Selbstzweifel
Sie ließ die vergilbte Postkarte aus ihrem Blickfeld sinken. Dies war der Ort, von dem sie immer geträumt hatte, der ihre Gedanken beherrscht hatte, seit jenem Tag. Es war der Ort an dem sie ihren letzten Mord begehen würde. Den Mord an sich selbst.
Vor zwei Monaten war sie zurückgekehrt. Als anderer Mensch, der den Vergleich zu vorher nur im Äußeren zu bestehen vermochte. Der Schein des Todes verfolgte sie, küsste sie jeden morgen mit seinem bitteren Mund wach und vernebelte ihre Gedanken.
Sie hatte getötet. Oder war es Mord? Wer wusste das schon? Ihre Vorgesetzten sagten, es wäre ihr Job gewesen, und sie hätte richtig gehandelt. Aber ihr Kopf wusste, sie hatte gemordet.
Und nun wurde sie selbst getötet, jeden Tag aufs Neue wurde ihre Seele erstickt.
Natürlich, es war Notwehr gewesen. Aber was machte das schon?
Das Auto hätte mit Sprengstoff bestückt, hätte sie alle in Stücke reißen können. Sie hatte nur das Scheinwerferlicht gesehen und hatte blind gefeuert. Kurz vor ihr war der Wagen stehen geblieben. Sie hatte aufgeatmet und mit ihrer Taschenlampe das Auto durchleuchtet.
Dort, auf der Hinterbank. Ein Kind von vielleicht zehn Jahren. Regungslos. Auf seine toten Eltern starrend.
An diesem Abend hatte sie zwei Menschen mit ihren Kugeln getötet. Aber der Blick dieses Kindes war tödlicher gewesen als jedes Gewehr. Er fügte ihr keine Gewalt zu, sondern ließ sie sich selbst töten, an Zweifeln.
Kurz nach jenem Tage hatte sie die Postkarte erhalten und nun blickte sie auf den erhabenen Berg, schneebedeckt und verhüllt von sanften Wolken. Unerschütterlich.
Sie stand am Rande eines kleinen Sees, dessen Ufer sanft gegen den Berg hin anstieg und gesprenkelt war mit weichen Tautröpfchen.
Dies war der richtige Ort zum Sterben.
Sie legte ihre Kleider sorgfältig neben das Ufer und steckte die Postkarte dazwischen. Der Wind ließ die mächtigen Pinien vor ihr sich biegen, doch er vermochte nicht sie zu brechen. Sie richtete ihren Blick auf den Berg und setzte einen Fuß ins Wasser.
Es war eisig; Genau richtig.
Es würde ihre Gedanken verstummen lassen.
Sie schloss die Augen.
Das Kind war dort, durchbohrte sie, ließ sie zittern.
Sie ließ los und fiel ins Wasser. Ihr Herz setzte einen Schlag aus und das Kind verschwamm vor ihren Augen, bis es bald darauf völliger Schwärze gewichen war. Sie öffnete die Lider und sah hinauf. Der Berg wirkte klein und unscharf durch das Wasser. Sie fühlte sich, als könne sie alles schaffen. Jeden Berg erklimmen.
Sie atmete aus und ließ den Druck von sich.
Sie schloss die Augen wieder und sog Wasser in ihre Lungen. Tausende Eisnadeln durchdrangen ihren Körper. Die Kälte wich einer Wärme, das tote Leben dem Tod.
Außerhalb des Wassers hob der Wind ihre Kleider empor und verstreute sie ins Tal.
Nun war sie frei.