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Sein erster Schnee

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08.01.2004
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Sein erster Schnee

Als sie am Morgen aus dem Fenster sah, war alles weiß. Noch kein richtiger Schnee, nur Reif, ein Vorbote des Frostes, überzog die Dächer der Häuser, jeden Strauch, mit einer weißen kristallenen Schicht, und die Erinnerung war wieder da:

Angela war 22 Jahre alt, Mutter von zwei süßen Jungen im Alter von drei und einem Jahr. Es war Anfang Dezember und sie lag im Krankenhaus. Verdacht auf Krebs.
Jeder auf der Station versuchte mit der Diagnose mehr oder weniger zu recht zu kommen, zeigte sich äußerlich stark, war aber innerlich zerbrechlich wie Glas. Die Schwestern waren lieb, betraten das Zimmer stets mit einem Lächeln, versuchten trotz allem Hoffnung in die Herzen der Patienten zu bringen, zeigten sich nachsichtig, wenn sie keinen Hunger hatten oder zu müde waren um aufzustehen. Da war die Nachtschwester, die immer versuchten sie so sanft wie möglich zu wecken, wenn es Zeit für die Medikamente war.
Eines frühen Morgens, es war noch dunkel, huschte sie fast geräuschlos ins Zimmer und verkündete verheißungsvoll
„Es schneit.“
Angela und ihre vier Zimmergenossinnen waren plötzlich hellwach, so schnell sie konnten waren sie aus den Betten, die Vorhänge zurück gezogen, standen sie schweigend und staunend vor den Fenstern, jede für sich in Gedanken versunken.
Der erste Schnee des Jahres.
Angela dachte an ihre Söhne, die aufgrund ihres Alters und der damaligen Bestimmungen nicht zu Besuch kommen durften. Sie vermisste sie sehr, der jüngere von ihnen hatte noch nie Schnee gesehen. Sie stellte sich vor, wie er seine Händchen ausstreckte, um die glitzernden Kristalle zu berühren. Sein großer Bruder hatte, als er so alt war, die Arme ausgebreitet und sich im Kreis gedreht, um die Flocken, die so lautlos vom Himmel fielen, zu fangen.
„Sein erster Schnee.“
Es war ihr gar nicht bewusst geworden, dass sie die Worte laut ausgesprochen hatte. Die Nachtschwester stand hinter ihr und sie spürte eine warme Hand auf ihrer Schulter.
„Das Wunderbare kommt oft unbemerkt.“
Es fiel ihr schwer etwas zu sagen, ihr Herz schlug in ihrem Hals und schnürte ihr die Kehle zu, hielt die Worte, die auszusprechen sie Angst hatte, zurück. Sie schluckte schloss die Augen, versuchte zu lächeln, die Maske der Unnahbaren aufzusetzen, doch es gelang ihr diesmal nicht. Fast tonlos tropften die Worte aus ihrem Mund.
„Sein erster Schnee, der vielleicht mein letzter sein wird und ich bin nicht bei ihm.“
Mit jeder Silbe, die über ihre Lippen kam, zerbrach, fast wie in Zeitlupe die Mauer, die sie um ihr Herz gebaut hatte, heiße Tränen der Verzweiflung bahnten sich ihren Weg über blutleere Wangen, sie spürte sanfte Arme, die sie hielten. Es tat so gut sich fallen zu lassen, mal nicht stark zu sein zu müssen.
„Schreib ihm einen Brief, es gibt sicher jemanden, der ihm vorliest.“
Ohne zu fragen war die Schwester zum du übergegangen, das in so einem Moment einfach angebrachter war.
Angela runzelte die Stirn, einen Brief?
Ihr Junge hörte nicht einmal bei Märchen zu, und dennoch beherzigte sie den Rat der Nachtschwester. Setzte sich ans Fenster und schrieb, erzählte von den weißen Flocken, die in so einer Menge von dem dunklen Himmel fielen, dass man glauben konnte darin zu ertrinken, glitzernde Kristalle, die sich so zart und sanft auf die Haut legten und dort zu Wasser wurden, das klar und durchsichtig war. Ohne Hektik, als ob es für sie keine Zeit geben würde, schwebten sie hinab, lautlos deckten sie die Welt mit einem weißen Schleier zu. Alles sah so friedlich aus, als ob es keinen Kummer geben würde.
Am nächsten Tag brachte ihr Mann ihr zwei Zeichnungen mit. Auf der einen war ein großes graues Haus und ein Wesen, das nur aus Kopf und Füssen bestand, welches aus einiger Entfernung drei anderen gleich aussehenden Wesen zu sah.
Auf der zweiten Zeichnung waren viele kleine Punkte oder Striche zu sehen.
Schnee, war ihr erster Gedanke und diesmal konnte sie, trotz der Tränen, die ihre Wangen hinab liefen, lächeln.

Angela hat im Laufe ihres Klinikaufenthaltes noch viele Briefe an ihre Jungs geschrieben, sie wurden so etwas wie Festhaltepunkte, wenn sie aufgeben wollte.

Zwei Jahre später sah sie ihre Jungs im Schnee tollen, konnte mit ihnen Schneemänner bauen, versuchten sie die leichten Flocken zu fangen, malten sie mit ihren Körpern Engel in die Schneedecke.

Das Wunderbare kommt oft unbemerkt, man muss es nur sehen.

 

Hallo Angela Redeker

wirklich sehr einfühlsam hast du deine Geschichte beschrieben. Die Verzweiflung der jungen Mutter, vielleicht nicht mehr genügend Zeit mit ihren Kindern verbringen zu dürfen, konnte ich deutlich spüren. Welch tragische Vorstellung es könnte einem selbst so ergehen. Man ist nie gefeit davor.
Den Vorschlag der Schwester ihren Kindern einen Brief zu schreiben finde ich wunderschön. Da hätte sie doch wenigsten auf diese Art Kontakt zu ihnen.
Es heißt ja nicht umsonst die Psyche spielt bei Krankheiten eine große Rolle.
Ich habe sie gerne gelesen.

Einen schönen Abend wünsch ich dir

Morpheus

 

Hallo Morpheus,
danke für deinen Kommentar. Freue mich, dass du die Geschichte gerne gelesen hast.
Oh ja, die Psyche spielt eine sehr große Rolle.
Gott sei Dank, gibt es Krankenschwestern, die immer noch den Patienten sehen und mitfühlen.

Auch dir einen schönen Abend

Angela

 

Hallo
danke fürs Lesen und Mutmachen!
Freue mich sehr, dass sie dir gefällt.

Liebe Grüße
Angela

 

hallo agela!
eine schöne geschichte die viel hoffnung spendet!
du hast die gedanken unnd ängste der kranken mutter gut beschrieben. nicht zu dramatisch. wie sie lage der versuchung standhält sich fallen zu lassen, und es dann nicht mehr schafft. und wie sie letztendlich doch noch den willen findet zu kämpfen!
ein schöne geschichte!
liebe grüße
frotte

 

Hallo frotte,
vielen Dank fürs Lesen meiner Geschichte, freue mich, dass sie dich angesprochen und dir gefallen hat. Es ist besonders schön zu lesen, dass es mir sogar gelungen ist ein klein wenig Hoffnung zu geben.

Liebe Grüße
Angela

 

Hallo Jo,
freue mich, dass auch du meine Geschichte gerne gelesen hast.
Es ist immer sehr schön zu erfahren, dass es mir gelungen ist die Geschichte so zu schreiben, dass der Leser sich in sie hineinfühlen kann und sich sogar mit dem Prot. freut.
Danke dafür und besonders für das Kompliment am Schluss deines Kommentar.

Liebe Grüße
Angela

 

Hi Angela,

das kann doch nicht wahr sein, wieso habe ich auf die Geschichte noch nicht geantwortet? Dabei habe ich sie schon vor längerer Zeit gelesen. :hmm:

Du schreibst immer mit so viel Gefühl, dass es mir so vorkommt, als hättest du deine Geschichten selber erlebt.

Du beschreibst ein 22jähriges (für mich noch) Mädchen, die in ihrem jungen Dasein mehr Kraft aufwenden muß, als manch einer in seinem ganzen Leben.
Der Mensch wächst mit seinen Aufgaben.

Wie schön, dass sie ihren Krebs besiegt hat und ihre Kinder aufwachsen sehen kann :)

Es ist wirklich ein Jammer, dass du in der letzten Zeit so wenig gepostet hast.
Denn es ist immer wieder schön, deine feinfühligen Geschichten zu lesen.

Ganz liebe Grüße, coleratio

 

Hallo Coleratio,
freue mich, dass du nun doch noch auf meine Geschichte geantwortet hast.
Aber ehrlich mir geht es auch oft so, ich lese eine Geschichte und komme dann irgendwie nicht dazu meine Meinung nieder zu schreiben und dann geht es nachher irgendwie unter. Aber um so schöner ist es zu erfahren, dass auch die sagen wir alten Geschichten noch gelesen werden.

Liebe Grüße an dich
Angela

 

Hallo Angela,

ich bin mal ganz faul und schliesse mich den anderen an :D

Schön, dass es ein Happy- End gab. Sehr gefühlvoll geschrieben, wobei mich nur eine Stelle ein wenig aus der Stimmung gerissen hat:

Angela dachte an ihre Söhne, die sie so vermisste, (zu der damaligen Zeit durften so kleine Kinder nicht zu Besuch kommen)

Vielleicht liegt es daran, dass ich persönlich es nicht besonders mag, wenn in Geschichten Erklärungen in Klammern eingeschoben werden, aber wie schon gesagt, es hätte mir besser gefallen, wenn es mit in den Text einbezogen gewesen wäre.

Das war's dann aber schon mit nörgeln ;)

Liebe Grüße,
gori

 

Hallo Gori,
du hast vollkommen Recht, dieser Satz mit der Klammer ist wirklich unschön.
Danke für den Tipp, habe es geändert. Hoffe, dass es so nun besser wirkt und die Stimmung, die beim Lesen entsteht nicht zerstört.

Liebe Grüße
Angela

 

Hi Angela!
Auch mir hat deine Geschichte sehr gut gefallen. Ja, man kann sich sehr gut in deine Prot. hineinversetzen. Du schreibst die Geschichte so einfühlsam und nachvollziehbar, als hättest du sie selbst erlebt. Wie viel ein Brief doch tun kann. Und manchmal nur für den der ihn schreibt. Obwohl ich selber schon ein paar "Krebs"-Geschichte geschrieben hab (sind nicht alle veröffentlicht) sieht man doch auch bei so nem Thema, dass es so viele Arten gibt da ranzugehen.
Ich hab die ganze Geschichte über gehofft, dass sie es schafft.
Vielen Dank für die Geschichte
LG
Eonna

 

Hallo Eonna,
es freut mich zu lesen, dass es mir gelungen ist die Geschichte so zu schreiben, dass du dich in meine Prot. hineinversetzen konntest, ja so gar mit gelitten und gehofft hast, dass sie es schafft.
Ja Briefe können viel bewirken, sie können Ventil sein und Anker.
Freue mich, dass du meine Geschichte gerne gelesen hast.

Lieben Gruß
Angela

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Angela,

sehr gefühlvoll geschrieben, natürlich kann man da einwenden, wie Grausam die Wirklichkeit oft ist. Doch es gibt halt auch die von Dir beschriebene Wirklichkeit und die Verbindung des medizinischen Wunders mit dem Alltagswunder `Schneefall´ ist gut gelungen.
Zu `Drehbuchmäßig´ kommt mir dies vor:

„Das Wunderbare kommt oft unbemerkt.“

Die Schwester hat da so einen schlauen Satz parat, ist es Verlegenheit oder Wissen?

Hier missfällt mir das „tropfen“, erinnert mich eher an Speichel:
Fast tonlos tropften die Worte aus ihrem Mund.
„Sein erster Schnee, der vielleicht mein letzter sein wird und ich bin nicht bei ihm.“

Tschüß... Woltochinon

 

Hallo Angela,
wieder mal eine sehr gefühlvolle Geschichte von dir. Schön auch, dass diese Geschichte ein Happy-End hat.
Da ich etwas ähnliches schon in meiner Familie erlebt habe, berührt sie mich auf der einen Seite sehr, auf der anderen Seite merke ich aber auch, dass es sehr schwer ist, die wirklichen Gefühle in einer Kurzgeschichte rüberzubringen. Verstehe es bitte nicht falsch, die Geschichte hat mir gefallen, aber sie ist mir irgendwie zu kurz und bringt für mich den Schmerz nicht wirklich rüber, den auch zum Beispiel die Angehörigen fühlen, wenn es darum geht, dass eventuell eine Mutter von zwei Kindern sterben muß, was hier ja zum Glück nicht passiert.
Aber vielleicht sehe ich es auch zu kritisch als Betroffene.
glg
carrie

 

Hallo Woltochinon,
ja die Wirklichkeit ist oft grausam, aber sie ist es eben nicht immer, dies was ich hier geschrieben habe ist ja passiert. Diesen einen Satz, der dir zu Drehbuchartig ist, den hat die Krankenschwester wirklich gesagt und gerade deshalb habe ich ihn nicht geändert. Und ganz ehrlich ich denke mal sie hat ihn nicht aus Verlegenheit gesprochen, da war mit Sicherheit Wissen oder vielleicht auch nur Vertrauen und Glauben an das Leben mit dabei.
Nun sicher missfällt dem einen oder anderen mal ein Ausdruck, ich fand tropfen passend und möchte es deswegen nicht ändern.

Liebe Grüße
Angela

 

Liebe Carrie,
schön dich mal bei mir zu lesen.
Um den Schmerz, den die Angehörigen fühlen ging es in dieser Geschichte nicht, es ging einzig und allein um den Moment in dem Angela feststellt, dass ihr die Möglichkeit genommen ist, zumindest für den Moment, bei ihren Kindern zu sein, sie dürfen sie nicht besuchen, sie kann sie nicht in den Arm nehmen, kann eventuell nie wieder besndere Erlebnisse mit ihnen teilen, und vorallen Dingen kann sie diesen Moment des ersten Schnees nicht mit ihm teilen, bis die Schwester ihr den Tipp gibt.
Natürlich sehen und fühlen Angehörige dies anders und meistens verstehen sie nicht wirklich was in dem Patienten vorgeht denn sie fühlen ihren Schmerz, doch darum ging es hier nicht.

Liebe Grüße
Angela

 

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