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Sie
Sie ging langsam, wie immer. Sie hatte es nicht eilig,
Niemand wartete auf sie. Bestimmt musste sie wieder auf das Taxi warten.
Sowieso ging ihr oft alles viel zu schnell. Die Zeit rannte nur so an ihr vorbei, doch um mithalten zu können, hatte sie nicht mehr genug Kraft.
Wenn das Taxi raste, so sagte sie: "Fahren Sie doch bitte langsamer, Sie können sie doch ohnehin nicht mehr einholen".
Den verwirrten Blick des Taxifahrers ignorierte sie dann einfach.
Nur einmal hatte ein Fahrer nachgefragt: "Wen kann ich nicht mehr einholen?"
Sie sah aus dem Fenster und drückte dann ihren Zeigefinger an die Fensterscheibe.
"Na, die Zeit können Sie nicht einholen, sehen Sie nur, da läuft sie." Der Taxifahrer zuckte nur mit den Schultern. Gern hätte sie ihm genauer erklärt was sie eigentlich meinte, doch unaufgefordert würde sie ihm das bestimmt nicht erzählen.
Viele Leute rannten auf dem schmalen Bürgersteig an ihr vorbei. Die Meisten von ihnen waren aktentaschentragende Männer.
Einige schimpften, sie solle doch schneller gehen.
Ihr Taxi kam nicht. Ab heute wartete sie auf Nummer 28.
Eine Bank war frei. Sie setzte sich.
Sie trug auch heute keine Kopfbedeckung. Einige an ihr vorbeigehende Passanten starrten sie neugierig, andere belästigend an.
Egal, welche Art von Blick auf sie gerichtet wurde: Derjenige, der es gewagt hatte, sie länger anzuschauen, bekam einen grimmigen Blick zurück.
Sie hasste Kinder. Kinder waren hektisch, Kinder stellten dumme Fragen.
Sie seufzte. Das Leben war seltsam.
Alles ging viel zu schnell und wenn es dann einmal schnell gehen sollte, geschah alles wie in Zeitlupe.
Dann stand die Zeit fast still. Für einen Moment hatte sie sie eingeholt.
Selbst die Zeit musste ab und zu eine Verschnaufpause einlegen, bevor sie wieder in eine ungeheure Geschwindigkeit verfiel.
Ein Taxi kam. Sie stand auf und beugte sich vor.
Es war nicht ihr Taxi. Es war das Taxi Nummer 15. Meine Pechzahl, dachte sie.
Sie setzte sich wieder.
Damals ist sie ein Teenager gewesen. Sie hatten ihr Hoffnungen gemacht und ihr diese dann langsam aber schließlich ganz und gar wieder genommen.
Nachts träumte sie von ihnen, von ihnen und ihren Worten, die ihr Leben verändert hatten.
Und sie träumte von weiß, was keine Farbe war.
Das Taxi kam. Langsam erhob sie sich. Sie hatte es nicht eilig. Sie ging auf das Auto zu.
Ein Mann kam angelaufen.
Hastig öffnete er die Autotür und stieg hinein. Er hatte sie gesehen, natürlich hatte er sie gesehen.
Das Taxi fuhr los, an ihr vorbei.
Nein, sie war nicht wütend. Sie hatte keine Aktentasche in der Hand.
Wieder setzte sie sich.
Ihre Nase lief. Sie wollte sich ein Taschentuch aus ihrer Jackentasche holen, dabei fiel ihre schwarze Handtasche von der Bank.
Ein kleiner Handspiegel kullerte hinaus.
Sie starrte ihn eine halbe Ewigkeit an.
Die Zeit legte eine Pause ein.
Dann hob sie die Tasche und den Spiegel mit zitternden Händen auf.
Den hatte sie vergessen, sie hatte gewusst, dass sie einen vergessen hatte.
Zögernd und unentschlossen sah sie hinein.
Sie betrachtete sich: Ihren schmalen Mund, die blutverschmierte Nase, die starren, blauen Augen und weiter bis hinauf zu der glänzenden Glatze.
Sie lächelte.
Die Zeit stand.