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Seelenwanderung

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23.07.2001
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Seelenwanderung

Seelenwanderung

Sie hatte die Lehne des weichen Sessels so weit zurückgedreht, dass sie bequem und entspannt lag. Die Stereoanlage schickte zarte, beruhigende Klänge durch den abgedunkelten Raum. Selbst die Flamme der Kerze wogte gemächlich und ließ ihr Licht mit den Schatten auf den Wänden anmutig tanzen.
Vorsichtig legte sie beide Hände auf die Wölbung ihres Leibes. Mit geschlossenen Augen strich sie langsam über die Haut, konzentrierte sich, nahm jede Bewegung auf als einen zärtlichen Kontakt, für den sie sich mit Liebe bedankte, die sie über ihre warmen Hände zurückgab.
Eine Zärtlichkeit, die in wenigen Tagen noch viel intensiver, viel direkter sein würde, wenn sie ihr Kind in den Armen halten würde, an ihrer Brust, so nah.
Ihr war diese tägliche, bewusste Nähe wichtig wie Nahrung, wie das Atmen;
- bis der Schmerz kam.
Zuerst ganz zaghaft und erträglich wie ein kleiner glimmender Punkt. Aber er nahm zu, gewann an Kraft.
Ein Schmerz, der nicht so war, wie er sein sollte, nicht wie sie ihn erwartet hatte. Zunächst dachte sie, er würde vergehen. Sie versuchte, sich zu entspannen, sich auf den Punkt zu konzentrieren, der das heiße Brennen durch ihren Körper trieb. Doch die Pein wurde stärker und mit ihr wuchs die Angst um das Kind… nur um das Kind.
Mit zitternden Händen tastete sie nach dem Telefon. Jede Bewegung war, als überschwemmte ätzende Säure ihr Inneres. Kaum hatte sie die Nummer gewählt, zog das Brennen mit noch größerer Macht durch ihre Nervenbahnen und veränderte die Welt umher. Alle Konturen begannen zu zerfließen, wurden undeutlich, bis sie vergingen und es Nacht wurde um sie.
Irgendwann ging der Schmerz zurück, aber er war nicht besiegt. Er war noch da, in Ketten, er lauerte.
Hin und wieder wurde es heller um sie. Ein vertrautes Gesicht schälte sich aus dem Nebel, sorgenvoll, Tränen in den Augen. Sie spürte seine warmen Hände und sie taten gut. Dann hüllten die grauen Schleier sie wieder ein und zogen sie fort.
Der Schmerz schien an seinen Fesseln zu rütteln. Er wurde wieder stärker. Und wieder wurde es hell. Stimmen drangen durch Watte, Rufe, Befehle. Schatten tauchten durch das Grau ihres Bewusstseins, nahmen kurz deutlichere Umrisse an. Männer und Frauen in grünen Kitteln verschmolzen in gleißend hellem Licht.
Erst ging der Schmerz, dann die Angst.
Die Kälte wurde von angenehmer Wärme verdrängt, die sie einhüllte wie Decken aus zarten Wolken, leichte Wolken, die sie trugen und befreiten.
Sie sah die Welt wieder deutlich. Sie sah die Ärzte und Schwestern in ihren langen Kitteln, die Gesichter hinter Tüchern verborgen, die Haare unter Hauben. Sie mühten sich um die Frau, die dort vor ihnen lag, angeschlossen an Schläuche, verbunden mit blinkenden Monitoren. Sie glitt weiter hinauf. Je größer die Distanz zu dem wurde, was dort unter ihr geschah, umso deutlicher nahm sie sich selbst wahr.
Sie konnte sehen, fühlen. Eingehüllt in langsam rotierende Nebelschleier war das, was sie jetzt war, kein Mensch, nur die Essenz - sie. Wärme, Geist, Liebe und Glück.
Unter ihr Menschen, die sich hektisch um eine Hülle mühten, die ihr mehr und mehr fremd wurde.
Der Raum veränderte sich. Vor ihr schien die Atmosphäre dichter zu werden, erst eine Ahnung im Nichts, eine Veränderung, die sie mehr spürte als dass sie sie wahrnahm. Ein Punkt, der sich langsam drehte, verdichtete, größer wurde.
Auch sie veränderte sich. Ihr Glücksgefühl nahm in dem Maße zu, in dem der rotierende Nebel vor ihr an Substanz gewann. Langsam aber unaufhaltsam trieben sie aufeinander zu. Sie näherten sich, sanken herab. Zwei Wesenheiten, die zueinander gehörten.
Im Moment der Vollendung kam auch die Berührung, und mit ihr ein Gefühl, das mit Liebe und Glück nicht zu beschreiben war.
Ihr Kind!
Sie tauchten gemeinsam ein.
Als wäre eine schützende Glocke von ihr gerissen worden, war der Schmerz wieder da.
Nicht stark, gebändigt. Es war laut, kalt und unangenehm. Die Eindrücke der Welt überschwemmten sie. Stimmen vieler Menschen. Sie hörte Lachen, Erleichterung und dann... das Schreien eines Neugeborenen.
Für einen Moment kam ein Hauch des unbeschreiblichen Gefühls zurück,
nicht so allumfassend wie zuvor aber genug um zu lieben, denn sie wusste wie mächtig es in Wirklichkeit war. Es reichte für die Liebe eines ganzen Lebens und weit darüber hinaus.

 

Hallo Dreimeier,

mir hat deine Geschichte recht gut gefallen, vor allem, weil du sie recht einfühlsam beschreibst.

Allerdings kennt man solche Dinge, wie du sie hier schreibst, natürlich schon aus Büchern und Filmen. Insofern: Wirklich neu, ist die Idee nicht.

Sprachlich jedoch sehr schön umgesetzt.

LG Bella

 

Die sprachliche Umsetzung hat mir auch sehr gefallen.
Wenn ich es richtig verstehe beschreibst du die Vorfreude auf das Baby, Ungeduld in der Erwartung es endlich im Arm halten zu können. Dann die einsetzenden Wehen, die Komplikationen die auftreten.
Dramatisch eine Nahtoderfahrung ( so lese ich es heraus, wenn ich mich nicht absolut irre). Für mich nicht ganz nachzuvollziehen, die Bedeutung des Neugeborenen in dieser Situation. Einerseits hat sich die Seele der werdenden Mutter bereits vom Körper getrennt und beobachtet die Situation "von außen". Sie entfernt sich.

Dann

Zwei Wesenheiten, die zueinander gehörten. Im Moment der Vollendung kam auch die Berührung, und mit ihr ein Gefühl, das mit Liebe und Glück nicht zu beschreiben war.
Ihr Kind!
Sie tauchten gemeinsam ein.

Was für mich offen bleibt, was holt sie zurück? Der erste Schrei des Neugeborenen? Den kann man womöglich während solch einer "Nahtoderfahrung" hören, doch ist das ausreichend?
Du schreibst von einer Berührung. Bei einer Geburt, bei der es um Leben oder Tod geht, in diesem Fall der Mutter, kann ich mir nicht vorstellen, dass die Ärzte ihr das Baby "auf den Bauch" legen, so wie es normaler Weise praktiziert wird. Somit würde ein Körperkontakt nicht stattfinden können. Erfahrungsgemäß kümmert sich ein Team um die Erstversorgung des Kindes. Das zweite Team hat alle Hände voll zu tun um die Mutter zu retten.
Oder aber macht das Baby ebenfalls diese "Nahtoderfahrung" und sie "treffen" sich um gemeinsam zurück zu kehren? Wenn ja, warum?
Ich weiß, ein schwieriges Thema, weil wenig erforscht und daher schwer vorstell. - bzw. vermittelbar.

Für mein Gefühl hast du zwei Ereignisse sehr kompakt miteinander verknüpft. Ich glaube, du könntest aus dem Thema noch etwas mehr "herausholen" indem du ein wenig ausführlicher auf die "Seelenwanderung" eingehst.

Ich hoffe, du nimmst mir meine Worte nicht all zu übel.

lg sorceress2001

 

Hallo Bella,
hallo sorceress,
Seelenwanderungen und Nahtoderfahrungen sind schon so oft beschrieben worden, daß man da eigentlich nichts neues mehr bringen kann. Da habt ihr absolut Recht.
Diese Geschichte entstand auch nur, weil meine Frau bei der Geburt unserer Tochter eben diesen Vorgang geträumt hatte.
Es war ein ganz normaler Kaiserschnitt (Gott sei Dank) und die beschriebene Dramatik entstammt nur meiner Phantasie.
Ich meine aber, wenn man ganz genau liest, wird man den Ablauf verstehen:
...........
Dann die einsetzenden Wehen,
........... Es sind keine Wehen.
...........
Ein Schmerz, der nicht so war, wie er sein sollte, nicht wie sie ihn erwartet hatte.
........... Keine Wehen also, sondern etwas Anderes. Da ich von Medizin außer überzeugend zu jammern nichts verstehe, bin ich darauf nicht näher eingegangen.

..........
Für mich nicht ganz nachzuvollziehen, die Bedeutung des Neugeborenen in dieser Situation.
.......... Das ist genau die Sache, die meine Frau geträumt hatte. Der geistige Zustand der Mutter zeigt sich als Drehender Wirbel. Dann bildet sich der zweite Wirbel, der des Kindes. Hier bin ich nicht so ganz deutlich, was die Traumvorgabe betrifft: Wie auch im Traum soll es so sein, daß kurz vor der Geburt der Geist des Kindes erscheint und in den Körper strömt oder Fließt oder so. Meine persönlich Überzeugung ist aber eine Andere.

..........
Was für mich offen bleibt, was holt sie zurück?
........... In dieser kritischen Situation ist es ja so, daß die Ärzte um das Leben der Mutter und des Kindes kämpfen. Die Mutter ist aus ihrem Körper gestiegen, das Kind kommt... woher auch immer.
Was sie zurückholt bleibt offen. Zum Einen können es ganz einfach die medizinischen Künste sein, zum Anderen aber auch der Wille zum Leben, der durch die Berührung der beiden Wesenheiten geweckt wurde.

............
Oder aber macht das Baby ebenfalls diese "Nahtoderfahrung" und sie "treffen" sich um gemeinsam zurück zu kehren? Wenn ja, warum?
........... Genau! Nur bei dem Kind ist es keine Nahtoderfahrung. Die Mutter ist im Begriff zu gehen, das Baby kommt. Gehen beide ihren Weg weiter, stirbt die Mutter bei der Geburt. Hier berührt sie aber ihr „Kind“ und kehrt mit ihm zurück.
Vielleicht könnte ich noch deutlicher machen, daß die außerkörperliche Berührung der Mutter Kraft gibt, mal sehen. Sicher ist aber, daß die Berührung außerkörperlich ist. Auf den Bauch legen ist also hier nicht beschrieben.

..........
Ich hoffe, du nimmst mir meine Worte nicht all zu übel.
........... Quatsch! Wem ist denn nur mit Kuschelkritik gedient? ;)

Ich danke euch beiden für Lob und Kritik.
Liebe Grüße
Manfred

 
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He Solveig,
eine tolle Interpretation, gefällt mir ausgesprochen gut.
Sogar die Tränen des Mannes passen da.

Danke fürs Lesen
LG Manfred

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo manfred.
Wie nahe doch Todes - und Lebenserfahrung zusammenliegen ist aus deinem Text zu entnehmen. Es deckt sich mit vielen dahingehend gemachten Erfahrungen.
Schön, dass du den Philosphischen Aspekt in den Grauzonen der Gedanken des Lesers beläßt.
Sprachlich und inhaltlich gefällt es mir.

Gruß Lord

 

Hallo Lord,
danke für das Lob.
Ich bin überzeugt davon, daß Körper und Seele getrennt voneinander existieren können.
Der Körper ist ein Mittel, dem sich der Geist bedient, um in dieser Welt agieren zu können. Eine biologische Maschine, die der Geist nutzt.

Ich denke eine Geschichte wird u.a. dann interessant, wenn man nicht alles erklärt, sondern es manchmal bei Andeutungen beläßt oder Vorgänge beschreibt ohne diese direkt zu kommentieren.
Der Leser beschäftigt sich dann wohl mehr mit dem Text und ist besonders auf der Gefühlsebene relativ frei.

Gruß
Manfred

 

Hi Manfred,

wieso habe ich diese wunderbare Geschichte nicht schon früher gesehen? :hmm:


Ich sehe das Austreten der Seele, deiner Prot, genauso wie Solveig.
Deine Prot hat den Körper verlassen, vielleicht auch, weil die Anspannung zu groß war.
Wenn der Körper zu schwach wird, trennt sich die Seele. Dabei muß man nicht gleich sterben.
Doch spielt es keine Rolle, ob es nur ein verlassen war, oder ein Nahtoterlebnis.
Die Seele des Kindes, hat deine Prot in den Körper zurückgeführt.
Eine wunderbare Erfahrung hat deine Frau da gemacht. :)

Egal ob man soetwas schon 1000x gelesen hat. Du hast es ergreifend rübergebracht.
Und ein Traum, war es sicherlich nicht. ;)

ganz liebe Grüße, coleratio

 

Ach wie schön, dass coleratio Deine Geschichte wieder ausgegradben hat, Manfred, sonst hätte ich sie wohl nicht gefunden.

Mit Deinen Worten scheint einfach alles zu stimmen, die Geschichte ist rund wie eine Kugel. Eine wunderbar ausgereifte, einfühlsame Beschreibung dieser wichtigen Momente. Und das von einem Mann!! :thumbsup:

Sie sah die Ärzte und Schwestern in ihren langen Kitteln, die Gesichter hinter Tüchern verborgen, die Haare unter Hauben. Sie mühten sich um die Frau, die dort vor ihnen lag, angeschlossen an Schläuche, verbunden mit blinkenden Monitoren.
hier dachte ich anfangs, Du würdest die Perspektive wechseln, und wollte schon meckern. Bis beim nächsten Satz klar wird, dass nicht Du die Perspektive wechselt, sondern sie ...

liebe Grüße
Anne

 

Coleratio habe ich bereits geantwortet.

Anne, nun zu dir!
Äääähm.... Was soll ich sagen? Ich freue mich einfach.
Danke! Am Sonnabend gebe ich dir einen aus:

Ach, übrigens: Heute hat die wilde Katze, die sich manchmal von mir streicheln lässt eine halbe Maus auf unserer Terrasse liegenlassen.
Hinterbeine und den halben Kopf.

Schämt euch ihr Mäuse!

 

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