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Sein erster Schnee
Als sie am Morgen aus dem Fenster sah, war alles weiß. Noch kein richtiger Schnee, nur Reif, ein Vorbote des Frostes, überzog die Dächer der Häuser, jeden Strauch, mit einer weißen kristallenen Schicht, und die Erinnerung war wieder da:
Angela war 22 Jahre alt, Mutter von zwei süßen Jungen im Alter von drei und einem Jahr. Es war Anfang Dezember und sie lag im Krankenhaus. Verdacht auf Krebs.
Jeder auf der Station versuchte mit der Diagnose mehr oder weniger zu recht zu kommen, zeigte sich äußerlich stark, war aber innerlich zerbrechlich wie Glas. Die Schwestern waren lieb, betraten das Zimmer stets mit einem Lächeln, versuchten trotz allem Hoffnung in die Herzen der Patienten zu bringen, zeigten sich nachsichtig, wenn sie keinen Hunger hatten oder zu müde waren um aufzustehen. Da war die Nachtschwester, die immer versuchten sie so sanft wie möglich zu wecken, wenn es Zeit für die Medikamente war.
Eines frühen Morgens, es war noch dunkel, huschte sie fast geräuschlos ins Zimmer und verkündete verheißungsvoll
„Es schneit.“
Angela und ihre vier Zimmergenossinnen waren plötzlich hellwach, so schnell sie konnten waren sie aus den Betten, die Vorhänge zurück gezogen, standen sie schweigend und staunend vor den Fenstern, jede für sich in Gedanken versunken.
Der erste Schnee des Jahres.
Angela dachte an ihre Söhne, die aufgrund ihres Alters und der damaligen Bestimmungen nicht zu Besuch kommen durften. Sie vermisste sie sehr, der jüngere von ihnen hatte noch nie Schnee gesehen. Sie stellte sich vor, wie er seine Händchen ausstreckte, um die glitzernden Kristalle zu berühren. Sein großer Bruder hatte, als er so alt war, die Arme ausgebreitet und sich im Kreis gedreht, um die Flocken, die so lautlos vom Himmel fielen, zu fangen.
„Sein erster Schnee.“
Es war ihr gar nicht bewusst geworden, dass sie die Worte laut ausgesprochen hatte. Die Nachtschwester stand hinter ihr und sie spürte eine warme Hand auf ihrer Schulter.
„Das Wunderbare kommt oft unbemerkt.“
Es fiel ihr schwer etwas zu sagen, ihr Herz schlug in ihrem Hals und schnürte ihr die Kehle zu, hielt die Worte, die auszusprechen sie Angst hatte, zurück. Sie schluckte schloss die Augen, versuchte zu lächeln, die Maske der Unnahbaren aufzusetzen, doch es gelang ihr diesmal nicht. Fast tonlos tropften die Worte aus ihrem Mund.
„Sein erster Schnee, der vielleicht mein letzter sein wird und ich bin nicht bei ihm.“
Mit jeder Silbe, die über ihre Lippen kam, zerbrach, fast wie in Zeitlupe die Mauer, die sie um ihr Herz gebaut hatte, heiße Tränen der Verzweiflung bahnten sich ihren Weg über blutleere Wangen, sie spürte sanfte Arme, die sie hielten. Es tat so gut sich fallen zu lassen, mal nicht stark zu sein zu müssen.
„Schreib ihm einen Brief, es gibt sicher jemanden, der ihm vorliest.“
Ohne zu fragen war die Schwester zum du übergegangen, das in so einem Moment einfach angebrachter war.
Angela runzelte die Stirn, einen Brief?
Ihr Junge hörte nicht einmal bei Märchen zu, und dennoch beherzigte sie den Rat der Nachtschwester. Setzte sich ans Fenster und schrieb, erzählte von den weißen Flocken, die in so einer Menge von dem dunklen Himmel fielen, dass man glauben konnte darin zu ertrinken, glitzernde Kristalle, die sich so zart und sanft auf die Haut legten und dort zu Wasser wurden, das klar und durchsichtig war. Ohne Hektik, als ob es für sie keine Zeit geben würde, schwebten sie hinab, lautlos deckten sie die Welt mit einem weißen Schleier zu. Alles sah so friedlich aus, als ob es keinen Kummer geben würde.
Am nächsten Tag brachte ihr Mann ihr zwei Zeichnungen mit. Auf der einen war ein großes graues Haus und ein Wesen, das nur aus Kopf und Füssen bestand, welches aus einiger Entfernung drei anderen gleich aussehenden Wesen zu sah.
Auf der zweiten Zeichnung waren viele kleine Punkte oder Striche zu sehen.
Schnee, war ihr erster Gedanke und diesmal konnte sie, trotz der Tränen, die ihre Wangen hinab liefen, lächeln.
Angela hat im Laufe ihres Klinikaufenthaltes noch viele Briefe an ihre Jungs geschrieben, sie wurden so etwas wie Festhaltepunkte, wenn sie aufgeben wollte.
Zwei Jahre später sah sie ihre Jungs im Schnee tollen, konnte mit ihnen Schneemänner bauen, versuchten sie die leichten Flocken zu fangen, malten sie mit ihren Körpern Engel in die Schneedecke.
Das Wunderbare kommt oft unbemerkt, man muss es nur sehen.