Sein Haus
Ich rannte durch die Straßen, als jagten mich tausend Hunde. Ich hatte ihn immer vor Augen. Ich sah, wie er sich die Zähne putzte, sah, wie er den Fernseher anschaltete, sah, wie er sein Glas Wein trank.
Heute wollte ich in sein Haus, alles erklären. Heute wollte ich die Wahrheit offenbaren, die für immer versteckt bleiben sollte. Wir liebten uns ohne Zweifel. Wir liebten den Blick des anderen, die Sprache, die Berührungen. Wir liebten uns, wie wir nie zuvor geliebt hatten. Aber er war tot. Und ich lebte. Und ich ließ nicht zu, dass ich mit einer Lüge weiterleben sollte. Ich hielt an der Straßenecke an. Sein Haus leuchtete aus allen Fenstern. Es stand da, als wäre nie etwas geschehen. Ich sah die Bank unter dem Baum, auf der wir nie gesessen waren. Ich sah den Briefkasten, den nie ein Brief von mir füllte. Ich sah die Türe, deren Griff ich nie berühren konnte. Ich sah das Auto, das habe ich gekannt! Ich habe es selbst einmal gefahren. Damals hatte er zuviel getrunken, war schon beim Einsteigen fast eingeschlafen. Gib mir die Schlüssel hatte ich gesagt, ohne ihn anzusehen, Er gab sie mir und wir tauschten ohne ein Wort die Plätze. Wir hatten uns nie richtig kennen gelernt. Wir lebten aneinander vorbei, mit der Gewissheit und schon immer gekannt zu haben. Wir sahen uns an und wussten, dass uns nichts trennte, wenn wir lächelten. Wir hielten uns im Arm und ich zitterte, wenn er mir erzählte, wie lange wir uns nicht sehen würden. Ich hasste seine Abwesenheit. Und ich hasste seine Verpflichtungen. Wir hätten uns irgendwann gefunden, sowieso, sagte er immer, ob jetzt oder später, welche Rolle spielt das? Ich fand wohl, dass dies eine Rolle spielte und verfluchte den Tag, an dem er geboren worden war. Er lachte nur und zerzauste mein Haar, bis ich nichts mehr sehen konnte. Als ich dann lachen musste, musste er schon wieder gehen. Und wir sahen uns nicht mehr an, weil wir Abschiede nicht ertragen konnten. Wir hatten sie einfach weggelassen. Ich zog meine rote Windjacke fester um mich. Ein Schritt trennte mich von der Straße. Ich trat einen Schritt vor, ohne mich umzusehen. Ich sah die Tür und die Klingel, auf die ich bald drücken sollte. Die Klingel war groß und weiß und ich kannte den Text für die Sprechanlage. Das Gartentor ließ sich öffnen, als hätte es mich schon erwartet. Ich hörte Stimmen, die ich noch nie zuvor gehört hatte. Ein Kind schrie. Die Klingel schellte. Eine Stimme meldete sich. Sie klang verweint und verzerrt. Ich kannte sie nicht. Ich beugte mich zum Sprechfenster und hielt inne. Dann kam es über meine Lippen, laut und vernehmbar und das Geheimnis erlosch: „Ich war die Geliebte Ihres Mannes.“