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Seidenmutter
Die Blätter der Ulmen glühten in der Abendsonne und über den orangenen Gräsern schwebte Blütenstaub. Cédric dachte daran, wie er zum ersten Mal mit seiner Schwester zur Lichtung gegangen war. Der Schrebergarten seines Elternhauses glich heute einer Brache, weil Gian Carlo nicht mehr die Kraft hatte, das Unkraut zu jäten und die Brombeersträucher zurückzustutzen. Die Laube war efeuüberwachsen und die Tomatenpflanzen verdorrten. Aaskrähen hatten sich an ihrem Fleisch gütlich getan.
Cédric klopfte an die Tür, strich mit einer Hand über das alte Holz. Während er dem näherkommenden Pochen von Gian Carlos Gehstock lauschte, verfolgte er die grobe Maserung mit seinen Fingerspitzen, auf der Suche nach eingeschlossenen Erinnerungen. Dann öffnete sein Vater die Tür und Cédric ließ die Hand sinken.
Gian Carlo brachte kein Wort über die Lippen, aber er streckte sich seinem Sohn entgegen, als wolle er ihn umarmen, wie früher, als er das noch konnte. Die Spitzen seines grauen Schnäuzers hoben sich, die Lachfalten unter seinen Augen wurden tiefer. Schließlich sagte er: „Ich hab auf dich gewartet.“
Cédric spürte, dass sich sein Vater Mühe gab und ermahnte sich innerlich, dasselbe zu tun. Er nickte. Bei der ersten Berührung jedoch sackten Gian Carlos Züge zusammen, vielleicht war er es leid geworden, gute Miene zu spielen oder nur müde von seinen vierundachtzig Lenzen. „Seit der Beerdigung ...“
„Ich konnte nicht früher“, antwortete Cédric rasch und drückte seine Hand. Bemerkte die Altersflecken. Ein Zittern unter seiner kühlen Haut. Wegen des kraftlosen Griffs hätte er sie am liebsten abgeschüttelt. Nichts auf dieser Welt wurde konserviert, alles war vergänglich, nur die Gedanken an die Kunst seiner Schwester blieben existenziell.
„Das macht nichts“, erwiderte Gian Carlo. „Ich weiß, du bist beschäftigt. Komm doch rein.“
Sie saßen am Küchentisch, im spärlichen Zwielicht. Durch das offene Fenster konnte Cédric den Flieder riechen und hörte das Zirpen der Grillen. Über dem Wald schwebte eine einsame Wolke und Cédric glaubte, Glühwürmchen im Unterholz glimmen zu sehen, zahlreicher, je länger er sich konzentrierte.
„Machst du denn genug Geld?“, fragte Gian Carlo und musterte seinen Sohn. Die Augen wirkten ausdruckslos und glänzten wässrig. In den Gläsern der Nickelbrille spiegelte sich Cédrics vom Mondlicht erhelltes Gesicht. Cédric dachte an die zwei kleinen Teiche im schwarzen Torf. An ihnen kam man vorbei, auf dem Weg zur Lichtung. Er winkte ab. „Ich komm direkt von einem Job“, sagte er. „Muss nachher unter die Dusche.“
„Was machst du denn?“
„Ach, dies, das.“
„Immer noch mit Fassaden? Malen?“
„Ja, sowas auch.“
„Mh.“
Einen Moment schwiegen sie und Cédric erhob sich, schaltete das Licht an. „Ich mach mir einen Tee, ja?“
„Klar, bedien dich. Du weißt ja, wo du was findest. Bier sollte auch noch da sein.“
Cédric öffnete den Kühlschrank. Bis auf eine halbe Flasche Milch und einem bereits ranzig müffelnden Käse waren keine Lebensmittel darin. In einem Fach unten lagen zwei Bierflaschen. Sein Alter trank immer noch Kozel, das tschechische, welches im Dorfladen verkauft wurde. Cédric nahm sich eine Flasche. „Möchtest auch eins?“
„Ist gut, nein. Ich vertrags nicht mehr richtig.“ Gian Carlo hustete einen feuchten Lacher unter seinem Schnurrbart hervor. „Schau mal aufs Etikett, ist vielleicht abgelaufen.“
Cédric zog eine Schublade heraus, schnappte sich den Flaschenöffner und setzte sich zurück an den Tisch.
„Wo wohnst du denn jetzt? Wenn du willst ...“, begann Gian Carlo.
„Nur ein paar Tage, dann bin ich wieder weg. Ich will dir nicht zur Last fallen.“
Cédric öffnete das Bier und legte die Krone in den Aschenbecher. Er zündete sich eine Zigarette an und betrachtete Gian Carlo durch die Rauchschwaden. Sein Vater hatte noch nie so grau und zerbrechlich ausgesehen.
„Dann ist ja gut.“
„Ich kann ab und zu beim Hofer was machen. Er lässt mich manchmal bei sich schlafen und gibt mir für ein paar Tage Arbeit genug Essen, damit ich bis zum nächsten Job durchkomme. Wurst und Brot und so. Macht der ja alles selbst.“
„Mh.“
Nach einer Weile sagte Gian Carlo ohne seinen Sohn dabei anzusehen: „Du warst plötzlich verschwunden.“
„Was meinst du?“
„Na, auf der Beerdigung.“ Er begann sich eine Pfeife zu stopfen. Wegen seines steifen Arms dauerte es länger. Cédric hatte ihm in seiner Jugend hunderte Male dabei zugesehen. Doch diesmal kam es ihm so vor, als mache er das nur, um irgendeine Beschäftigung zu haben, um nicht in sich zusammengesunken auf dem Stuhl zu hocken. Er besaß noch genug Stolz, seinem Sohn diesen jämmerlichen Anblick zu ersparen.
„Ich hatte anschließend einen dringenden Job.“ Cédric nahm einen Schluck aus der Flasche. „Hat ordentlich was reingespült. Reicht bald für eine Wohnung.“
„Ja. Das ist gut.“
„Ist die Zuchtausrüstung noch da?“
„Hab sie schon lange hinten in den Garten gestellt. Die meisten der Kästen sind zersplittert. Staubige Dinger.“ Gian Carlo blickte aus dem Fenster in die heraufkriechende Dunkelheit. Die Silhouetten der Bäume verkohlte Schraffuren vor dem Dunkelviolett des Himmels, an dem sich die ersten Sterne zeigten. Dann widmete er sich wieder dem Stopfen seiner Pfeife und bis er damit zufrieden war, sagten sie beide kein Wort.
„Hast du was von Evelyn gehört?“, fragte Cédric in die Stille und kratzte mit den Fingernägeln am Etikett des Kozels.
„Ach, Junge“, seufzte sein Vater und ließ die Pfeife wieder sinken. „Das ist über vierzig Jahre her. Du musst das endlich vergessen.“ Er legte die Pfeife auf den Tisch, der Holm klopfte gegen die Platte. „Sie kommt nicht zurück.“
„Kannst auf dem Sofa schlafen“, sagte Gian Carlo. „Ich leg mich hin.“
„Danke.“
Cédric hörte zu, wie sich sein Vater im Badezimmer für das Bett fertig machte, löschte dann das Licht und zündete sich eine neue Zigarette an. Er dachte darüber nach, wie perfide es war, dass der Verlust eines Menschen ausreichte, um die Angehörigen, eine ganze Familie, aus der Bahn zu werfen.
Cédric war mit ihr in den Wald gegangen, zur Lichtung. Evelyn trug die Kartonbox mit den Löchern unter dem Arm, stellte sie in die fast kreisrunde Mitte zwischen den Maulbeersträuchern, hob den Deckel und ließ die Schmetterlinge frei. Dort sah er zum ersten Mal die Kokons außerhalb der Aufzuchtkästen und wie rasch sich die Tiere vermehrten.
Cédric hatte sich nur kurz zwischen den dichtstehenden Erlen und Pappeln versteckt, um zu pinkeln. Bei seiner Rückkehr war Evelyn nirgends zu finden, trotz rufen und lachen und schließlich seinen verzweifelten Schreien, sie solle aufhören ihn zu veralbern. Nur die Kartonbox lag noch da, wo sie sie zurückgelassen hatte.
Weinend rannte er nach Hause, strauchelte auf dem Feldweg und schlug sich die Knie blutig. Bis heute gab er sich die Schuld an ihrem Verschwinden. Aber was konnte ein Vierzehnjähriger dafür? Trotz wochenlanger Suche der Polizei war sie nie gefunden worden. Später nagte ganz besonders an ihm, dass sie im Streit auseinandergegangen waren.
„Wo hast du die Mottenkugeln her?“, hatte Evelyn gefragt.
„Was?“
„Ich hab eine Packung Mottenkugeln unter deinem Bett gefunden.“
„Spinnst du? Wieso durchsuchst du mein Zimmer? Ich habe Angst, die Viecher fressen Löcher in meine Kleider oder in die Bettdecke. So ist das!“
„Herrgott, Cédric“, hatte sie geseufzt und er verstand genau, dass sie ihn tadelte. Dieses Seufzen hatte sie von Gian Carlo geerbt. „Es sind Seidenspinner! Die fressen nur Maulbeerblätter.“
Die Erinnerungen an Evelyn lebten in ihm fort, ihre Arbeit mit den Insekten. Die Aufzucht der ekligen cremefarbenen Raupen. Das Gewinnen der Rohseide aus den Kokons. Entschälen und Haspeln eines hunderte Meter langen Fadens. Der muffig-erdige Moschusgeruch des Serizins, wenn sie die Seide entbastete. Das Verzwirnen des Fadens zu Garn.
Seit ihrem Verschwinden kam sich Cédric vor wie auf einem Webschiff, das von diesem Tag an Kett- und Schussfäden nicht mehr zu festem Stoff verband, sondern nur lose, zerrissene Fasern in seinem Leben übrigließ. Während seine Zigarette herunterbrannte, fühlte er, als säße sie in der dunklen Küchenecke neben ihm und er tastete mit der Hand an der kalten Wand entlang. Ein seidener Schimmer lag auf der Tapete.
Nachdem er das Bier geleert hatte, schlurfte er ins Wohnzimmer. Kopfschmerz kroch in seine Schläfen. Heiße Stiche. Über der Kleiderpuppe hing Evelyns Kunstwerk. Das Abschiedsgeschenk an ihre Mutter. Gewoben aus goldener Seide, das Endprodukt der jahrelangen Insektenzucht, die Vollendung von etwas Hässlichem in etwas Wunderschönes.
Seine filigrane Oberfläche schimmerte in der Finsternis. Anziehende Tröstlichkeit. Cédric fuhr mit den Fingern sachte über den Stoff. Feine Fäden hoben sich unter kribbelnder Elektrizität, Reibung zwischen der Wärme seiner Hand und der Kälte des Kleids. Bevor ihm die Tränen kamen, hob er es von der Puppe, legte sich auf die Polster des Sofas und schlüpfte darunter. Eine sanfte Decke, kühlend auf seiner sonnenverbrannten Haut. Die Uhr über dem Kamin zeigte halb vier, als er aufwachte und in den dunklen Zimmern nach einer Schere suchte.
Am nächsten Morgen hockten sie hinter dem Haus und tranken Kaffee. Das zerschnittene Kleid hatte Cédric im Hausmüll entsorgt. In den frühen Morgenstunden hatte es gewittert und der Geruch von Regen hing noch in der Luft. Gian Carlo saß auf dem Hocker, in dessen Holz sie als Kinder Tierfiguren geschnitzt hatten. Die Schmetterlinge stammten alle von Evelyn.
Cédric nippte an der Tasse und verbrühte sich beinahe die Lippen. Er pustete in den Kaffee und fragte, den Kopf nun seinem Vater zugewandt: „Wie war Mutter denn so? Vor ihrem Tod, meine ich.“
„Wärst du mal hier gewesen für sie.“
„Ich behalte lieber das Bild in Erinnerung, was ich von ihr habe.“
Sie schwiegen eine ganze Weile.
Dann fragte Cédric: „Hat sie was gesagt?“
„Was soll sie schon gesagt haben?“
„Naja, ich dachte, vielleicht erinnerst du dich an ihre letzten Worte.“
„Mmh. Nichts besonderes, denke ich.“
„Sicher?“
„Sie war nicht mehr so ganz bei sich in den letzten Wochen ...“
„Ach, vergiss es.“
„Du hättest nicht abhauen sollen.“
Cédric blieb still.
„Was war das für ein Job nach der Beerdigung?“, fragte Gian Carlo.
„Ich weiß, ich hab Scheiße gebaut. Ich will nicht darüber reden.“
„Sie war deine Mutter.“
„Ja.“
Cédric nahm einen Schluck des Kaffees, er schmeckte sehr bitter. Also stellte er ihn auf den Boden, erhob sich und schlenderte scheinbar leichtfüßig zu dem an der Hauswand lehnenden Aufzuchtregal. Scherben lagen auf den Steinplatten und glänzten in den ersten Sonnenstrahlen. Cédric stellte sich Raupen vor, die in den Glaskästen mit ihren unermüdlichen Mandibeln Löcher in Maulbeerblätter stanzten. Wie sie am Ende der Larvenphase die Seidenproduktion begannen.
„Wieso hast du das behalten?“, fragte Cédric und ergriff eine Strebe des Regals.
„Keine Ahnung. Wahrscheinlich wegen der Erinnerungen.“
Einen Moment war es still und dann erwachten bereits die ersten Grillen. Ein lauer Wind ging über die ungeschnittenen Hecken.
„Hilfst du mir mal hoch?“, fragte Gian Carlo in Cédrics Rücken.
Cédric drehte sich um. „Wohin willst du denn?“
„Mein Kaffee ist leer.“ Er zeigte auf seine Tasse, die jetzt auf Cédrics Hocker stand.
„Ich möchte mir den Garten ansehen.“
„Gut“, sagte Gian Carlo. „Dann hole ich mir danach neuen Kaffee.“
Cédric ging zu ihm und ergriff ihn am Handgelenk, zog ihn auf die in Pantoffeln steckenden Füße, während sich sein alter Herr mit dem Gehstock behalf.
„Sag mal, was wächst denn hier so alles?“, fragte Cédric.
„Tu nicht so interessiert. Weiß es doch auch nicht.“
„Gehen wir uns besser nicht auf die Nerven, bevor wir überhaupt ein paar Schritte gegangen sind.“
„Weißt du noch“, fragte Gian Carlo und humpelte über die Terrasse, „wie du die Seidenspinner genannt hast?“
„Motten“, sagte Cédric.
Gian Carlo lachte und bewegte sich mühselig weiter. Sein Sohn beobachtete den Gehstock. Das langsame Auf und Ab. Die Schläge, Tock, Tock, auf den Pflastersteinen, bis er die Grenze erreichte, an der sich die Natur allmählich ihren Teil des Grundstücks zurückeroberte. In der Mitte des Gartens lag eine ausbetonierte Vertiefung, die im Zentrum kugelförmig zulief und vor Jahrzehnten als Pool für die Kinder gedient hatte. Unkrautstraßen waren über die rissige Oberfläche gewandert. Die Engelsstatue auf dem Sockel nun verwittert und ihr Horn am Schalltrichter abgebröckelt.
Am Rand der Grube blieb Gian Carlo stehen und stützte sich auf den Knauf seines Stocks. „Ist schön hier“, sagte er. „Damals wie heute.“ Cédric blickte auf die Sonnenstrahlen, die durch die Hecken brachen. Silberner Staub tanzte in ihnen.
„Deine Schwester hat zehn Jahre auf dich gewartet“, sagte Gian Carlo. „Sie liebte das Wasser, genauso wie ihre Insekten.“
Lange antwortete Cédric nicht, starrte in die Grube und sagte dann: „Ich dachte, ich kann nicht weiterleben ohne sie.“
„Was hat die Zeit aus uns gemacht?“, fragte Gian Carlo, sah seinen Sohn an, der ihm abgewandt stand, und fügte hinzu: „Die Vergangenheit lebt für dich an diesem Ort.“
„Alles hier erinnert mich an sie. Das Haus, der Garten ... Das Kleid.“
„Das tut mir leid.“
„Du erinnerst mich an sie.“
Cédric gab seinem Vater einen Klaps gegen den Rücken, was ihn selbst erstaunte. Gian Carlo murmelte etwas unverständliches, hustete und einen Augenblick sah er aus, als wolle er sich mit seinem steifen Arm irgendwo in der Luft festhalten. Dann klappte er vornüber und stürzte mit einer halben Drehung rücklings in die Grube.
Gian Carlo schrie nicht. Seine Züge waren ganz ruhig und er blickte hoch zu seinem Sohn, scheinbar auf der Suche nach einer Regung, aber sich dann allein mit dessen Anwesenheit zufriedengebend. Cédric fand, er sah viel jünger aus als noch gestern, vitaler, trotz seines wahrscheinlich gebrochenen Schädels.
Er schaute dem Blut zu, wie es die grauen Haare verklumpte und unter seinem Kopf hervor floss, anfangs sprudelnd mit feinen Bläschen, dann ruhiger und nur noch schwach, bis es sich in Kuhlen sammelte. Mit dem rissigen Muster im Beton die Flügel einer Motte bildend, die schwer vor Nässe zum Sterben in die Grube getrudelt war, und Gian Carlos Blick erlosch.
Cédric blieb den ganzen Tag am Rand der Grube sitzen. Wusste nicht, ob er weinen oder lachen soll. Zeichnete mit den Fingern Schmetterlinge in den dick liegengebliebenen Blütenstaub. In der Dämmerung machte er sich auf den Rückweg zur Lichtung. Sobald der Mond seine Sichel über den Baumkronen zeigte, schimmerte die Seide in einem herrlichen Licht und ihre Spinner flogen auf, zu tausenden über den Maulbeersträuchern. Cédric schlüpfte in einen der seidenen Kokons. Ein zartgoldener Schimmer zitterte bei jeder seiner Bewegungen über die dichtgewebten Fadenknäuel. Er bettete sich ins behaglichweiche Nest, schlang die Arme um die Brust und schloss die Augen. Lauschte dem leisen Flattern der Flügel.