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Seelenwanderung
Seelenwanderung
Sie hatte die Lehne des weichen Sessels so weit zurückgedreht, dass sie bequem und entspannt lag. Die Stereoanlage schickte zarte, beruhigende Klänge durch den abgedunkelten Raum. Selbst die Flamme der Kerze wogte gemächlich und ließ ihr Licht mit den Schatten auf den Wänden anmutig tanzen.
Vorsichtig legte sie beide Hände auf die Wölbung ihres Leibes. Mit geschlossenen Augen strich sie langsam über die Haut, konzentrierte sich, nahm jede Bewegung auf als einen zärtlichen Kontakt, für den sie sich mit Liebe bedankte, die sie über ihre warmen Hände zurückgab.
Eine Zärtlichkeit, die in wenigen Tagen noch viel intensiver, viel direkter sein würde, wenn sie ihr Kind in den Armen halten würde, an ihrer Brust, so nah.
Ihr war diese tägliche, bewusste Nähe wichtig wie Nahrung, wie das Atmen;
- bis der Schmerz kam.
Zuerst ganz zaghaft und erträglich wie ein kleiner glimmender Punkt. Aber er nahm zu, gewann an Kraft.
Ein Schmerz, der nicht so war, wie er sein sollte, nicht wie sie ihn erwartet hatte. Zunächst dachte sie, er würde vergehen. Sie versuchte, sich zu entspannen, sich auf den Punkt zu konzentrieren, der das heiße Brennen durch ihren Körper trieb. Doch die Pein wurde stärker und mit ihr wuchs die Angst um das Kind… nur um das Kind.
Mit zitternden Händen tastete sie nach dem Telefon. Jede Bewegung war, als überschwemmte ätzende Säure ihr Inneres. Kaum hatte sie die Nummer gewählt, zog das Brennen mit noch größerer Macht durch ihre Nervenbahnen und veränderte die Welt umher. Alle Konturen begannen zu zerfließen, wurden undeutlich, bis sie vergingen und es Nacht wurde um sie.
Irgendwann ging der Schmerz zurück, aber er war nicht besiegt. Er war noch da, in Ketten, er lauerte.
Hin und wieder wurde es heller um sie. Ein vertrautes Gesicht schälte sich aus dem Nebel, sorgenvoll, Tränen in den Augen. Sie spürte seine warmen Hände und sie taten gut. Dann hüllten die grauen Schleier sie wieder ein und zogen sie fort.
Der Schmerz schien an seinen Fesseln zu rütteln. Er wurde wieder stärker. Und wieder wurde es hell. Stimmen drangen durch Watte, Rufe, Befehle. Schatten tauchten durch das Grau ihres Bewusstseins, nahmen kurz deutlichere Umrisse an. Männer und Frauen in grünen Kitteln verschmolzen in gleißend hellem Licht.
Erst ging der Schmerz, dann die Angst.
Die Kälte wurde von angenehmer Wärme verdrängt, die sie einhüllte wie Decken aus zarten Wolken, leichte Wolken, die sie trugen und befreiten.
Sie sah die Welt wieder deutlich. Sie sah die Ärzte und Schwestern in ihren langen Kitteln, die Gesichter hinter Tüchern verborgen, die Haare unter Hauben. Sie mühten sich um die Frau, die dort vor ihnen lag, angeschlossen an Schläuche, verbunden mit blinkenden Monitoren. Sie glitt weiter hinauf. Je größer die Distanz zu dem wurde, was dort unter ihr geschah, umso deutlicher nahm sie sich selbst wahr.
Sie konnte sehen, fühlen. Eingehüllt in langsam rotierende Nebelschleier war das, was sie jetzt war, kein Mensch, nur die Essenz - sie. Wärme, Geist, Liebe und Glück.
Unter ihr Menschen, die sich hektisch um eine Hülle mühten, die ihr mehr und mehr fremd wurde.
Der Raum veränderte sich. Vor ihr schien die Atmosphäre dichter zu werden, erst eine Ahnung im Nichts, eine Veränderung, die sie mehr spürte als dass sie sie wahrnahm. Ein Punkt, der sich langsam drehte, verdichtete, größer wurde.
Auch sie veränderte sich. Ihr Glücksgefühl nahm in dem Maße zu, in dem der rotierende Nebel vor ihr an Substanz gewann. Langsam aber unaufhaltsam trieben sie aufeinander zu. Sie näherten sich, sanken herab. Zwei Wesenheiten, die zueinander gehörten.
Im Moment der Vollendung kam auch die Berührung, und mit ihr ein Gefühl, das mit Liebe und Glück nicht zu beschreiben war.
Ihr Kind!
Sie tauchten gemeinsam ein.
Als wäre eine schützende Glocke von ihr gerissen worden, war der Schmerz wieder da.
Nicht stark, gebändigt. Es war laut, kalt und unangenehm. Die Eindrücke der Welt überschwemmten sie. Stimmen vieler Menschen. Sie hörte Lachen, Erleichterung und dann... das Schreien eines Neugeborenen.
Für einen Moment kam ein Hauch des unbeschreiblichen Gefühls zurück,
nicht so allumfassend wie zuvor aber genug um zu lieben, denn sie wusste wie mächtig es in Wirklichkeit war. Es reichte für die Liebe eines ganzen Lebens und weit darüber hinaus.