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Sekundenreisen
Die U-Bahn ist selten so voll wie heute. Dicht an dicht drängen sich Männer und Frauen, Schwarze und Weiße, Japaner und ihre Kameras. In Hüfthöhe ersticken Kinder, deren Mütter sie nicht verstehen. Andere, Mütter mit Kinderwagen, schütteln ungläubig den Kopf und warten auf die nächste Bahn.
Es kostet Geduld, wer einen Sitzplatz will, andere zahlen mit dem Leben. Also bleiben meine blanken Nerven und ich stehen und stoßen unauffällig gegen den Vordermann, der es nicht unterlassen kann, seinen schweißnassen Arsch gegen unseren Schritt zu drücken. Lass das!
Hauptbahnhof – die Lage entspannt sich. Menschenmassen strömen aus und ein. Aufatmen, Einatmen, halten. Schultern kreisen, Kopf tief senken. Augen schliessen, Schläfen reiben. Ausatmen. Flucht.
Lass das!, will ich schreien, als sich die nächste Hüfte in mein Becken presst.
Ich breche meinen Ausflug ab, hole zum verdeckten Schlag aus, öffne die Augen und kann ihnen kaum trauen: Kein feuchter Fettsack, sondern der perfekteste Hintern, den ich je gesehen habe, schmiegt sich an mich. Verpackt in ein feuerrotes, seidenes Kleid.
Bluthochdruck und Herzrasen, fast schon Kammerflimmern, sind hier unliebsame Symptome, im Bett vermisse ich sie schon lange. Tausende Gedanken schiessen durch meinen Kopf. Alles ist dabei, vom Analverkehr bis zum Zahnarztstuhl, doch nichts trägt zur Linderung bei. Im Gegenteil.
Ich werde zum Schwellkörper und bin nur einen Herzschlag davon entfernt zu explodieren.
Die Krawatte sitzt eng, die Hose immer enger. Ich weiß nicht, wie es um mich geschieht, als sie beginnt, sich subtil aber deutlich spürbar an mir zu reiben. Fast wird mir schwarz vor Augen. Erst als es mir gelingt, mit einer Hand den Schlips zu lockern, klärt sich mein Blick und mir wird eine scheinbare Autonomie zu Teil, die mich zwingt die andere Hand zwischen meine blanken Nerven und ihren seidenen Hintern zu schieben.
Nervöses Pochen, ich blicke um mich: Ein Jugendlicher hüllt sich in seine Kapuze, hört Musik und scheint sich in eine andere Welt zu träumen. Eine gebeugte, alte Frau versteckt ihr Gesicht unablässig in einer Handtasche und auch die übrigen Fahrgäste wollen woanders sein, überall, nur nicht hier. Sie versuchen sich, wie ich sonst auch, der klaustrophoben Enge des Abteils zu entziehen, indem sie in die Karibik, die Anden, nach Irland oder einfach nach Hause fliegen.
Doch ich will, mit purer Manneskraft in den Lenden, von allen unbeobachtet und mit meiner Hand am Sinnbild makelloser Weiblichkeit, an keinem Strand nach Muscheln suchen, hohe Gipfel erklimmen oder einfach nur zu Hause sein. Ich bin hier – in der U-Bahn – und geniesse sie das erste Mal. Ich fliehe hinein, verliere mich in der Materie, immer tiefer. Bald ist es dunkel um mich. Am Ende eines langen Tunnels verblasst der letzte Lichtstrahl. Es gibt nur noch mich und sie, in ihrem roten Kleid. Ich fühle ihr weiches Fleisch und sie fühlt mich. Die Enge wird zu Nähe, zu tiefer Vertrautheit. Ihre Schenkel münden im Schritt.
Eine Locke streift mein Gesicht. Herzstillstand,
sie dreht sich zu mir.
Die blecherne Ankündigung des nächsten Haltes reisst mich aus der Tiefe und sie aus der U-Bahn. Da geht sie hin und lässt mich eiskalt zurück. Der Dunst, schwitzender, atmender Massen füllt den nun leeren Raum und über alles legt sich der übliche, graue Schleier, der trotz Rauchverbot und greller Neonreklame zur U-Bahn gehört, wie die Sekundenreise zur Rushhour.