Seemannsgarn
Es war ein eisiger Winterabend zur Zeit der Jahrhundertwende. Im tief verschneiten Hafen dümpelten Segelschiffe still vor sich hin. Nur in den behaglichen Seemannskneipen entlang der Piers, herrschte Betrieb.
Seit Stunden saß im Klabautermann eine Handvoll junger Matrosen. Sie tranken Grog und erzählten sich Geschichten von längst vergangenen Abenteuern.
„Wisst ihr noch, wie ich dem Langen Hans eins mit dem Marlspieker übergezogen habe?“, brüstete sich Jens.
„Ja, ja der Lange Hans. Ihm verdankst du doch deine Augenklappe, nicht wahr? Hast wohl nicht fest genug zugeschlagen, was?“, konterte Sven. Schallendes Gelächter.
„Hört doch auf, ihr alten Filzläuse! Auch mit einem Auge bin ich immer noch der Beste im Ausguck. Aber du mit deinem Holzbein! Warst unvorsichtig beim Fischen und hast im besoffenen Kopf den Hai nicht rechtzeitig abgestochen.“ Wieder schallendes Gelächter. So ging es eine Weile hin und her bis ihnen der Gesprächsstoff ausging.
Da stieß Sven den Jens in die Seite.
„Du, schau mal dort drüben! Da sitzt einer, schon den ganzen Abend.“
„Hm, du hast recht. Der sieht so aus, als ob er schon viel erlebt hätte. Ich habe eine Idee! Passt auf, Leute!
Ahoi, Alter! Ja, Ihr da drüben in der Ecke. Kommt zu uns herüber. Wir spendieren einen Grog für gutes Seemannsgarn!“
„Ho, ho! Das ist ein Wort!“
Der alte Seebär schlurfte herüber, groß, breitschultrig, die schlohweißen Haare im Nacken gebunden. Unzählige Fältchen durchzogen das wettergegerbte Gesicht, das schon längere Zeit kein Rasiermesser mehr gesehen hatte. Im linken Ohrläppchen funkelte ein großer Diamant. Stahlgraue Augen musterten amüsiert die Jungmatrosen.
„Nun, was wollt ihr Grünschnäbel?“
„Ihr seid sicher weit herum gekommen und habt ein paar Geschichten auf Lager“, antwortete Jens grinsend.
„Ah, ihr wollt also Seemannsgarn! Mal sehen, was sich machen lässt. Spendiert mir einen Grog, damit ich in Fahrt komme.“
Der Alte nahm einen Schemel und setzte sich. Ein Wink von Jens und der Wirt brachte einen dampfenden Becher.
„Ich bin Raimund. War erster Maat auf der Ikarus. Hab so einiges erlebt.“
Er trank einen Schluck und zündete sich umständlich seine Pfeife an. Sven und die anderen rückten dichter zusammen.
„Die Ikarus war ein prächtiger Dreimaster, gerade vom Stapel gelaufen. Unsere Jungfernfahrt im Frühjahr 1845 ging nach Bombay, sollten Gewürze und Seide hierher bringen. Lohnende Sache, so was! Wir segelten entlang der Westküste Afrikas zum Kap der Guten Hoffnung. Da ging vielleicht die Post ab, sag ich euch! Starke Winde kamen auf, die Wellen waren oft haushoch. Doch die Ikarus trotzte allen Wettern. Sie brachte uns sicher in die Straße von Mosambik.
Wir brauchten frisches Wasser und steuerten deshalb die Komoren an. Kurz vor dem Ziel, Teufel noch mal, gerieten wir in Schwierigkeiten.
Nebel kam auf, richtig dicke Suppe. Dazu eine völlige Flaute.
Also, Segel reffen, Positionslampen anzünden und regelmäßig die Schiffsglocke läuten. Eine Havarie hätte gerade noch gefehlt.
Langsam trieben wir dahin. Absolute Stille umgab uns. Nur der alte Jörg am Log rief alle paar Minuten die Tiefe zu uns herüber. Auf einmal wurde es seichter. Die Inseln!
Der Kapitän lies Anker werfen, denn mittlerweile sahen wir die Hand vor Augen nicht mehr. Außerdem gab es irgendwo verborgene Riffe, Gefahr aufzulaufen. Wir mussten unbedingt auf bessere Sicht warten, bevor wir anlegen konnten.
Ich machte es mir am Bug in einem Beiboot gemütlich. Da hörte ich ...“
„Was?“, fragten die jungen Burschen wie aus einem Munde.
„Seid nicht ungeduldig, Jungs! Ich brauche mal wieder einen Schluck. Erzählen macht durstig. Außerdem ist meine Pfeife kalt."
Raimund schlürfte an seinem Grog und zündete seinen Nasenwärmer wieder an.
„So, jetzt geht’s. Also, ich lag da in dem Beiboot und hörte auf einmal leise Hilferufe. Merkwürdig, dachte ich. Jemand über Bord gegangen? Gespannt ging ich zur Reling. Durch dicke Nebelschwaden sah ich an unserem Ankertau
etwas zappeln. War natürlich neugierig! Also Strickleiter ausgeworfen, runter geklettert und die Sache aus der Nähe betrachtet. Wirklich! Da bewegte sich etwas, tauchte auf, tauchte unter. Ich glaubte auch einen Arm zu sehen. Also ab ins Wasser. Prustend tauchte ich auf und sah ... eine Frau, eine nackte Frau!“
„Das ist starker Tobak, alter Mann! Wir sind vielleicht blöd, aber das Salzwasser hat unser Hirn nicht völlig zerfressen! Eine nackte Frau, mitten im Indischen Ozean!“ entrüstete sich Björn.
„Nein, mein Junge. Da zappelte wirklich eine Frau, eine wunderschöne Frau. Blonde Locken fielen feucht auf ihre blassen Schultern. Ihre grünen Augen sahen mich flehentlich an.
‚Bitte‘ flüsterte sie, ‚rettet mich! Ich hänge fest! Mein ... Die Ankertrosse hält mich.‘
Ohne zu fragen tauchte ich hinab. Als ich die Augen öffnete, wäre ich bald ersoffen, weil ich vor Schreck den Mund aufriss. Vor mir wand sich ein silbriger Fischleib, die Schwanzflosse in unserem Ankertau verknotet. Ich schoss an die Wasseroberfläche zurück und starrte das Mädchen an.
‚Bitte! So helft mir doch!‘
Ich konnte nicht anders und tauchte erneut. Mühevoll befreite ich das Wesen aus seiner misslichen Lage und kam wieder hoch. Die schöne Nixe strahlte mich an.
‚Danke! Ich danke dir, edles Menschenwesen.‘
Befreit schwamm sie ein paar mal um mich herum. Ihre nackten Brüste tanzten auf dem Wasser. Mir stockte der Atem, sie lächelte.
‚Du hast mich gerettet. Ich will dich fürstlich belohnen. Komm mit in mein Reich!‘
‚Aber ich werde jämmerlich ersaufen!‘ wandte ich ein.
‚Nicht doch, vertrau mir!‘
Mir sträubten sich die Nackenhaare, aber die Neugier überwog. Also schwammen wir hinunter. Alle paar Minuten, immer kurz bevor mir die Luft ausging, küsste sie mich. Dabei blies sie mir ihren Atem in die Lungen.
Ein herrliches Riff tauchte auf. Wir wanden uns durch eine enge Spalte und gelangten in eine Höhle, die über dem Wasserspiegel liegen musste. Von irgendwoher drangen Licht und Luft ein. Das wunderbare Wesen setzte sich auf einen Felsen und lächelte. Welch eine Pracht! Das Gesicht eines Engels,
milchweiße Haut, üppige Brüste und ein Unterleib wie aus gehämmertem Silber! Ich konnte mich nicht satt sehen!
‚Du sollst nun deine Belohnung erhalten,‘ säuselte sie. ‚Hier, nimm soviel du tragen kannst.‘
Sie holte eine riesige Auster aus einer Nische und öffnete sie. Mir traten die Augen aus den Höhlen. Die Muschel war randvoll mit den feinsten Perlen. Zögernd erst, doch dann gierig, griff ich zu, bis meine Taschen voll waren. ‚Damit kannst du sorglos leben, edler Retter. Aber du bekommst noch etwas ganz besonderes von mir!'
Wieder griff sie hinter sich und brachte eine Perle zum Vorschein, so groß wie eine Apfelsine. Unmöglich, dachte ich. Einfach unmöglich!
‚Greif zu, lieber Freund und kehre in die Welt der Deinen zurück. Das Wasser hier ist nicht tief. Du kannst bequem zum Schiff zurück schwimmen.‘
Dann küsste sie mich noch einmal lange auf den Mund und glitt in die Tiefe. Ich brauchte einige Zeit um das Erlebte zu fassen, dann tauchte ich auf und schwamm zurück.“
Raimund sog an seiner Pfeife.
„Alles, was ich an diesem Tag erlebt hatte, behielt ich für mich. Ihr seid die ersten, denen ich davon erzählt habe.“
„Du lügst, Raimund.“
Jens war beinahe außer sich.
„So ein Seemannsgarn gefällt mir nicht! Nixen, schön und gut, aber die ziehen dich ins Verderben! Sie belohnen dich nie und außerdem küssen sie niemals Menschen.“
„Glaub was du willst, mein Freund. Aber seht her!“
Raimund griff in seine Hosentasche und holte einen Lederbeutel hervor. Langsam löste er die Verschnürung und öffnete ihn.
Auf dem Tisch lag eine Perle, beinahe so groß wie eine Männerfaust. Sanft spiegelte sich das Licht der Öllampe in ihrer milchigen, silbrig glänzenden Oberfläche. Sie war makellos.
„Das, das gibt’s nicht“, stammelte Sven. „Niemals! Alles Bluff.“
Raimund legte die Kugel vorsichtig in Svens Hände.
„Mein Gott, Leute, sie ist echt! Damit kenn ich mich aus!“
Schweigend nahm Raimund seine Kostbarkeit wieder an sich.
„Ich wünsche euch eine gute Nacht, Jungs. Für mich ist es Zeit. Ahoi!
Ach, noch etwas. Die Fahrt auf der Ikarus war meine einzige. Seitdem lebe ich von meiner Belohnung.“
Ohne ein weiteres Wort verließ der Alte die Kneipe. Die erschütterten jungen Matrosen aber, blieben sprachlos zurück.