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Sie ließen ihn nicht gehen

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10.11.2003
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Sie ließen ihn nicht gehen

Seit Jahren schon hatte er kein Mädchen mehr angefasst. Obwohl er das gekonnt hätte! Ehrlich! Aber er wollte nicht, nie mehr wollte er ein Mädchen anfassen. Und dennoch ging er immer wieder hin, in diese Disco, einer Kleinstadt entsprechend Tanzcafé genannt. Ja, trotz seines Alters ging er hin, „Was will der Opa hier!“, das war das Harmloseste, was er dort zu hören bekam.

Er wollte dort nicht tanzen, er fand sich selbst ein bisschen zu alt dafür. Vielleicht war er auch zu fett, sein neues T-Shirt spannte jedenfalls unangenehm unter den Achseln. Sein Dreitagebart machte ihn intellektueller, für junge Mädchen anziehender. Dachte er zumindest. Er könnte deren Vater sein, freilich, aber einer mit Gel im Haar. Und einem coolen T-Shirt. Er war nicht wie ihre wirklichen Väter. Er war nicht die ewig kontrollierende und befehlende Autorität zu Hause und auch nicht der sich am Wochenende in Trainingshosen lächerlich machende Sportschauzuschauer, er war nur ihr Freund. Der gute, väterliche Freund. Ein Freund, dem sie sich anvertrauen konnten, der sie verstand. Der mit ihnen litt, wenn sie Liebeskummer hatten, und der mit ihnen froh war, wenn sie sich mit ihrer besten Freundin wieder vertrugen. Der … Nein, er war das alles nicht. Leider nicht. Aber er könnte es sein! Ehrlich!

Er war wie immer schon am frühen Abend da und besetzte die eine Nische an der Bar, wo er nicht weiter auffiel und von wo er doch dem Geschehen auf der Tanzfläche folgen konnte. Er lehnte an der Wand, trank seine Rum-Cola und war zufrieden. Er war immer zufrieden, wenn er jungen Mädchen zusehen konnte, das war er schon als Junge. Auch als Junge spielte er lieber bei den Mädchen mit. Er beneidete sie, für ihn waren sie schon damals das interessantere, schönere Geschlecht. Als er älter wurde, haben sie ihn allerdings weggejagt, alle, die jungen Mädchen und die Erwachsenen, wollten plötzlich nicht mehr auf seine Wünsche eingehen.

Stattdessen musste er Maurer lernen. Damit ein Mann aus ihm wird. Er ist einer geworden, wenn auch nur widerwillig. Und er hat geheiratet, auch das widerwillig. Eigentlich hat er das gar nicht getan, er wurde geheiratet. Aber wenigstens musste er der Frau kein Kind machen. Sie hatte schon eines. Ein Mädchen, da war er wieder zufrieden.

Er war ein guter Vater. Ein zu guter. Zu spät begriff er, dass da ein Unterschied existierte. Dabei wollte er nur mit seinem Kind spielen. Wie alle Kinder, wie alle Väter. Nicht, dass er sich deswegen schuldig fühlte, das nicht, aber er wusste nun, dass er von Mädchen die Finger lassen musste. Er hielt sich eisern daran, wie ein trockener Alkoholiker die Flasche, rührte auch er die ihm verbotene Frucht nicht an.

Doch sehen wollte er sie schon noch, die Frucht. Freitags und samstags. Am frühen Abend. Aber nun war es schon spät. Sehr spät, alle jungen Mädchen waren schon längst zu Hause und in ihren Betten. Auch er wollte ins Bett, schon vor Stunden, doch sie ließen ihn nicht gehen. Erst waren es zwei, dann drei, dann fünf. Sie standen an der Bar und tranken Bier. Friedlich. Das heißt, wenn ein Mädchen oder eine junge Frau an ihnen vorbei musste, versperrten sie ihr schon den Weg, grabschten auch mal spielerisch nach ihr, aber ließen sich von bittenden Blicken der Opfer regelmäßig erweichen, machten letztlich doch den Weg frei. Laut lachend.

Doch das Friedliche war bald dahin, das Lachende auch, jetzt grölten sie nur noch. Und grölend versperrten sie ihm den Weg. Sicher nicht absichtlich, und er wäre auch schon längst gegangen, wenn er bloß nicht solche Angst gehabt hätte. Angst vor Entdeckung. Denn einen von den fünfen kannte er, und der kannte ihn, ein Blick hatte genügt. So hielt er es für besser, in seiner Nische zu bleiben - nur nicht auffallen, früher oder später werden sie schon gehen. Aber sie gingen nicht. Stunde um Stunde verging und sie standen und tranken weiter, sie tranken und standen und versperrten ihm den Weg nach Hause, ins Bett, in seine Träume.

Es war, als ob sie das wüssten, als ob sie wüssten, dass er in seinen Träumen ein glücklicher Mensch würde. Denn glückliche Menschen konnten sie nicht ertragen, und einen, der allein vom Sehen satt wird, schon gar nicht. Alle mussten so sein wie sie, elend, frustriert, nichts zu ficken. Und da war einer, der das nicht brauchte, der sich aus Frauen nichts machte, der unempfindlich war für weibliche Reize wie ein Schwuler. Wie konnte so einer hier sein, mitten unter ihnen? Ein Kinderschänder, er, einer, den man bei Hitler sofort vergasen, ja selbst bei Honecker niemals so frei herumlaufen lassen würde. Die gerechten Bürger können sagen, was sie wollen, die gerechten Zeitungen können schreiben, was sie wollen, aber dieser Staat tat nichts, dieser Staat tat nie was, dieser Staat war nicht ihr Staat.

Als es gefährlich wurde, floh er. Er, der Maurer, bahnte sich seinen Weg nach draußen, denn draußen, kaum fünfzig Meter entfernt, war die Polizeiwache, dort draußen konnte ihm nichts mehr passieren. Aber sie holten ihn ein, erschlugen ihn, den hell erleuchteten Fenstern der Wache zum Trotz.

Später, am nächsten oder übernächsten Tag, wird einer genau hinter diesen Fenstern in die Mikrofone erklären, dass das junge Leute wären, die nicht wüssten, was sie angerichtet haben. Die gerechten Bürger und die gerechten Zeitungen hielten einen Augenblick inne, dann ging man wieder den Geschäften nach – nur ein Mann ist erschlagen worden, kein Kind.

 

Hallo Dion.. Deine Geschichte liest sich sehr angenehm.
Respekt, dass Du Dich an ein so großes Thema gewagt hast!
Als ganz kleines Manko empfand ich, dass im letzten Absatz oder Satz eigentlich nicht mehr erzählt wird, sondern eine Meinung an den Mann gebracht (bzw. Deine kritische Aussage vertieft). Na, was macht’s, wenn’s die richtige ist ;)
Danke, T Anin,

für das Lesen und Kommentieren. Das Thema würde ich nicht groß nennen – es ist offenbar unangenehm und wird daher gern verdrängt. Den letzten Absatz/Satz kann man natürlich so interpretieren, wie du es tust, obwohl ich da nur widergegeben habe, was die Polizei erklärte bzw. Medien taten, und selbst der letzte Halbsatz („nur ein Mann ist erschlagen worden, kein Kind.“) ist aus meiner Sicht mehr eine Tatsachenzusammenfassung bzw. -feststellung als Meinung.

 
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Hallo Dion,

eine alte KG von dir aus einer Zeit, da ich noch gar nicht mein Unwesen auf kg.de trieb. Gut, dass dieses Storys von Zeit zu Zeit doch immer mal wieder nach oben gespült und der erneuten Aufmerksamkeit empfohlen werden.

Die Geschichte ist gradlinig, geradezu dokumentarisch geschrieben, schnörkellos. Ein Text "ohne ein Gramm Fett zu viel auf den Rippen", wenn du verstehst, was ich meine. Es wird dem Kopf trotzdem (oder gerade deshalb?) viel "Arbeit" angeboten. Zunächst einmal muss man sich mit der nüchternen Erkenntnis abfinden, dass Pädophile "auch nur Menschen sind". Du "zwingst" mich als Leser zunächst einmal zu dieser Erkenntnis, ob ich will oder nicht. Es ist natürlich schwer, auch nur den Hauch von Mitgefühl für einen pädophil veranlagten Menschen zu erzeugen, wenn dieser in eine für ihn bedrohliche Situation gerät und Angst hat bzw. um sein Leben fürchtet. Recht geschieht ihm, möchte man sagen! Ich gestehe, dass ich mal ohne viel Bedauern gehört oder gelesen habe, wie mies verurteilte Typen mit dieser Neigung im Knast von Mithäftlingen behandelt werden. Sie stehen ganz unten in dieser Hackordnung. Recht geschieht ihnen, so fand ich. Dann sehen die auch mal, wie das ist, wenn sie etwas Größeres und Stärkeres bedroht, gegen das sie keine Chance haben.

Der nächste logische Schritt in dieser Gedankenkette ist Zweifellos die Lynchjustiz. Wünscht man solchen Menschen den Tod, oder hat JEDER Mensch das recht auf Leben, trotz schlimmer Verfehlungen? Ich habe tatsächlich schon sehr grenzwertige Erfahrungen dazu gemacht und ich glaube, keiner von uns ist fei von Rachegelüsten. Selbstjustiz ist meines Erachten die konsequenteste und direkteste Form von Rache. Ich erinnere nur an den Film "Ein Mann sieht rot", bei dem es während seines Rachefeldzugs in vielen Kinos Szenenapplaus gab, und dessen Handlung so konzipiert wurde, dass man sehr eindeutig auf Charles Bronsons Seite war.

Deine Geschichte schildert "nur" einen nüchternen Ablauf, wobei sie sich die Freiheit heraus nimmt, die Situation des Pädophilen etwas menschlicher auszuloten, als gemein hin üblich, während der Mob, der ihn am Ende lyncht, laut, brutal und bedrohlich wirkt, eher abstoßend. Das "Böse" hat hier Facetten, kämpft mit Gefühlen, hat Sehnsüchte und Ängste. Das Böse wirkt nicht wie die fiese Bestie aus einem Thriller, die am Ende zur allgemeinen Beruhigung zur Strecke gebracht wird, sondern wie ein Teil unserer Gesellschaft. Ein hässlicher, unsympathischer und unerfreulicher Teil. Und die Gesellschaft, in diesem Fall ein gesichtsloser, saufender Pöbel, wie aus einem Westernroman, erledigt das Problem dann auf seine Art. Das ist gänzlich ohne Zwischentöne und führt zur weiteren erzwungenen Identifikation mit dem Opfer, das auf eine andere Weise selbst Täter war.

Ich habe, bevor ich deine Geschichte las, schon sehr, sehr viel über das Thema nachgedacht, und mich eigentlich nie so eindeutig positionieren können, wie ich das gern wollte. Nachdem ich deine KG gelesen habe habe ich erkannt, dass es mal wieder Zeit wird, mich intensiver mit diesen Gedanken zu beschäftigen. Wohl wissend, dass ich mich nie eindeutig positionieren kann. Wenn einer meiner Familie was zu Leide tun würde ...

Was kann man mehr von einer KG mit diesem Inhalt verlangen, wenn sie zu einem solchen Gedankenanstoß beitrug, wie er bei mir stattgefunden hat? Und dann noch in dieser vorweihnachtlichen Zeit!

Rick

 

Es ist schwierig, Rick,

und nicht immer von Vorteil, eine Geschichte, wie du sagst, "ohne ein Gramm Fett zu viel auf den Rippen" zu schrieben. Aber hier musste es sein, denn zu viel Drumherum würde sicherlich schaden - schon so kamen von einigen Lesern Einwände, der Kinderschänder wäre zu sympathisch dargestellt. Als ob so ein Mensch schon von weitem zu erkennen sein müsste!

Das "Böse" hat hier Facetten, kämpft mit Gefühlen, hat Sehnsüchte und Ängste.
Ja. Das sind im Grunde arme Schweine, die das Pech haben, sexuell falsch gepolt zu sein. Manche werden damit fertig, können sich kontrollieren, und manche eben nicht - es sind gerade die schwächen unter ihnen, die sich nicht im Griff haben.

Und die Gesellschaft, in diesem Fall ein gesichtsloser, saufender Pöbel, wie aus einem Westernroman, erledigt das Problem dann auf seine Art.
Es hat lange gedauert, bis wir eine Gesellschaftsform entwickelt haben, in der Lynchjustiz keinen Platz hat. Aber manchmal passiert es doch, dass die Kontrollmechanismen nicht mehr greifen. Vielleicht stand an dem Tag oder in den Tagen davor irgendetwas über Kinderschänder in der Zeitung, und dann kommen die Jungs zusammen, trinken etwas zu viel Alkohol, der Kinderschänder wird erkannt, die Gruppendynamik tritt in Kraft, et voila, es wird kurzer Prozess gemacht. In solchen Momenten für nicht nachgedacht, da gibt es nur schwarz oder weiß.

Wenn einer meiner Familie was zu Leide tun würde ...
Da wird man zum Tier, ganz klar. Da regieren nur noch Emotionen, und wenn man da keinen hat, der einen zurückhält, passiert leicht etwas, was einem später leid tut – nicht umsonst gibt es in solchen Fällen mildernde Umstände.

Aber ich bezweifle, ob mildernde Umstände auch die Totschläger in dieser Geschichte verdienten, denn sie waren weder persönlich betroffen, noch war ihr Opfer ein schwerer Krimineller. Es ist aber möglich, dass die Medien und/oder Gerüchteküche einer Kleinstadt ein Monster aus ihm gemacht haben.

Was kann man mehr von einer KG mit diesem Inhalt verlangen, wenn sie zu einem solchen Gedankenanstoß beitrug, wie er bei mir stattgefunden hat? Und dann noch in dieser vorweihnachtlichen Zeit!
Danke, das ehrt mich sehr.

Dion

 

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