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Sechsundachtzig
Die Frau hinter dem BA Abfertigungsschalter arbeitet sowas von langsam, dass ich schon gar nicht mehr hinsehen kann. Um mich herum drängen sich die Reisenden mit ihren Koffern, angespannt und schon vor dem Flug erschöpft vom langem Herumstehen. Der Flug nach London heute Morgen wurde storniert und jetzt versuchen sie offenbar, alle Passagiere in die Mittagsmaschine zu laden. Aber ich habe schließlich meine Mutter im Rollstuhl neben mir. Wenn sie mich umbuchen wollen, werde ich mich einfach weigern.
Die Frau tippt immer noch im Computer herum und starrt konzentriert auf den Bildschirm. Sie sieht müde aus und ihre Jacke hat einen hellen Fleck. Ich schätze sie auf Mitte vierzig, jünger als ich, aber trotzdem sieht sie ein bisschen verlebt aus. Warum haben sie bei British Airways neuerdings solche überalterten, korpulenten Angestellten? Wo sind die traumhaft schönen Stewardessen meiner Jugend hin? Die mit dem strahlenden Lächeln und der unerschütterlichen Freundlichkeit? Sie sind verschwunden und von gereizten Flugbegleiterinnen ersetzt worden, die aussehen, wie man selber, manchmal noch schlimmer.
„Was ist denn nun mit dem Rollstuhl?”, herrsche ich sie schließlich an.
„Darum kümmert sich das Personal in London, keine Sorge.”
Sie blickt nicht einmal auf. Heiße kleine Wellen steigen in mir auf, Wellen der Wut und der Aggression.
„Hören Sie, auf dem Flug nach Berlin hat sich eben niemand darum gekümmert, deswegen frage ich ja! Wir mussten ewig im Flugzeug warten, bis sie den Rollstuhl an den Eingang brachten. Das will ich wirklich nicht noch einmal erleben, meine Mutter ist sechsundachtzig.”
„Ich weiß. Steht in den Unterlagen.”
Sie hackt ungerührt weiter auf dem Computer herum. Ich versuche, mich abzulenken und schaue auf die flackernden Anzeigen mit Billigflugangeboten. Nach Barcelona, Lissabon, wo immer normale Menschen im Sommer hinfliegen, wo wahrscheinlich alle Leute hier hinwollen, mit ihren sperrigen Gepäckstücken und ihren Plastiktüten, die sie folgsam in den Händen tragen. Plastiktüten mit kleinen Flaschen voller Wasser, Babymilch und Medizin. Als ob das irgendeinen Terroristen, der sein Handwerk versteht, abschrecken würde.
Seit heute früh um sechs sind wir schon unterwegs, Mutter und ich. Normalerweise verbringe ich den Sommer mit Fred in Dorset oder zumindest auf meiner Terrasse in meinem schönen Haus in Richmond. Dieses Jahr allerdings hat mir mein Bruder einen Strich durch die Rechnung gemacht.
„Du musst Mutti diesen Sommer nehmen”, meinte er am Telefon „Du weißt doch, dass wir unten ausbauen wollen, da kann sie nicht bei uns bleiben.”
Ich dachte erst, er macht einen Witz.
„Spinnst du? Ich muss arbeiten!”
„Das muss ich auch. Sie ist auch deine Mutter.”
Dagegen konnte ich nichts sagen und das wusste er genau. Natürlich ist sie auch meine Mutter, aber ich lebe schließlich in London, ich kann meinen Job nicht einfach sausenlassen, nur weil er seine untere Etage ausbauen will. Aber mein Bruder versteht nicht, wie meine Arbeit funktioniert.
„Du bist doch selbständig” sagt er immer, „du kannst dir doch deine Zeit einteilen.”
Das mag ja sein, aber als Maklerin muss man immer dranbleiben, sonst schnappt einem gleich jemand etwas weg. Der Markt ist wie ein Haifischbecken und alle lauern auf die Schmäckerchen, auf die wirklich teuren, schicken Villen. Je teurer das Haus, umso höher der Profit.
Manchmal trifft man auch Prominente, die in die Riesenvillen ziehen wollen. Am liebsten aber sind mir die Eltern schulpflichtiger Kinder, die in ein bestimmtes Schuleinzugsgebiet ziehen wollen. Da hat man im Nu einen Verkauf unter Dach und Fach. Die nehmen jede Bruchbude, wenn sie nur in der richtigen Straße ist. Sie kaufen sogar ein Haus, ohne es vorher gesehen zu haben, auch wenn es winzig ist, auch wenn sie den Rest ihres Lebens damit verbringen werden, ihre Häuser nach oben, unten und zur Seite hin zu erweitern, bis sie bald aus allen Nähten platzen.
„So, da haben wir alles”, meldet sich nun die Frau von BA mit einem routinierten Lächeln wieder.
„Den Rollstuhl geben sie am Einstieg ab und bekommen ihn dann in London wieder.”
Ich verkneife mir ein „hoffentlich”, raffe all die Zettel und Pässe zusammen und stopfe sie in die Handtasche. Bloß weg hier.
„Sind wir fertig, Doro?”, fragt Mutter.
„Ja, endlich. Du wirst sehen, es wird diesmal besser klappen, die Frau hat es uns versprochen.”
Ich schiebe Mutters Rollstuhl vor mir her und fange dabei den freundlichen Blick einer jungen Frau mit Kinderwagen auf. Wir beide, scheint ihr Blick zu sagen, wir beide haben es schon nicht leicht, mit unserer umständlichen Fracht zu fliegen. Sie nickt mir zu, aber ich nicke nicht zurück.
Du hast ja keine Ahnung. Keine Ahnung wie das ist, wenn dein Baby sechsundachtzig ist und siebzig Kilo wiegt und immer einmacht, wenn du es nicht in einer Nanosekunde zur Toilette schaffst.
Keine Ahnung hast du. Niemand beugt sich gurrend über den Rollstuhl und sagt „ach wie süß”, und es gibt auch keine Wickeltische für Erwachsene, wo man alles diskret und schnell erledigen könnte.
Wie auf Kommando meldet sich nun Mutter.
„Ich muss mal, Kind”, sagt sie in dieser demütigen Stimme, die sie immer bei dem Thema draufhat.
Als ob da was dabei wäre. Mutter ist es peinlich, mir ist es eigentlich nur lästig, auch wenn es eine Prozedur und ein Kraftakt ist, der mich jedes Mal ins Schwitzen bringt. Bei meinem Bruder im Haus haben sie Haltegriffe an die Wand im Bad montiert und die Tür verbreitert und meiner tüchtigen Schwägerin macht es auch nichts aus, Mutter hundertmal am Tag aufs Klo zu führen, sie ist ja ohnehin den ganzen Tag zu Hause.
„Kannst du die Brille nochmal abwischen, Doro?”
„Aber das habe ich doch gerade gemacht.”
„Bitte mach es nochmal, man weiß doch nie bei diesen öffentlichen Toiletten, das ist mir so eklig.”
Ich wische die Klobrille zum dritten Mal ab, während Mutter halb steht und halb kniet und angestrengt nach unten guckt. Ich verstehe nicht, warum sie so etepetete ist - meistens macht sie die Klobrille ja sowieso gleich wieder dreckig.
„Du hättest wirklich für die Reise die Windelhosen nehmen können Mama, da ist doch nichts dabei. Das sieht doch niemand!”
„Und ob da was dabei ist!”
Mutter zerrt an ihrer Unterwäsche herum und tut so, als ob sie alles selber kann, aber wie immer muss ich ihr letztendlich helfen. Dann muss sie noch eine Beruhigungstablette nehmen und einen Schluck Wasser trinken, während ich mich im Spiegel anschaue.
Trotz meiner Erschöpfung sehe ich ganz gut aus. Ganz gut für dreiundfünfzig. Ich bin schlank und gepflegt und habe das Auftreten einer Frau von Welt, wie Mutter immer sagt. Heute allerdings weniger, ich pflüge ohne Rücksicht auf Verluste den Rollstuhl durch die Menschenmassen. Anders kommt man hier nicht vorwärts.
„Vorsicht, Doro!”, ruft Mutter, aber ich habe heute keine Nerven für Förmlichkeiten.
„Bitte Platz machen!”
Zwei Türkinnen springen erschrocken zur Seite. Zurück am Flugsteig können wir gleich durch die Kontrolle gehen. Das heißt, ich gehe, und dann schiebe und stütze ich Mutter, lasse sie durch den Sensor tappeln und gucke, ob sie auch jemand am anderen Ende auffängt. Sechsundachtzig oder nicht, auch sie muss sich abtasten lassen.
Die Flughafenbeamtin verzieht keine Miene. Ihr Tag besteht aus endlosen Bäuchen und Rücken, aus Gürteln, die abgemacht werden müssen, aus Schweißfüßen, die aus Schuhen herausgeholt werden, aus Schlüsseln, die in Taschen stecken und das Gerät anschlagen lassen.
Kaum sind wir durch die Kontrolle durch, knackt der Lautsprecher und verkündet eine Stunde Verspätung.
Ich fasse es nicht. Heute klappt aber auch gar nichts. Wir sitzen gefangen am Flugsteig, können weder rein noch raus.
„Wird es dir denn auch nicht zu viel werden, Doro?”
Als ob meine Antwort jetzt noch irgendetwas ändern könnte. Bereits vor zwei Monaten wurde mehr oder weniger ohne mein Zutun beschlossen, dass ich Mutter für vier Wochen nach London hole, wo sich tagsüber dann eine bezahlte Betreuung um sie kümmert. Abends, wenn ich nach Hause komme, soll ich dann übernehmen.
„Viel Spaß ihr beiden!”, hat uns doch mein Bruder tatsächlich hinterhergerufen, so, als ob er uns ins Sommerlager schickt
„Aber gar nicht, Mama, es ist doch auch schön, dass du siehst, wie ich jetzt wohne.”
Es ist ein halbherziger Versuch von mir, der Sache etwas Positives abzugewinnen. Mutter war das letzte Mal vor 14 Jahren bei mir, als sie noch reisen konnte. Sie kennt mein jetziges Haus nicht und sie ist das perfekte Publikum, der Gast, den man beeindrucken kann.
„Du wirst sehen, es wird dir gefallen. Der Garten hat eine große Sitzecke, da kannst du den Tag verbringen und lesen und wenn ich heimkomme, koche ich uns was Leckeres.”
Es klingt so gut, so idyllisch, dass ich es fast selber glaube.
„Gibt es denn viele Treppen bei dir?”
„Ja, eine, aber du musst ja gar nicht nach oben, das Gästezimmer ist unten. Die Betreuung ist doch auch noch da.”
Mir fällt ein, dass die Betreuung aller Wahrscheinlichkeit nach kein Deutsch kann und dass Mutter auch nicht mehr selber liest, sondern nur noch vorgelesen bekommt.
Offenbar denkt Mutter gerade dasselbe.
„Werde ich sie denn auch verstehen?”
„Natürlich Mama, du kannst doch gut Englisch.”
„Na, ich weiß nicht, wenn sie so Cockiny redet, verstehe ich sicher nichts.”
„Es heißt Cockney Mama, und das redet sie bestimmt nicht.”
Hoffentlich nicht.
Mutter wühlt in ihrer Handtasche.
„Meine Tabletten, Doro, wo sind die denn, ich dachte, wir hätten sie eingepackt?”
„Natürlich haben wir sie eingepackt.”
Ich greife mir die Handtasche und suche mit einer Hand darin herum.
„Du hattest sie doch vorhin noch auf dem Klo!”
Mein Herz setzt eine Sekunde lang aus. Auf dem Klo. Auf dem gottverdammten Klo, wo die Pillendose sicher immer noch steht, falls sie nicht ein Junkie mitgenommen hat.
Wortlos stehe ich auf und gehe zur Abfertigung zurück.
„Wir haben draußen etwas vergessen, könnte ich bitte noch mal rausgehen?”
Der Mann schaut mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Sein fleischiger Arm weist auf die nicht enden wollende Menschenschlange, die immer noch darauf wartet, durch den Sensor zu gehen.
„Gute Frau, das geht nun wirklich nicht!”
Er spricht extra langsam und laut, in einer für Idioten und Kleinkinder reservierten Stimme.
„Da müssen Sie ja noch mal komplett hier durchchecken”, er spricht es aus wie ‚Eierschecke‘, „und dann geht’s ja hier auch gleich los, nich‘?”
Ich kapituliere.
„Mama, wir müssen dir die Tabletten in England neu besorgen, das ist kein Problem, können wir heute Abend noch machen.”
„Was?”
„Wir kaufen die Tabletten heute Abend in London.”
Sie guckt mich misstrauisch von der Seite an. Es wird ja wohl selbst in dem maroden britischen Gesundheitssystem nicht so schwer sein, die paar Kreislauftropfen und Augentropfen aufzutreiben.
„Kindchen …”
„Ja Mama?”
„Ich glaube, ich müsste noch mal.”
Erwartungsgemäß legen wir den ganzen Einstiegsverkehr lahm, als es endlich so weit ist. Die Stewardessen helfen Mutter gelassen, sie habe schon Gott weiß was alles gesehen.
Aus den Augenwinkeln heraus kann ich sehen, wie hinter mir ein paar Geschäftsmänner demonstrativ auf die Uhr gucken. Mutter tappelt vorsichtig an ihrem Stock vorwärts, zentimeterweise und langsam.
„Ja Vorsicht, hier lang!”, ruft ein Steward auf Englisch, den ich erst jetzt bemerke. Er versucht, Mutter zu helfen und will sie ein bisschen schieben, er weiß nicht, dass er sie dadurch erst recht ins Wanken bringt.
„Nicht schieben!”, rufe ich ängstlich.
„Sorry!” Er wirft seine Hände theatralisch in die Luft und wendet sich demonstrativ dem Passagier hinter mir zu.
Als wir endlich an unserem Platz sind, ist Mutter erschöpft und blinzelt benommen vor sich hin. Ihre Haut glänzt vor Anstrengung und ihre rechte Hand zittert wie unter Strom. Sie tut mir so leid, es muss furchtbar sein, wenn man derart eingeschränkt ist. Ich werde sie beschützen, nehme ich mir vor.
„Excuse me!”
Ein Mann quetscht sich an uns vorbei und setzt sich auf den Fensterplatz neben mir. Es ist doch tatsächlich jeder Sitz ausgebucht und meine Hoffnung auf ein bisschen mehr Platz kann ich wohl nun begraben. Der Mann zieht sofort die “Financial Times” aus der Tasche und spannt sie wie einen Schirm zwischen uns auf, als Schutzschild gegen etwaige Gespräche, Gerüche oder gar Bitten um Hilfe.
„Arschloch!”, denke ich wütend.
Meine Laune wird immer miserabler. Ich habe Wut und möchte einen Streit anfangen mit diesem Wichtigtuer und seiner Zeitung, aber am allermeisten bin ich voller Neid auf alle die anderen, die hier so sorglos reisen können.
Alle die, welche fröhlich plappernd ihre Taschenbücher heraus kramen, so wie die rothaarige junge Frau da drüben. Sie wedelt aufgeregt mit einem Londoner Stadtplan, macht irgendwelche Kreuzchen hinein und plant schon ihre Route.
Ich wende mich ab. Das war einmal. Auch ich bin mal als aufgeregte junge Frau mit Stadtplan durch London gezogen. Zwanzig Jahre später bin ich immer noch dort, habe tausend Termine, die mir unter den Nägeln brennen und jetzt auch noch eine inkontinente Mutter, die ich dorthin schaffen muss. Seufzend lehne ich mich im Sitz zurück.
Die Augen meiner Mutter sind tränenverschleiert.
„Was hast du denn, Mama?”, frage ich erschrocken.
„Es ist nicht zu glauben, dass …”
„Was denn?”
„Das alles hier.” Sie zeigt auf die Sitze, den kleinen Ausklapptisch, das Fenster.
„Ich verstehe nicht, was du meinst.”
„Dass ich noch mal fliege, noch mal zu dir komme, ich …”
Ein Schluchzen erstickt ihre Stimme. Ich lege ihr schnell die Hand auf den Arm. Jetzt bloß nicht sentimental werden, bloß nicht anfangen zu weinen.
„Ist schon gut, Mama, ich freue mich doch auch sehr."
Ich meine es ehrlich.
Trotzdem bin ich erleichtert, als nun die üblichen Abflugszeremonien losgehen, das Aufleuchten und Anschnallen, die pantomimischen Darbietungen der Flugbegleiter und die joviale Begrüßung durch den Piloten. Er wünscht uns allen einen guten Flug und hofft, dass wir bald starten können. Es klingt ein bisschen, als säßen wir alle da vorn im Cockpit und drückten gemeinsam auf den Starthebel. Als wären wir alle zu einem lustigen Klassenausflug im Vergnügungspark. Mutter beruhigt sich etwas und schläft ein.
Mit einem Rums steht der Essenwagen neben unserer Reihe und der empfindliche Steward von vorhin knallt ein Tablett mit Essen vor uns hin.
„Was gibt es denn?” fragt Mutter ängstlich.
„Sandwich und Salat, ich schneide es dir klein.”
Ich ziehe das Besteck aus der Hülle. An der Gabel kleben verkrustete Speisereste.
„Entschuldigung”, sage ich auf Englisch zu dem vorbeilaufenden Steward, „könnten wir eine neue Gabel bekommen, diese hier ist schmutzig.”
“Natürlich!”
Er lächelt angestrengt. Was ist dir nur für eine Laus über die Leber gelaufen, frage ich mich verärgert. Ich warte auf die neue Gabel und schneide das Sandwich in kleine Häppchen. In diesem Moment ist es für mich unvorstellbar, dass Mutters zittrige Hand vor fünfzig Jahren dasselbe für mich getan hat. Kleine Häppchen und kleine Breichen, wie doch das Ende unseres Lebens dem Anfang immer ähnlicher wird. Der Steward läuft mehrmals an uns vorbei.
„Entschuldigung!” Er hört mich nicht.
“Hallo!”
Langsam reicht mir das hier.
„Meine Gabel bitte!”
Er macht auf dem Absatz kehrt, greift nach hinten und holt von irgendwoher eine neue Gabel hervor.
„Madam!”
Er reicht mir die Gabel ohne mich anzuschauen, er gibt mir zu verstehen, dass er zu tun hat, dass er unabkömmlich ist.
Der Mann neben mir schafft es, gleichzeitig sein Mittagessen zu verzehren und seine Riesenzeitung zu lesen. Nur einmal blickt er kurz auf und bellt „Tee!”als Antwort auf die Frage, ob er Tee oder Kaffee möchte. An einem anderen Tag, zu einem anderen Zeitpunkt würde ich ihn wohl skurril finden, typisch englisch, heute finde ich ihn nur unhöflich.
Es ist stickig, die Luft ist verbraucht und der alberne kleine Ventilator über meinem Kopf ist kaputt.
Dafür ist der Kaffee kalt und ich muss mich wohl oder übel wieder an den Steward wenden.
„Der Kaffee ist kalt”
„Wie bitte?”
‚Der Kaffee ist kalt”
„Es gibt noch Tee”, antwortet er in die Luft hinein. „Das ist der einzige Kaffee, den wir haben. Tut mir so leid.”
Es klingt sarkastisch. Ich kann spüren, dass er genauso geladen ist wie ich und meine angestaute Wut entlädt sich nun auf diesen hochnäsigen Steward mitsamt seinem kalten Kaffee.
„Es ist doch wohl das Mindeste”, keife ich in einer mir völlig neuen Altfrauenstimme, „dass die Gabeln sauber und der Kaffee heiß ist, finden Sie nicht? Doch wohl das Mindeste!”
„Madam”, er dehnt das Wort auf eine besonders beleidigende Weise, so dass es fast wie ‘mad man’ klingt. „Wenn Sie Beschwerden haben, so teilen Sie diese bitte unserem Kundendienst mit, die Telefonnummer finden sie auf BAdotcom.”
Er rauscht davon.
„Was hat er gesagt Kind?”, fragt Mutter argwöhnisch. Sie versteht zwar ganz gut Englisch, hat aber von dem schnellen Gespräch nur den gereizten Tonfall mitbekommen.
„Es ist nichts, gar nichts. Wie ist dein Sandwich Mama?”
„Schmeckt nach Pappe. Warum war er denn so böse?”
Ich muss sie ablenken, bevor ich hier noch in Tränen ausbreche. Meine Wangen brennen, ich fühle mich so gedemütigt und gemaßregelt. Was ist das nur für ein fürchterlicher Tag?
Mutter hat aufgegessen und es folgt das Unweigerliche.
„Ich muss noch mal, Doro.”
Das ist nun wirklich der denkbar ungünstigste Moment, da der Essenwagen immer noch vor unserer Reihe steht und der eingeschnappte Steward verschwunden ist.
„Mama, das geht jetzt nicht, kannst du nicht noch ein bisschen warten?”
Sie nickt tapfer und beißt sich auf die Lippen Ich verrenke den Hals nach hinten. Der Steward ist zwei Reihen hinter mir und tut so, als ob er mich nicht bemerkt.
„Entschuldigung.”
Ich stehe auf, damit man mich besser sehen kann.
Der Engländer neben mir grunzt empört, als ich dabei aus Versehen seine Zeitung umknicke.
„Entschuldigung!”, rufe ich lauter, jetzt ist schon alles egal. So ziemlich alle Leute außer dem Steward gucken zu mir hin.
„Entschuldigung!”, ich brülle nun fast. „Könnnen Sie bitte den Wagen wegschieben, meine Mutter muss mal auf die Toilette.”
„Natürlich, eine Sekunde bitte.”
Er lässt sich Zeit, Mutter ruckelt unruhig hin und her und dann ist es zu spät, alles ist zu spät. Unmissverständlich steigt Uringeruch auf, es plätschert ein bisschen unter ihrem Sitz. Sie weint und schluchzt etwas, das wie „so leid “ klingt.
Ich merke, wie ich ganz starr werde. Ich will mich fallenlassen, die Augen schließen und wieder Kind sein. Ein kleines Mädchen, das aus der Schule nach Hause kommt, seinen Ranzen in die Ecke wirft, die Mutter in der Küche arbeiten sieht und dann zu Moni spielen geht.
Nichts von dem hier ist wahr.
Um mich herum gaffen die Leute, fasziniert und angeekelt, der Steward schnaubt etwas hinter meinem Rücken. Der Mann rechts neben mir kriecht bald zum Fenster hinaus und links neben mir weint stumm und zuckend meine mitleiderregende, alte Mutter.
Mechanisch erledige ich, was von mir erwartet wird.
Ich tröste meine Mutter und mache sie sauber so gut es geht, beschwichtige das Personal, welches sich verständnisvoll zeigt (der Steward ist und bleibt verschwunden), ich wechsele verlegene Blicke mit den anderen Passagieren und rede unentwegt leise auf meine Mutter ein.
„Ist nicht so schlimm, Mama, das passiert ab und zu mal. Was glaubst du denn, wie oft das passiert. Die sind das gewohnt. Du siehst die doch alle nie wieder.”
Ich rede und rede, bis wir endlich landen. Mutter ist jetzt ganz still und blass geworden, kalte Feuchtigkeit steht ihr auf der Stirn. Wenn ich doch nur eine ihrer Beruhigungstabletten hätte.
Als das Flugzeug landet, bleiben wir sitzen, bis alle sich hinaus gedrängt habe, allen voran der Engländer neben mir.
Man sollte ihm ein Bein stellen, denke ich wütend.
Der Rollstuhl ist natürlich wieder nicht rechtzeitig da, aber was spielt das jetzt noch für eine Rolle. Wir warten, bis er kommt.
Ich will auch nicht mit dem Transportwagen fahren, den man mir anbietet, ich will einfach nur meine Ruhe und unser Gepäck und Fred an meiner Seite. Der Rollstuhl lässt sich ganz gut durch die verwinkelten Gänge in Heathrow schieben, es ist nicht anstrengend.
Meine Mutter macht ein Nickerchen. Die Arme, was für ein Erlebnis. Warum können wir nicht alle bis zum bitteren Ende im Besitz all unserer Kräfte bleiben.
Wir werden sie wieder wecken müssen, wenn wir sie ins Auto verfrachten, aber erst mal mache ich mir Gedanken über das Gepäck. Wundersamerweise stellt mir der Flughafen einen jungen Angestellten zur Verfügung, er grinst und schiebt linkisch den Wagen mit unseren beiden
kleinen Taschen. Viel haben wir nicht mitgenommen.
Es ist geschafft, es ist vorbei. Mein verkrampfter Körper entspannt sich mehr und mehr, je näher wir in Richtung Ausgang kommen. Jetzt sehe ich Fred, seine blaue Mütze ist leicht zu erkennen und ich winke ihm zu.
„Du glaubst nicht, was ich für einen Stress hatte!”
„Jetzt bist du ja da!”
Er lacht mir zu, doch dann fällt sein Blick auf irgendetwas neben mir und sein Lachen verschwindet.
„Ist sie in Ordnung? Is she okay?”
Ich weiß sekundenlang gar nicht, wen er meint, bis mein Blick auf Mutter fällt.
Meine Mutter, die weiß und schlaff im Rollstuhl sitzt. Die Augen sind einen Spalt offen und sie hat ein bisschen Speichel vor dem Mund, der durch keinen Atemzug bewegt wird.
„Mama?”
„Herzschlag, denke ich“, bestätigt mir ein wenig später der englische Arzt, der von irgendwoher aufgetaucht ist, angelockt durch mein hysterisches Schreien. Um mich herum steht eine Mauer aus Schaulustigen, von weitem kommen uniformierte Leute auf mich zu und jetzt endlich, das erste Mal an diesem Tag, beginne ich zu weinen.