zeitung umknicke.
„Entschuldigung!”, rufe ich lauter, jetzt ist schon alles egal. So ziemlich alle Leute außer dem Steward gucken zu mir hin.
„Entschuldigung!”, ich brülle nun fast. „Könnnen Sie bitte den Wagen wegschieben, meine Mutter muss mal auf die Toilette.”
„Natürlich, eine Sekunde bitte.”
Er lässt sich Zeit, Mutter ruckelt unruhig hin und her und dann ist es zu spät, alles ist zu spät. Unmissverständlich steigt Uringeruch auf, es plätschert ein bisschen unter ihrem Sitz. Sie weint und schluchzt etwas, das wie „so leid “ klingt.
Ich merke, wie ich ganz starr werde. Ich will mich fallenlassen, die Augen schließen und wieder Kind sein. Ein kleines Mädchen, das aus der Schule nach Hause kommt, seinen Ranzen in die Ecke wirft, die Mutter in der Küche arbeiten sieht und dann zu Moni spielen geht.
Nichts von dem hier ist wahr.


Um mich herum gaffen die Leute, fasziniert und angeekelt, der Steward schnaubt etwas hinter meinem Rücken. Der Mann rechts neben mir kriecht bald zum Fenster hinaus und links neben mir weint stumm und zuckend meine mitleiderregende, alte Mutter.
Mechanisch erledige ich, was von mir erwartet wird.
Ich tröste meine Mutter und mache sie sauber so gut es geht, beschwichtige das Personal, welches sich verständnisvoll zeigt (der Steward ist und bleibt verschwunden), ich wechsele verlegene Blicke mit den anderen Passagieren und rede unentwegt leise auf meine Mutter ein.
„Ist nicht so schlimm, Mama, das passiert ab und zu mal. Was glaubst du denn, wie oft das passiert. Die sind das gewohnt. Du siehst die doch alle nie wieder.”
Ich rede und rede, bis wir endlich landen. Mutter ist jetzt ganz still und blass geworden, kalte Feuchtigkeit steht ihr auf der Stirn. Wenn ich doch nur eine ihrer Beruhigungstabletten hätte.
Als das Flugzeug landet, bleiben wir sitzen, bis alle sich hinaus gedrängt habe, allen voran der Engländer neben mir.
Man sollte ihm ein Bein stellen, denke ich wütend.
Der Rollstuhl ist natürlich wieder nicht rechtzeitig da, aber was spielt das jetzt noch für eine Rolle. Wir warten, bis er kommt.
Ich will auch nicht mit dem Transportwagen fahren, den man mir anbietet, ich will einfach nur meine Ruhe und unser Gepäck und Fred an meiner Seite. Der Rollstuhl lässt sich ganz gut durch die verwinkelten Gänge in Heathrow schieben, es ist nicht anstrengend.
Meine Mutter macht ein Nickerchen. Die Arme, was für ein Erlebnis. Warum können wir nicht alle bis zum bitteren Ende im Besitz all unserer Kräfte bleiben.
Wir werden sie wieder wecken müssen, wenn wir sie ins Auto verfrachten, aber erst mal mache ich mir Gedanken über das Gepäck. Wundersamerweise stellt mir der Flughafen einen jungen Angestellten zur Verfügung, er grinst und schiebt linkisch den Wagen mit unseren beiden
kleinen Taschen. Viel haben wir nicht mitgenommen.
Es ist geschafft, es ist vorbei. Mein verkrampfter Körper entspannt sich mehr und mehr, je näher wir in Richtung Ausgang kommen. Jetzt sehe ich Fred, seine blaue Mütze ist leicht zu erkennen und ich winke ihm zu.
„Du glaubst nicht, was ich für einen Stress hatte!”
„Jetzt bist du ja da!”
Er lacht mir zu, doch dann fällt sein Blick auf irgendetwas neben mir und sein Lachen verschwindet.
„Ist sie in Ordnung? Is she okay?”
Ich weiß sekundenlang gar nicht, wen er meint, bis mein Blick auf Mutter fällt.
Meine Mutter, die weiß und schlaff im Rollstuhl sitzt. Die Augen sind einen Spalt offen und sie hat ein bisschen Speichel vor dem Mund, der durch keinen Atemzug bewegt wird.
„Mama?”


„Herzschlag, denke ich“, bestätigt mir ein wenig später der englische Arzt, der von irgendwoher aufgetaucht ist, angelockt durch mein hysterisches Schreien. Um mich herum steht eine Mauer aus Schaulustigen, von weitem kommen uniformierte Leute auf mich zu und jetzt endlich, das erste Mal an diesem Tag, beginne ich zu weinen.

 

Hallo Sammamish.

Immer öfter finde ich auf kg.de Geschichten, die superklasse sind, aber unbeantwortet vor sich hinvegetieren. Diese gehörte bis eben dazu.

Diese Geschichte hat mich wirklich berührt und in mir Mitleid mit Doro geweckt, die so viel aushalten muss, nur weil ihr die Obhut über die alte Mutter überlassen wurde. Die Intoleranz und Verständnislosigkeit der Flughafenangestellten macht das nicht gerade besser.
Doro selbst ist innerlich ganz zerrissen. Auf der einen Seite möchte sie sich nicht um ihre Mutter kümmern, auf der anderen hat sie sie auch lieb und steht ihr bei, wenn sie wieder einmal benachteilig wird.
Ich kenne mich nicht so aus, aber es ist bei uns ein gesellschaftliches Problem, dass alte Leute oft abgeschoben werden und sich die Angehörigen nur widerwillig kümmern, also vielleicht passt diese Geschichte auch in die Kategorie Gesellschaft, doch da warte lieber eine zweite Meinung ab.

“ Was ist denn nun mit dem Rollstuhl?” herrsche ich sie schließlich an.
“ Darum kümmert sich das Personal in London, keine Sorge.”
Sie blickt nicht einmal auf. Heisse kleine Wellen steigen in mir auf, Wellen der Wut und der Aggression.
“ Hören Sie, auf dem Flug nach Berlin hat sich eben niemand darum gekümmert, deswegen frage ich ja!
Hier hast du versehentlich Leerzeichen hinter die öffnenden Anführungzeichen gesetzt. Andere Fehler sind mir nicht aufgefallen, aber vielleicht fehlt mir noch der Blick dafür.

Schreib weiter so tolle Geschichten!
Grüße von Jellyfish

 

Hallo Sammamish,

deine Geschichte hat mich richtig gefesselt!
Es ist dir hervorragend gelungen, diesen Zwiespalt deiner Prota zu zeigen. Einerseits die pflichterfüllende und auch dankbare Tochter und dem gegenüber die berufliche, ja, fast möchte ich sagen, Überforderung in London.
Ich bin förmlich 'mitgeflogen' und konnte mich sehr gut in diese Situation hineinversetzen. Den Steward hast du subtil geschildert, eigentlich trifft das auf alle Nebenfiguren zu. Ich hatte beim Lesen von allen ein Bild vor meinem geistigen Auge.
Ich bin gespannt auf weitere Geschichten von dir und sende dir einen
lieben Gruß,
jurewa

 

Hallo jellyfish und Jurewa,
vielen Dank fuer eure Kommentare und dass ihr euch an die zugegebenermassen recht lange Geschichte gewagt habt.
Es freut mich auch, dass es euch gefallen, oder sagen wir besser, bewegt hat,
ich wurde naemlich mehr oder weniger ducrh reale Fakten dazu ispiriert, als auf einem Flug eine Frau mit ihrer alten Mutter hinter mir sass und komplett ueberfordet war.

Gruss, sammamsih

 

Liebe Sammamish,

ich ziehe alle Hüte vor dieser Geschichte. Sie ist wunderbar und grausam zugleich; man leidet mit Doro, wird mit ihr nervös, ungehalten, stocksauer. Man spürt ihre Hilfslosigkeit der hilflosen Mutter gegenüber, den Schock, den es auslöst, plötzlich selbst der "Omnipotente" sein zu müssen, weil man im Begriff ist, die wohl sicherste Zuflucht der Welt zu verlieren. Man spürt die Liebe, die Doro für ihre Mutter empfindet und das gleichzeitige sie-nicht-ertragen-können, das mit einem zentnerschweren, schlechten Gewissen einhergeht. Eine großartige Geschichte, die mich sehr bewegt hat.

Liebe Grüße

Richard

P. S.: Wieder mal möchte ich deiner Protagonistin die schwere Tasche abnehmen, eine Steward für sie zusammenfalten und sie zu einer Kaffeepause einladen. Das hast du echt raus ;)

 

Hallo sammamish,

mit präzisen Formulierungen und klaren Sätzen ist dir eine sehr, sehr beeindruckende Geschichte gelungen. Das alles wirkt so nah, tief und intensiv, man ist so dicht dran an den Menschen in deiner Geschichte, so mittendrin, in den Situationen, dass ich zeitweise wirklich mit im Flugzeug zu sitzen glaubte. Ehrlich. Absoluter und ganz aufrichtigen Respekt, das habe ich echt schon als die wirklich hohe Kunst des Schreibens empfunden, wie du mich als Leser mitgenommen hast zu den handelnden Personen und in die Situationen, als wäre ich mit dabei.

Es ist kaum zu verstehen, dass dieser fantastisch geschriebene Text mit seinem bewegenden und nachdenklich stimmenden Inhalt beinahe nahezu unkommentiert versickert wäre. Und ich bin froh, dass aufmerksame Forumsgoldgräber ihn wieder hervorgeholt haben. Und ich werde diese Geschichte bei nächster Gelegenheit mit Nachdruck empfehlen und mir selbst als Beispiel wählen, wie stark eine klare und präzise Stimme erzählen kann – ohne Firlefanz und Blablabla. Da kann ich mir echt eine dicke Scheibe abschneiden! Mach ich auch. Hab ich schon. Toller Text!

Rick

 

Hallo sammamish,

Diese Geschichte ist stilistisch verständlich, angenehm, anregend geschrieben. Sie ist inhaltlich interessant, fesselnd, kurzweilig.

Kurz ein Lesevergnügen :)

LG
GD

 

Hallo Richard,
danke, dass du die alte Geschichte noch mal ausgegraben hast! Das war meine allererste Geschichte im Forum und vorhin habe ich erst mal die ganzen Zeichensetzungsfehler ausgemerzt, die mir damals gar nicht aufgefallen sind.
Wie ich damals schon angemerkt habe, bin ich von wahren Ereignissen inspiriert worden. Das war wirklich ziemlich schrecklich.


Hallo Rick,
du machst mich ja ganz verlegen! :shy:
Aber natürlich freue ich mich auch wie ein Schneider, wenn jemandem meine Geschichten so gut gefallen, auch wenn sie traurigen Inhalts sind.
Eigentlich schreibe ich ja lieber was Lustiges.
Und es gibt noch eine Menge Leute hier im Forum, von denen ich mir gern eine Scheibe abschneide! Anwesende inbegriffen!

Hallo goldene Dame,
da soll noch mal jemand behaupten, zu viele Adjektive wären nicht gut. Mir haben deine alle gefallen!

Viele liebe Grüße,
Sammamish

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo sammamish,

nun krame auch ich deine „alte“ Geschichte noch einmal aus, denn sie ist es wert, beachtet zu werden.

Dein Text hat mich berührt und aufgewühlt, nicht zuletzt, weil auch ich eine Mutter habe, die sechsundachtzig ist.

Das Geschehen ist realistisch nachvollziehbar und sprachlich kraftvoll dargestellt.
Mein Kompliment!

Beim Lesen hatte ich das Gefühl, neben der Protagonistin zu weilen und ihr Müssen, Sollen und Wollen, ihre Bemühungen, ihre Selbstdisziplin und ihre Nöte mitzuerleben.

Lieben Gruß
Kathso

 

Eine wirklich bewegende Geschichte, Sammamish.
Glaubhaft, mitnehmend.
Klar, das Ende ist irgendwo voraussehbar, aber das tut der kg keinen Abbruch.
Im Prinzip könnte ich Ricks Beitrag komplett kopieren und noch einmal hier einfügen.
Kann demnach nciht viel konstruktives von mir geben.
Lediglich auf formaler Ebene hibt es einige Kleinigkeiten, die es auszubessern gilt. Habe hier mal eine Liste gemacht. Insbesondere Kommata sind aufgefallen.

„Du must Mutti diesen Sommer nehmen”,

„Ich muss mal, Kind”, sagt sie in dieser demütigen Stimme,

„Vorsicht, Doro!”, ruft Mutter, a

„Aber gar nicht, Mama, es ist doch auch schön, dass du siehst, wie ich jetzt wohne”.
Es ist ein halbherziger Versuch von mir, der Sache etwas Positives abzugewinnen. Mutter war das letzte Mal vor 14 Jahren bei mir, als sie noch reisen konnte. Sie kennt mein jetziges Haus nicht und sie ist das perfekte Publikum, der Gast ,den man beeindrucken kann.

„Meine Tabletten,Doro, wo sind die denn, ich dachte,

Sie tut mir so leid, es muss furchtbar sein, wenn man so eingeschränkt ist.
ww einmal durch derart ersetzen?

Meine Laune wird immer miserabler. Ich habe Wut und möchte einen Streit anfangen, mit diesem Wichtigtuer und seiner Zeitung, a
komma weg

die mir unter den Nägeln brennen und jetzt auch noch eine inkontinente Mutter, die ich dorthin schaffen muss - ganz zu schweigen von den nächsten vier Wochen.
inhaltlich passts nict - Bezug

Was hast du denn ,Mama?”, frage ich erschrocken.

Ich muss sie ablenken, bevor ich hier noch in Tränen ausbreche. Meine Wangen brennen, ich fühle mich so gedemütigt und gemaßregelt, was ist das nur für ein fürchterlicher Tag.
Mutter hat aufgegessen und es folgt das Unweigerliche.
komma durch Punkt ersetzen, Fragezeichen am Ende

„Ich muss noch mal ,Doro.

„Entschuldigung!” ,rufe ich lauter,

rständnisvoll zeigt ( der Steward ist und bleibt verschwunden), ich wechsele verlegene Blicke mit den anderen Passagieren und rede unentwegt leise auf meine Mutter ein.
„Ist nicht so schlimm ,Mama, das
leerstelle in klammer weg

„Herzschlag, denke ich!“
Ausrufezeichen weg

sehr gute Geschichte, zurecht empfohlen

grüßlichst
weltenläufer

 
Zuletzt bearbeitet:

hallo sammamish,

Kuzgeschichten = Kurzweil = keine Ausdauer? man möchte einen schönen, billigen Drucker haben, der nie Ärger macht, damitman solche Geschichten gemütlich bei einem Glas Wein im Sofa lesen kann. Es gibt hier eindeutig Berührungsängste bei Texten mit mehr als dreißig bis vierzig Zeilen.

Dein Text ist mal wieder spannend und mitreißen geschrieben. Folgendes hat mich aufmerken lassen:

Ein kleines Mädchen, das aus der Schule nach Hause kommt, seinen Ranzen in die Ecke wirft, die Mutter in der Küche arbeiten sieht und dann zu Moni spielen geht.
Nichts von dem hier ist wahr.

und

dann fällt sein Blick auf irgendetwas neben mir und sein Lachen verschwindet

Einfach gut.

Zum Inhalt und zur Empörung der Erzählerin: die Zustände sind ja deutlich schlimmer als bei Ryanair; am Flugpreis kann es nicht liegen. Zu Beginn der Luftfahrt war es wie zu Beginn der Automobilisierung: nur die Oberschicht hatte das Privileg. Darauf war der Service eingestellt. Heute kann jeder fliegen (wirklich jeder, man kann einen oder zwei Tage im Lager jobben und hat schon das Geld für den Flug Pisa-Florenz beisammen). Es kann nicht mehr so zugehen wie früher.

Ein weiteres: die von Dir beschriebene Frau ist eindeutig nicht flugfähig. Bei mir entsteht dabei mehr Betroffenheit angesichts der Tatsache, daß heute alte Menschen noch bis zum Schluß eine Mobilität aufweisen müssen, die noch vor wenigen Jahrzehnten nur Menschen vorbehalten war, die gesundheitlich fit sind. Da gäbe es auch andere Lösungen.

Ich habe vor einer Woche meinen Nachbarn eingeladen, der in einem einsam im schwedischen Wald gelegenen Haus lebt. Er ist 89 Jahre alt und sehr rege. Neben vielen Themen kam auch seine Situation am Ort zur Sprache: er fährt mit dem Auto zum Bahnhof (30km), um seine Freundin abzuholen. Er fährt zum Einkaufen mit dem Auto. Er weiß, daß das irgendwann nicht mehr geht und was das bedeutet. "Ein Mensch ist Invalide, wenn er nicht Auto fahren kann."
Da kann man natürlich fragen, warum ein alter Mann allein im Wald wohnt. Vor 50 Jahren wäre die Frage berechtigt gewesen; heute macht es keinen Unterschied: auch bei einer Stadtwohnung läge der Supermarkt so weit weg, daß er nicht zu Fuß erreichbar wäre. Die kleinen Läden, die gesamte ortsnahe Infrastruktur ist verschwunden. Autofahren oder ins betreute Heim; so sieht es heute in diesem vorbildlichen Land aus. Von Seattle wirst Du ähnliches kennen.

Das war jetzt etwas ausführlich; ich wollte nur sagen, daß meine Empörung, die von Deiner Geschichte geweckt wird, etwas mehr im Fokus hat als die Behandlung der Passagiere bei British Airways.

Lieben Gruß

Set

Vielen Dank an Jellyfish fürs Ausgraben!

 

Hallo sammamish,

ich schließe mich dem Lob einfach an - packend und so alltäglich. Das machen gute Kurzgeschichten für mich aus. Großes Lob!

Ich habe einmal einen sehr unverschämten Fluggast erlebt, der uns dauernd angemault hat, weil mein damals Zweijähriger nicht vier Stunden wie eine Puppe auf seinem Sitz saß (er schrie nicht, sondern lief nur rum und blieb bei anderen Leuten stehen). Das geht dann so auf die Nerven, weil man überhaupt keine Ausweichmöglichkeit hat.

Zum Schluß war dann mein Mann über das dauernde Gezetere des anderen Fluggastes so genervt, dass er ihn anschrie und fragte, ob wir das Kind denn seiner Meinung nach anbinden sollen. Der meinte lapidar, dass Kinder eigentlich gar nichts in Flugzeugen zu suchen hätten.

Zwei Dinge am Rande gingen mir dann noch durch den Kopf, als ich über die Geschichte nachdachte, da ich die letzten Jahre selbst mit pflegebedürftigen alten Menschen viel zu tun hatte:
Wieso hat die Protagonistin der Mutter die Reise überhaupt noch zugemutet? Mein Opa kam immer in Kurzzeitpflege, wenn meine Eltern in Urlaub gefahren sind.

Und dann, so hart es sich jetzt anhört: Die Protagonistin hätte unbedingt auf den Windeln bestehen müssen, das hätte soviel erleichtert. Man darf sich als Pflegende auch nicht alles gefallen lassen, denn die "Alten" haben manchmal einen extremen Dickkopf. Das hat dann auch nichts mit Würde im Alter zu tun, sondern mit Pragmatismus - es ging ja nur um die Zeit des Fluges. Das schreibe ich jetzt hier explizit auf, damit Leser, die mit diesem Thema zu tun haben, eine Bestätigung bekommen, auch mal etwas egoistisch sein zu dürfen.

Die Frau hinter dem BA Abfertigungsschalter arbeitet sowas von langsam, dass ich schon gar nicht mehr hinsehen kann. Um mich herum drängen sich die Reisenden mit ihren Koffern, angespannt und schon vor dem Flug erschöpft vom langem Herumstehen. Der Flug nach London heute Morgen wurde storniert und jetzt versuchen sie offenbar, alle Passagiere in die Mittagsmaschine zu laden. Aber ich habe schließlich meine Mutter im Rollstuhl neben mir, ich lasse mich auf keinen Fall auf einen anderen Flug umbuchen.
Das mit dem Nicht-umbuchen-lassen kommt für mich nicht klar rüber. Der stornierte Flug war nicht auch ihrer? Sie kam später und hat sowieso für die Mittagsmaschine gebucht. Wieso soll sie dann umgebucht werden? Das ist etwas diffus erklärt.

Ich schätze sie auf Mitte vierzig, jünger als ich, aber trotzdem sieht sie ein bisschen abgewirtschaftet aus.
abgewirtschaftet habe ich noch nie im Zusammenhang mit einem Menschen gehört, nur mit Gegenständen. Vielleicht eher: verlebt/ausgezehrt ?

Warum haben sie bei British Airways neuerdings solche überalterten, korpulenten Stewardessen? Wo sind die traumhaft schönen Stewardessen meiner Jugend hin?
die zweiten Stewardessen würde ich ersetzen oder einfach nur streichen
Heute allerdings weniger, ich pflüge den Rollstuhl durch die Menschenmassen ohne Rücksicht auf Verluste.
... ich pflüge ohne Rücksicht auf Verluste den Rollstuhl

Liebe Grüße
bernadette

 

Hallo sammamisch,

auch mir hat die Geschichte gut gefallen. Die Flughafen-Situation eignet sich hervorragend zur Beobachtung von menschlichem Verhalten – Massenabfertigung, Wichtigtuerei, Zeitknappheit und unglaubliche Kälte. Du hast all das in Deine Geschichte gepackt.

Kleine Kritik: Manchmal führen die gedanklichen Exkurse der Prot etwas ins nirgendwo – nur ein Beispiel: Das Aufregen über die Fläschchen der anderen Passagiere beim Einchecken und der Satz über Terroristen – hier könnte man vielleicht noch ein bisschen kürzen.

Ob mit die Prot sympathisch ist, kann ich witzigerweise gar nicht entscheiden. Tendiere zum Nein :)

Viele Grüße
TeBeEm

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo,

hier haben sich ja in kürzester Zeit die Kommentare vervielfacht!

@kathso –danke dir für deinen netten Kommentar und fürs "Herauskramen“. Ja, wenn es einen selber auf einmal betrifft, sieht man die Dinge doch ganz anders …

@ weltenläufer – danke dir für deine Fleißarbeit. Da waren ja doch noch eine Menge Kommafehler drin. Ich lerne es nie …Wenn ich mal berühmt bin, schaffe ich mir eine Sekretärin an. Oder einen Sekretär! Danke!

@ setnemides – die Fluggesellschaft BA kannst du im Prinzip mit jeder anderen ersetzen. Und ich geben dir völlig recht, Fliegen ist von etwas Angenehmen, Luxuriösem, das man genießt, zu einer Art Strapaze und Horror geworden, die man irgendwie überstehen muss. Manche Flüge innerhalb der USA erinnern an Viehtransporte …
Flugfähig oder nicht – da greifst du ein Thema auf, dessen Ausführungen hier wahrscheinlich zu weit gehen würden, aber wichtig und beängstigend ist es zugleich. Denn wer entscheidet letztendlich, was ein alter Mensch noch darf / soll / kann (Spontan fällt mir in dem Zusammenhang das Buch „Die Entbehrlichen“ ein, bei dem Leute über 50 zur Organverwertung geschickt werden …)
Vielleicht sind wir ja schon auf dem besten (schlimmsten) Weg. Hier bei uns sehe ich jedenfalls kaum alte Leute – im Sinne von tappelig und tatterig. Die sind alle in irgendwelche Wohneinheiten abgeschoben, weg vom Schuss, denn ohne Auto können sie nicht existieren.

@bernadette – Fliegen mit Kindern, da könnte man ja auch ganze Bände füllen … Wie oft sich in der Vergangenheit schon jemand von mir weg gesetzt hat wegen meinem Baby, weiß ich gar nicht mehr. Da kommt man sich vor wie die Pestkranke vorm Stadttor! :xxlmad:

Andererseits hat meine Tochter mal einem Mann vor uns Orangesaft auf die Glatze gekippt, da kam verständlicherweise auch Stimmung auf … :lol:

Das mit dem Nicht-umbuchen-lassen kommt für mich nicht klar rüber. Der stornierte Flug war nicht auch ihrer? Sie kam später und hat sowieso für die Mittagsmaschine gebucht. Wieso soll sie dann umgebucht werden? Das ist etwas diffus erklärt.

Ja, normalerweise buchen sie einen nicht um, wenn man einen Platz hat. Aber die Prota ist total angespannt und gestresst, auch wenn es gar keinen Grund gibt. Es klingt etwas unglücklich, das ist wahr.
Danke für die anderen Anmerkungen!
Sicher hätte die Tochter auf einer Windelhose bestehen können. Ich würde es! Aber dann wäre es nicht dieselbe Geschichte geworden. Ich sehe oft Leute in Flugzeugen, wo ich spontan denke: „Muss denn das sein? Musst du denn unbedingt von einem Ende der Welt zum anderen?“ (Alte, Superfette, Behinderte, Asthmatische, was weiß ich) Und gleich darauf schäme ich mich. Denn warum zum Teufel sollen sie es nicht dürfen?

@TeBeEm

Die Gedanken der Prota schweifen ab, das hast du richtig beobachtet. Es soll einerseits ein bisschen verdeutlichen, wie ewig diese reise für sie ist, aber ich weiß, was du meinst. Das war meine erste Geschichte und heute würde ich sie sicher ein bisschen anders schreiben. Da sie auf so viel Interesse gestoßen hat, werde ich sie noch mal in Ruhe bearbeiten.

Vielen Dank Euch allen,

Gruß, Sammamish

 

Hallo sammamish,
gut, dass diese tolle Geschichte nicht verschwunden ist, bin ganz und gar begeistert.
LG,
Jutta

 

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