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Serotonin
Als Hans W. am Ende seines Lebens angelangte, bedachte er seiner Zeit auf Erden.
"Ah, das Leben war nicht gut zu mir", klagte er unter einer grauen Steppdecke liegend. Er zog die Decke so hoch er konnte, bis ans Kinn. Doch dann lagen seine Füße frei und Alfred mußte das Lager wieder in den Ausgangszustand versetzen, was seinen Vater nicht daran hinderte erneut am groben Stoff zu zerren. Alfred nahm das schließlich verdrossen hin, der Alte spürte die Kälte in den Füßen ohnehin nicht mehr.
"Das Leben in dieser Gesellschaft war nicht schön. Man war nicht gut zu mir. Diese Gesellschaft verschandelt die guten Menschen, Alfred. Merkst du das?" Hans W. starrte seinen Sohn so intensiv an, als hinge jetzt alles weitere von dessen Antwort ab. Alfred bejahte, worauf Hans wieder in das tiefe Kissen sank und zufrieden lächelte.
"Ja, mein guter Junge. Du wirst deinen Weg schon machen. Sie werden es verhindern wollen, aber ich glaube der Alfi ist ein ganz Ausgebuffter."
Alfred blickte nachdenklich aus dem schmutzigen Fenster. Da überkam Hans W. ein Magenkrampf. Der stärkste bisher. Alfred rannte in die Küche, um Schiefer zu holen. Dieser eilte mit seinem Arztkoffer schnell herbei, die aufgezogene Spritze bereits in der rechten Hand, und versenkte die Nadel fachmännisch im Oberarm des Sterbenden. Sofort verging der Anfall und Hans entspannte sich, wie ein Igel sich entrollt, wenn die Gefahr vorüber ist.
Dankbar und erschöpft blickte Hans den Doktor an.
"Das war die höchste Dosis, die ich einem Menschen verabreichen kann. Das nächste Mal könnte das letzte sein", sagte Schiefer.
"Doktor, ich weiß ihre Bemühungen sehr zu schätzen. Aber sehen sie: Wenn Gott mich zu sich rufen will, werde ich mich fügen", seufzte Hans. Er atmete jetzt ausschließlich durch den Mund, wobei sein Unterkiefer schnappte, wie der eines Fisches auf dem Trockenen.
"Ich glaube nicht an Gott, Herr W."
Eine lange Stille trat ein. Hans schnappte jetzt unregelmäßig, Alfred starrte noch konzentrierter aus dem Fenster und der Doktor warf die benutzte Spritze achtlos in den braunen Papierkorb, der schon mehrere Vorgänger der Selbigen beherbergte und damit wie der eines Junkies wirkte.
"Warum erzählen sie das einem Mann auf dem Sterbebett", fragte Hans schließlich leise. "Ich mag keine Menschen", erwiderte Schiefer, während er die Gummihandschuhe abstreifte. Sie gesellten sich zu den Spritzen. Und seine Miene verriet tatsächlich eine grausame Teilnahmslosigkeit.
Hans vergaß darüber ganz zu atmen und Alfred dachte schon, es wäre vorbei. Denn er hatte sich vom Anblick draußen losgerissen und sah seinen Vater erschrocken an.
Schiefer nahm am Fußende des Bettes Platz. Die Matratze verformte sich ungewöhnlich stark unter der Last des Körpers. An sich wirkte Schiefer auf beinahe ungesunde Weise schmächtig. Die Wangen waren fast ebenso eingefallen wie die des Patienten.
"Herr W., wissen sie eigentlich, warum sie hier liegen und sterben? Nun, es ist der selbe Grund, weshalb ihnen dieses schöne Leben in der besten aller Welten so schlecht und verdorben erscheint."
Hans wich bis an die Wand am Kopfende des Bettes zurück. Dabei zog er die Decke komplett auf seinen geschwürverseuchten Bauch. Alfred erfaßte die knochige Schulter des Arztes, doch er schüttelte ihn energisch ab.
"Sie haben zu wenig gegessen, Herr W., viel zu wenig. Essen ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Damit der Körper funktioniert. Damit er Energie und Substanz hat. Sie haben über ihr Gezeter das Essen ganz vergessen. Zu viele versäumte Mittagspausen, zu viel Gedanken im Kopf, um das Wichtigste zu erkennen. Ihr Körper war damit nicht einverstanden. Also hat er damit begonnen sie aufzufressen. Das ist der Krebs, Herr W. Deshalb liegen sie hier. Es beginnt in ihrem Kopf. Zuerst sind nur die Gedanken schlecht und faul, dann ist es der Zustand ihres Magens. Ihre Gedanken haben den Körper vergiftet und umgekehrt. Als der Körper nicht mehr genug Nährstoffe bekam, entzog er ihrem sauren Hirn die Belohnung und die Gedanken wurden noch schlechter. Heraus kam ein Teufelskreis, wie ihn Siebtklässler beim Religionsunterricht beim Thema Drogenabhängigkeit lernen. Je schlechter die Gedanken, desto schlechter die Gesundheit; je schlechter die Gesundheit, desto schlechter die Gedanken. Sie haben zu wenig gegessen, Herr W. und sie waren ein chronischer Pessimist. Für solche Versager im Leben gibt es keinen Gott. Sie sterben und ihr schadhaftes Gedankengut verpufft, als wäre es nie gewesen. Sie leben weiter im Nichts."
Als Schiefer endete, wich auch das Leben aus Hans W. Er starb in der archaischen Angst vor dem Tod.
Im nächsten Augenblick traf Schiefer ein Schlag, der ihn die nächsten sechzehn Jahre zum Pflegefall machte, bis auch er gnädigerweise dahinschied.