Sie, er und der rosa LKW, der keine Rolle spielt
In dieser Stunde starb er 1000 Tode.
Seine Träume. Sein Stolz. Seine Seele. Alles ausgelöscht.
Bedrückt, teilweise verlegen oder manche gar schadenfroh, stoben die Leute in alle Richtungen davon.
Sie alle waren Zeugen eines tollen Schauspiels geworden. An Dramatik und Realitätsbezug kaum zu überbieten.
Und der rosa LKW fuhr vorbei.
Noch Minuten später, als die Menschentraube schon vollständig aufgelöst und nur mehr der Bühnenkehrer da war, kniete er auf der Bühne. Dort, wo er um ihre Hand angehalten hatte.
Zehn Jahre Beziehung.
Acht mal getrennt.
Sechs Jahre gemeinsame Wohnung.
Vier mal verlobt.
Zwei Jahre Einsamkeit.
Null mal an der Liebe gezweifelt.
Und der rosa LKW fuhr wieder vorbei.
Sie hatte Bindungsängste. Er hatte geklammert.
Sie verließ ihn. Er lief ihr nach.
Sie war einsam. Er war zur Stelle.
Sie wollte frei sein. Er wollte sich binden.
Sie hatte Bindungsängste...
Ihre Beziehung war so berechenbar wie der Tag in „Täglich grüßt das Murmeltier“.
Vielleicht machte diese Pattstellung auch den Reiz für die beiden aus. Man wurde nie überrascht.
Zu schwach, um zu bestehen. Zu stark, um zu verschwinden.
So einfach ließ sich ihre Liebe beschreiben.
Heute sollte es anders werden. Auf der Bühne, vor den Zuschauern, mit Pfarrer. Es sollte endgültig sein. Diesmal würde er sie gleich nach der Verlobung heiraten, damit sie es sich ja nicht überlegen konnte.
Und der rosa LKW rollte langsam vorbei.
Nachdem sie das Stück, die beiden waren nämlich Schauspieler im Festspielhaus, fertig gespielt hatten, folgte die obligate Verbeugung.
Doch anstatt mit den Kollegen hinter den Vorhang, der jeden Moment fallen würde, zu treten, blieb er vorne an der Bühne.
In einem der schönsten Monologe, der den „Leiden des jungen Werther“ entnommen war, gestand er ihr zum tausendsten Mal die Liebe. Die Zuschauer waren im ersten Moment irritiert, danach amüsiert und darauf folgend berührt.
Es herrschte Totenstille im großen Saal. Alle starrten gebannt auf den Vorhang, warteten, das er gehoben oder zur Seite geschoben wurde. Von ihr.
Und sie kam.
Er kniete.
Sie stand.
Er sprach.
Sie weinte.
Er hielt um ihre Hand an.
Sie lehnte unter Tränen ab.
Am Abend zuvor hatte er sie gesehen. In der Umkleide. Unter Peter, auf der Requisitenkiste. Zwei Wochen nach ihrer letzten Trennung.
Wegschauen konnte er nicht. Dazwischengehen durfte er nicht.
Ilse liebte ihre Freiheit. Ilse war frei. Und sie liebte ihn, nur ihn.
Peter war nur ein Spielzeug. Mit dem trieben es doch alle, von der Regisseurin bis hin zur Bühnenbeleuchterin.
Vielleicht trieb sie es mit ihm, weil es eben alle taten? So wie manche aus Gruppenzwang rauchen?
Zum wiederholten Mal fuhr der rosa LKW vorbei.
Als einziger Mensch konnte Ilse in ihn hineinblicken. „Meine kluge Eule“, oder kurz „Euli“, so nannte sie ihn. Seine Hakennase und die dicke Hornbrille waren ihr kein Dorn im Auge. Ihre Worte enthielten niemals Hohn. Oder?
Immer hatte sie betont, keinen dieser Schönlinge und Schnösel, wie Peter es war, jemals lieben zu können.
Also war der Peter nur dazu da, um sie die Eule vergessen zu lassen.
So musste es sein.
Fest hatte er den Entschluss gefasst, um sie zu kämpfen. Sie, wie so oft, zurückzuholen und vor sich selbst zu retten.
Nur, Ilse wollte sich nicht retten lassen. Es lag nicht am schönen Peter, da war er sich sicher. Möglich, dass er sich mit der Zeit und dem Ort vertan hatte. Die vielen Menschen hatten sie verunsichert. So musste es sein. Sonst hätte sie wieder „JA“ gesagt.
Ilse liebte ihn, das stand außer Frage. In zwei Wochen würde er wieder versuchen, sie zu erobern.
Nein, zu retten. Noch romantischer, noch besser durchgeplant würde das ganze werden!
„Geh’ zur Seite, Romeo. Mein Beileid.“ Der Bühnenkehrer hatte es eilig, schließlich würden bald die Zuschauer des nächsten Stückes in den Saal strömen. Da musste die Bühne sauber und leer sein, damit gleich die Requisiten für das nächste Stück aufgestellt werden konnten.
Sie musste so leer sein, wie der Unglücksrabe es in dieser Stunde war.
Und trotz allen Unheils blieb der rosa LKW nicht stehen. Er fuhr vorbei.