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- 10.11.2003
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Sigi und die Zigarre
Als Sigi sich wieder eine Zigarre anzündete, konnte Martha nicht anders: Sie bekam unzüchtige Gedanken. Die dicke Rolle aus braunen Tabakblättern erinnerte sie stets an sein Ding, obwohl sie es noch nie gesehen hatte. Zweimal die Woche kam er und steckte es ihr hinein, seit der Geburt der kleinen Anna nur noch in das hintere Loch. Sechs Kinder, das sei genug, hatte er ihr bald nach Annas Geburt erklärt und sie ins Badezimmer geschickt, damit sie sich sauber machte für ihn. Sie gehorchte widerwillig, ahnte sie doch, daß es auf diese Weise bald vorbei sein würde mit der Freude, die sie manchmal empfand, wenn er sie beschlief.
Jetzt mußte er ihr nichts mehr sagen, jetzt wußte sie Bescheid. Donnerstags und sonntags mußte sie ihm zur Verfügung stehen, egal ob sie gerade unpäßlich war oder nicht. Sicher, ihr Unwohlsein spielte sowieso keine Rolle mehr, aber gerade an jenen Tagen war sie besonders reizbar, wollte, daß er ihr beiwohnte wie früher. Natürlich war daran nicht wirklich zu denken, denn sie selbst war diejenige, die stets von ihm Respekt vor althergebrachten Ritualen forderte, die es ihr unmöglich machten, sich ihm wie gewohnt hinzugeben, ohne vorher die Mikwe aufgesucht zu haben.
Aber nun waren sie in den Bergen, waren geflohen aus Wien, der lauten Stadt. Für drei Tage nur, leider, doch es reichte, um kurz den Alltag zu vergessen, in dem alles bis in die kleinste Kleinigkeit durchorganisiert war, und in dem sie genauso funktionieren mußte wie ihr Mann. Er verdiente jetzt richtig Geld, ihr Sigi, war nicht mehr auf sie und ihre Verwandtschaft angewiesen. Obwohl ihre Liebe die des ersten Blickes war, zweifelte sie während ihrer vierjährigen Verlobung oft, ob er sie je würde heiraten können, so arm war damals der Mann ihrer Träume. Aber er hat ihr zuliebe die begonnene Wissenschaftskarriere hingeschmissen und ist Arzt geworden. Damit war zwar seine Zukunft gesichert und ihre Eltern sperrten sich nicht mehr gegen eine Verbindung mit ihm, aber seine damaligen Finanzen waren trotzdem so miserabel, daß sie ihm Geld schicken mußte, damit er zu seiner eigenen Hochzeit anreisen konnte.
Gott sei Dank waren ihre Eltern vermögend und nicht kleinlich, so daß sie in den ersten Ehejahren fast standesgemäß leben konnten. Doch leicht war es trotzdem nicht, mehr als einmal mußte Sigi den Weg zum Pfandhaus einschlagen, selbst die goldene Uhr, das Hochzeitsgeschenk ihrer Eltern, hatte er gleich im ersten Jahr versetzen müssen. Aber was hätte er, was hätte sie denn tun sollen? Er hatte sich als Arzt erst niedergelassen und verdiente noch nicht viel, und sie war dauernd schwanger - sechs Kinder in neun Jahren, das war ein hartes Stück Arbeit. Aber es war auch ein Vergnügen. O ja! Vor allem das Zeugen!
Martha fühlte, wie ihr plötzlich warm wurde. Um sich abzulenken, schaute sie der Bedienung beim Abräumen des Tisches zu.
„Wünschen die Herrschaften noch etwas?“, fragte die noch sehr junge, großgewachsene und von allen Gästen nur Rella gerufene Frau.
„Einen Kaffee, bitte“, sagte Sigi, dabei eine Wolke Rauchs in die klare Bergluft entlassend.
„Jawohl, Herr … Herr Doktor …“
Ein plötzlicher Hustenanfall hinderte Rella am Weitersprechen. Keuchend und sich an den Hals fassend wandte sie sich halb ab und versuchte, mit einem Taschentuch das laute Röcheln zu unterdrücken. Doch so schnell der Anfall kam, war er auch wieder vorbei.
„Geht es Ihnen nicht gut?“, fragte Sigi besorgt, als Rella sich einigermaßen beruhigt hatte.
„Ja … nein, danke, Herr Doktor – es geht schon wieder“, antwortete Rella etwas konfus und ohne ihn anzusehen. „Und was soll ich der gnädigen Frau bringen?“
„Mir?“
Martha war ein wenig überrascht von der plötzlichen Wendung, doch sie fing sich sofort: „Gar nichts, Rella, danke. … Oder doch: einen Apfel, bitte. Oder zwei? … Sigi, möchtest du auch einen Apfel?“
„Ach geh’, Martha, damit kannst du mich nicht locken“, sagte er lächelnd und drehte sich halb zu ihr um. „Du weißt, daß ich eine gute Zigarre immer einem Apfel vorziehe.“
„Ja, leider.“
„Ach komm, sei nicht so. Aber iß du zwei! Ich sehe dir gerne dabei zu.“
Er hatte es nicht vergessen! Allein von der Erinnerung wurde Martha trotz ihrer sechsunddreißig Jahre rot wie das Mädchen, das sie damals war. Wie heute war es ein früher Abend gewesen, als sie am Tischchen saß und einen Apfel schälte. Die Tür ging auf und ihr Vater kam herein. Sie schaute nur kurz auf und widmete sich sofort wieder dem Apfel, so daß sie den Mann, der im Schlepptau ihres Vaters auf die Veranda trat, nicht sah. Doch dann standen plötzlich zwei Paar Schuhe vor ihr. Es waren Männerschuhe, und als sie den Blick hob, erkannte sie auch die zwei Männer, die zu den Schuhen gehörten und schweigend vor ihr standen.
Eigentlich erkannte sie nur ihren Vater, der andere Mann war ihr unbekannt. Jung, groß und stark kam er ihr vor. Sein bleiches Gesicht war umrahmt von einem schwarzen Bart, der an den Seiten kurzgehalten, zum Kinn hin aber üppiger wurde und spitz zulief. Über dem sinnlichen Mund wölbte sich ein Oberlippenbart, dessen Enden leicht nach oben gezwirbelt waren. Seine ebenso schwarzen Haare trug er gescheitelt, die hohe Stirn fast gänzlich freilassend.
„Martha, darf ich dir vorstellen, das ist Herr Doktor …“
Sie hatte plötzlich nichts mehr gehört. Oder sie hatte es gehört, aber die Worte ihres Vaters kamen ihr erst mit Verzögerung in den Sinn. Wie lange standen sie schon so vor ihr? Und was hatte sie in dieser Zeit getan? Etwas Unschickliches? Sie hatte sich allein gewähnt oder höchstens mit ihrem Vater, und nun stand dieser junge Mann von ihr und lächelte sie an. Es dauerte Sekunden, bis sie sich besann und ihm die Hand reichte. Noch immer lächelnd ergriff er sie, beugte sich vor und hauchte einen Kuß darauf. Schon seine Hand war sehr warm, sein Atem war jedoch kaum zu ertragen, ihr kam es vor, als streifte sie ein heißer Wind aus der Sahara.
Obwohl er sie kaum berührte, kitzelte auch sein Bart sie ein wenig. Und er roch anders, nach gerösteten Kastanien vielleicht, jedenfalls hatte sie den Duft noch nie bei einem Mann wahrgenommen.
Wie um seinen Duft ein wenig länger in sich behalten zu wollen, hielt sie den Atem an. Aber er schien nicht daran zu denken, ihre Hand loszulassen. Mehr noch, sein Griff wurde noch fester, er beugte sich noch tiefer zu ihr. Und da passierte es: Eine Strähne seines Haars fiel auf ihren nackten Unterarm. Sie fiel ganz langsam, Martha hatte es kommen sehen. Wie das Kaninchen vor der Schlange erstarrte sie, und als sein Haar ihre Haut berührte, traf sie das wie ein Schlag. Als hätte die Schlange sie wirklich gebissen, zog sie hastig ihre Hand zurück – und bedauerte es im selben Augenblick.
„Verzeihung … meine Hand … der Apfel …“
„O, angenehm! Sehr angenehm.“
„Gnädige Frau, soll ich Ihnen nun Äpfel bringen oder nicht?“
„Was? … Ja, natürlich. Bringen Sie mir bitte zwei Äpfel.“
„Sofort, gnädige Frau.“
Martha schaute der jungen Frau nach, bis sie im Haus verschwand.
„Merkwürdiges Mädchen, findest du nicht?“, fragte Sigi beiläufig, die Spitze seiner Zigarre betrachtend.
„Ja. Sie geht so steif.“
„Das meine ich nicht. Es ist ihr Gesicht. Oder vielmehr ihr Mund.“
„Ihr Mund?“
„Ja. Sie hält ihn immer fest geschlossen.“
„Ist mir nicht aufgefallen. Nur, daß sie wenig lacht.“
„Wenig? Sie lacht nie! Für ein so junges Ding äußerst ungewöhnlich.“
„Ja, da magst du Recht haben, Sigi. Aber eine Berghütte ist auch kein Ort für ein Frauenzimmer. Ich meine, was gibt’s hier schon zu lachen?“
„Martha, Martha, schließ nicht immer von dir auf andere, nur weil du dieser Bergwelt nichts abgewinnen kannst! Deine Schwester Minna ist da ganz anders.“
Martha fand zuerst keine Worte der Erwiderung. Es war leider wahr: Ihre jüngere Schwester hatte wie Sigi ein Faible für das Reisen und die Berge. Beides war für Martha schon seit jeher kein Vergnügen, so hatte sie ihn oft allein mit Minna reisen lassen. Vor allem, wenn sie wieder schwanger war, blieb ihr nichts anderes übrig. Wie oft hatte sie mit dickem Bauch dagestanden und ihnen zum Abschied gewunken? Sie hatte Vertrauen in Minna, aber eifersüchtig war sie trotzdem. Wegen dieser Gemeinsamkeit, die ihr, Martha, verwehrt blieb. Bergwanderungen waren nun einmal nichts für sie. Daß sie dieses Wochenende mit ihm gegangen ist, war eine Ausnahme. Eine wohlbegründete Ausnahme.
„Was hat Minna mit dieser Rella zu tun, Sigi?“
„Nichts, natürlich nichts. War nur so eine Bemerkung. Du weißt, von wegen Berge wären nichts für Frauen.“
„Sind sie auch nicht! Ich verstehe nicht, wie eine Frau in dieser Ödnis leben kann.“
„Vielleicht, weil es woanders für sie noch schlimmer ist.“
„Schlimmer? Ich glaube eher, sie tut das hier des Geldes wegen.“
„Nein. Sie ist vermögend und aus freien Stücken hier.“
„Wie? Die Frau hat Geld und schuftet trotzdem hier als Bedienung?“
„Ja, ihr Vater ist Hotelier bei uns in Wien - sie müßte nicht arbeiten.“
„Nicht zu glauben!“
„Sie hilft hier nur ihrem Bruder. Er hat diese Berghütte erst vor ein paar Jahren gepachtet und wie du siehst, geht es prächtig voran.“
„Kann ich nicht beurteilen, Sigi, bin zum ersten Mal hier.“
„Ja, natürlich. Hab’ dich wohl mit …“
„Mit Minna verwechselt!“, ergänzte Martha schnell und schaute ihn verschmitzt an.
„Hm, ja. Ihr beide seid euch aber auch so ähnlich.“
„Schon möglich“, sagte Martha jetzt offen lächelnd, „aber ich hoffe nicht, du verwechselst uns auch bei anderen Gelegenheiten.“
„Wo denkst du hin, Martha! Du weißt doch, daß ich nur dich liebe. Vom ersten Augenblick an.“
„Ja?“
„Tu nicht so, Martha, du weißt das ganz genau: Die mehr als tausend Briefe, die ich dir während der Verlobung geschrieben habe, die sprechen doch eine deutliche Sprache.“
„Haben mich auch gefreut, deine Briefe. Ehrlich. Welche Frau bekommt schon täglich einen Brief von ihrem Verlobten?“
„Na bitte!“
„Aber seitdem wir verheiratet sind, hast du ein wenig nachgelassen in deinem Eifer.“
„Wie meinst du das?“
„Du erzählst mir nichts mehr.“
„Nichts? Wir sprechen doch über alles.“
„Alles? Also das finde ich nicht. Über diese Rella weiß ich zum Beispiel nichts und du anscheinend eine Menge. Wie kommt es, daß du nie ein Wort über sie gesagt hast?“
„Rella? Tja, das ist ein bisserl … also wie soll ich’s sagen … das ist ein bisserl wie Arbeit. Und davon verstehst du nichts.“
„Was? Ist sie deine Patientin? Sah aber eben nicht danach aus. Ich meine …“
„Nein, nein! Sie ist keine Patientin von mir. Sie könnte jedoch eine werden, verstehst?“
„Ah? Du meinst wegen dem Husten vorhin …“
„Nein, nein! Oder ja, aber nicht, wie du das meinst! Ihr Husten ist nämlich kein richtiges Husten.“
„Nein? Was ist es dann?“
„Schwer zu sagen. Vielleicht eine Hysterie. Doch um das festzustellen, müßte ich ihr gezielte Fragen stellen. Ich hab’s schon versucht, aber sie weicht mir aus. Ich komme einfach nicht an sie heran – möglicherweise weil ich ein Mann bin. Vielleicht könntest du als Frau … ach, da kommen schon deine Äpfel und mein Kaffee!“
Rella kam langsamen Schrittes näher, ihre Augen auf das Tablett gerichtet, auf dem zwei Äpfel um ein Häferl dampfenden Kaffees kullerten. Und als ob sie Angst gehabt hätte, die Äpfel würden das Häferl zum Umkippen bringen, noch bevor sie den Tisch des Doktors und seiner Frau erreichte, stellte sie das Servierbrett auf einen Nebentisch ab. Dann setzte sie die zwei Äpfel wieder auf den kleinen Teller, von dem sie offensichtlich während des Weges heruntergerollt waren, ergriff auch das Häferl und stellte beides vor ihre Gäste, die jede ihrer Bewegungen aufmerksam verfolgten.
„So … hier die Äpfel für die Dame und … hier der Kaffee für den Herrn Doktor.“
Martha fiel sofort auf, daß Rella es vermied, Sigi anzusehen. Zwischen ihnen muß tatsächlich etwas sein! war ihr erster Gedanke. Aber wenn das nicht ein Patientenverhältnis war, was war es dann? Angestrengt dachte sie nach, suchte in den Gesichtern der beiden nach Zeichen, die sie deuten könnte. Aber da war nichts: Sowohl ihr Mann als auch das Mädchen schauten anscheinend auf das Häferl oder auf den Teller mit den Äpfeln oder einfach nur auf den Tisch, so daß auch sie nicht umhin konnte, ihnen gleich zu tun. Und da wurde sie fündig, oder besser: nicht fündig.
„Wo ist das Messer?“, wandte sich Martha an Rella. „Womit soll ich die Äpfel denn schälen?“
„O, Entschuldigung, gnädige Frau, ich wußte nicht, daß Sie sie geschält haben wollen. Ich … ich werde Ihnen sofort ein Messer bringen.“
„Das ist nicht nötig, Rella!“, rief Sigi und hielt damit die schon zum Gehen Bereite noch einmal auf. „Ich habe ein Taschenmesser mit.“
Mit diesen Worten steckte er sich die Zigarre, die er bisher nicht für jedermann sichtbar in seiner Rechten auf dem Knie hielt, in den Mund und zwischen die Zähne, um in seiner Hose nach dem Taschenmesser zu suchen. Doch kaum hatte er das getan, schon keuchte und japste Rella wieder nach Luft. Sie drehte sich um und stützte sich auf dem Nebentisch ab, während sich ihr ganzer Körper bog und krümmte in einem Anfall, der viel stärker schien und auch länger dauerte, als vor ein paar Minuten.
„Was haben Sie, Rella?“, fragte Martha die junge Frau, als sich diese etwas beruhigte.
„Ach, ich hab’ so Atemnot. Nicht immer, aber manchmal packt’s mich so, daß ich glaube, ich erstick’.“
„Vertragen Sie vielleicht diese dünne Höhenluft nicht?“
„Nein, das habe ich schon zu Hause gehabt.“
„Und waren Sie schon bei einem Arzt deswegen?“
„Ja, schon bei mehreren. Aber sie konnten nichts finden. Ich sei völlig gesund, sagten sie.“
„Kommen Sie, Rella, setzen Sie sich hier zu uns. Wie Sie wissen, ist mein Mann auch Arzt - vielleicht kann er Ihnen weiterhelfen.“
„Ach, ich weiß nicht ...“, sagte Rella und schaute schnell zurück zum Haus, „ich hab’ zu arbeiten. Die anderen Gäste müssen auch versorgt werden und …“
„Andere Gäste? Hier draußen sind wir alleine und drinnen kann Ihr Bruder sie versorgen. Es ist ja nur für einen Moment.“
Rella war sichtlich unschlüssig. An ihrer Unterlippe kauend stand sie da wie ein Kind, dem eine Süßigkeit angeboten wird, und das sich nun nicht traut zu nehmen, weil die Eltern es ihm verboten hatten.
„Sigi, du bist auch dafür, daß uns Rella ein bißchen von ihren Beschwerden erzählt, oder?“
„Aber ja“, sagte er mit einem Lächeln, ließ die nur zur Hälfte gerauchte Zigarre unauffällig zu Boden fallen und trat sie langsam und unbemerkt mit seinem schweren Stiefel fest. „Wir haben eh nichts anderes zu tun, als Kaffee zu trinken und zuzuhören.“
„Und natürlich ein oder zwei Äpfel zu essen“, setzte er schnell hinzu und zog sein Messer aus der Tasche. Aufgeklappt und mit dem Griff nach vorne legte er es vor seine Frau auf den Tisch, ihr zulächelnd. Ein kaum merkliches Kopfnicken verstand Martha sofort, ergriff das Messer und zeigte mit seiner Klinge auf den leeren Stuhl neben sich und damit direkt Sigi gegenüber.
„Setzen Sie sich, Rella, wir beißen Sie schon nicht!“
„Gut, wenn Sie meinen, gnädige Frau.“
„Lassen Sie die gnädige Frau einfach weg, Rella, und erzählen Sie uns etwas von sich. Einfach von der Leber weg.“
„Da gibt’s nicht viel zu erzählen“, sagte die junge Frau, nachdem sie sich endlich gesetzt hatte, „ich bin nur ein unwissendes junges Ding, das noch nicht viel erlebt hat.“
„Unsinn, Rella, jeder hat was zu erzählen. Nicht wahr, Sigi?“
„Ja, ja, sicher. Selbst Kinder.“
„Aber, Sigi, unsere Rella ist doch kein Kind mehr!“
„Natürlich nicht, das war nur so … so dahingesagt.“
„Also, Rella, fang’ an!“
„Ich … ich wüßte nicht, was ich ...“
„Na komm schon, Rella. Sag’ … sag mir einfach, woher du diesen ungewöhnlichen Namen hast!“
„Ach das! Das kommt von Aurelia. Ist lateinisch und bedeutet golden.“
„Wie passend! Du hast auch wundervolles blondes Haar!“
„Finden Sie? Ist aber nichts Besonderes – in unserer Familie haben fast alle blonde Haare.“
„Also ich würde was geben, um solche Haare zu haben! Und so schön geflochten!“
„Oh, das ist nichts. Das mache ich selber.“
Das Gesicht der Aurelia entspannte sich zusehends. Ihre sonst nach unten gezogenen Mundwinkel verschwanden zwar nicht ganz, aber jetzt, beim Lob über ihre Haare, gab es in ihrem Gesicht so etwas wie ein Lächeln, samt einem Anflug von Röte.
„Toll, wirklich toll. Aber wie kommt es, daß man dich nicht Aurelia, sondern Rella ruft?“
„Ach das. War wohl zu lang, der Name. Jedenfalls rufen mich alle immer nur Rella.“
„Alle?“
„Na ja, nicht alle. In der Schule, von den Lehrern, wurde ich schon Aurelia gerufen. Und von meinem Vater auch. Der ruft mich auch so.“
„Sonst niemand?“
„Nicht, daß ich wüßte. Oder doch - von meiner Mutter. Aber nur, wenn ich nicht artig war.“
Bei den letzten Worten versuchte sie wieder zu lächeln, aber es gelang ihr nicht, schon als sie den Vater erwähnte, bekam ihr Gesicht wieder seinen vergrämten und verbitterten Ausdruck zurück.
„Eigentlich schade, nicht? Ich meine, Aurelia ist ein so schöner Name und …“
„Ich mag aber Rella lieber!“, platzte es aus der jungen Frau. Doch gleich hatte sie sich wieder in der Gewalt. „Verzeihung, gnädige Frau, war nicht so gemeint. Ich habe mich wohl an die Kurzform schon so gewöhnt, daß ich …“
„Schon gut, Rella, das verstehe ich vollkommen“, versuchte Martha die Frau zu beruhigen. An diesem Punkt schaltete sich Sigi, der bisher fast nur geschwiegen hatte, ein:
„Das mit dem Namen, Martha, das ist völlig unwichtig. Viel wichtiger ist doch, was es mit der Atemnot auf sicht hat, nicht wahr, Rella?“
„Ja, schon, Herr Doktor. Aber ich weiß ja selber nicht, was ich habe.“
„Natürlich nicht, und das ist auch gut so! Wenn die Patienten selbst alles wüßten, bräuchte es ja keine Doktoren, nicht?“
Er freute sich über sein eigenes Witzchen, doch außer auf Martha, die ihm ein Lächeln schenkte, blieb die erhoffte Wirkung begrenzt: Rellas Mundwinkel zuckte leicht, und das war’s.
„Na ja“, setzte Sigi seine Frage fort, „ich wollte auch nicht wissen, was Sie haben, Rella, sondern nur in Erfahrung bringen, wie so ein Zustand von Atemnot bei Ihnen ist.“
„Das kann ich Ihnen sagen, Herr Doktor. Also es kommt ganz plötzlich über mich. Es legt sich zuerst ein Druck auf meine Augen, der Kopf wird so schwer, und sausen tut’s, nicht auszuhalten, und schwindlig bin ich, daß ich glaub’, ich fall’ um. Und dann preßt’s mir die Brust zusammen, daß ich keinen Atem krieg’.“
„Und im Halse spüren Sie nichts?“
„Den Hals schnürt es mir zusammen, als ob ich ersticken soll.“
„Und fürchten Sie sich gar nicht dabei?“
„Ich glaub’ immer, jetzt muß ich sterben. Dabei bin ich sonst couragiert, trau’ ich mich überall hin, in den Keller und allein den Berg hinunter, aber wenn ein solcher Tag ist, da gehe ich nirgends hin, ich glaub’ immer, es steht jemand hinter mir und packt mich plötzlich.“
„Aber wie schaffen Sie’s, trotzdem zu arbeiten?“
„Ich muß - mein Bruder schafft’s sonst nicht alleine. Und außerdem denke ich, ich muß da durch, die Ärzte haben mir ja gesagt, ich hab’ nichts und bilde mir das alles nur ein.“
„Haben die das wirklich gesagt?“
„Nicht direkt. Aber so in der Art.“
„Hm, verstehe. Man hat Sie als Simulantin hingestellt.“
„Ja. Dabei sehe ich auch Gesichter, aber das trau’ ich mich gar nicht zu sagen, sonst werde ich noch als verrückt erklärt.“
„Gesichter? Sind das immer dieselben?“
„Ja. Eigentlich ist das immer nur eines. So ein grausliches, das mich immer so schrecklich anschaut – vor dem fürchte ich mich dann.“
„Und erkennen Sie das Gesicht? Ich meine, ist das ein Gesicht, das Sie einmal wirklich gesehen haben?“
„Nein.“
Martha lag schon im Bett, als Sigi hereinkam. Endlich. Endlich waren sie allein. Es war ein großes Zimmer mit vier Betten, aber es gehörte ihnen ganz allein - Martha bestand darauf und Rellas Bruder gab es ihnen bereitwillig.
„Sigi, kannst du bitte die Tür zusperren?“
„Zusperren? Na, wenn du meinst.“
Als sie hörte, wie er den Schlüssel umdrehte, spreizte sie langsam die Beine. Niemand würde sie heute stören, nicht einmal ihre Schwester. Seit der Geburt der kleinen Anna wohnte Minna bei ihnen, doch um in ihr Zimmer zu kommen, mußte sie immer durch das Schlafzimmer von Martha und Sigi. Gut, sie blieb darin immer die ganze Nacht, aber an Türezusperren war trotzdem nicht zu denken.
Martha sah im hellen Mondschein, der durch das Fenster fiel, wie Sigi das Bett neben dem ihren ansteuerte.
„Willst du nicht bei mir schlafen heute?“
„Heute ist doch erst Samstag.“
„Trotzdem. Wir sind so selten alleine.“
„Wir waren doch gestern und heute den ganzen Tag zusammen.“
„Du weißt, wie ich das meine.“
Sigi sagte nichts, stand nur da in seinem langen weißen Nachthemd zwischen zwei Betten. Er schien unschlüssig.
„Das Bett ist zu schmal für zwei.“
„Das wird schon reichen, Sigi. Damals, in unserer ersten Wohnung war das Bett auch nicht viel breiter.“
„Ja, damals …“
„Komm her, Sigi“, sagte Martha leise und streckte einen Arm nach ihm aus. Er ergriff ihre Hand und kam zögernd näher.
„Na, wenn du meinst. Leg dich auf die Seite.“
Er hob die Decke, doch sie blieb auf dem Rücken liegen. Mit gespreizten Beinen und schamlos hochgeschobenem Nachthemd.
„Auf was wartest du?“
„Laß es uns heute wieder wie früher machen, Sigi.“
„Warum?“
„Es geht nicht anders. Ich habe die Spritze nicht mitgenommen.“
„Warum nicht?“
„Weil du gesagt hast, nur das Nötigste mitzunehmen. Wir sollten nicht so viel mitschleppen.“
„Dann geht es eben nicht. Wir haben gesagt: Keine Kinder mehr.“
„Du hast das gesagt, nicht ich. Außerdem ist heute ein sicherer Tag.“
„So? Woher weißt du das?“
„Das weiß frau eben.“
„Das hast du früher auch schon gesagt, und dann wurdest du doch schwanger.“
„Ja, aber nicht an dem Tag, sondern an einem anderen. Frauen wissen immer, wann sie schwanger sind. Sofort.“
Die Situation war reichlich absurd, wenn nicht sogar lächerlich, Martha mußte handeln. Entschlossen schob sie sich das Nachhemd noch höher und führte seine Hand zwischen ihre Beine.
„Komm, Sigi, ich kann nicht mehr warten. Ich bin mehr als bereit.“
Als seine Hand sie berührte, zuckte er zurück. Doch sie hielt ihn fest. Mehr noch: Sie hob ihr Becken und rieb sich an ihm. Eine Welle der Scham überflutete sie, nie hatte sie Solches getan. Aber das dauerte nur einen Augenblick und hinderte sie auch nicht daran, sich an ihm weiter zu reiben, wie eine läufige Hündin. Mit beiden Händen hielt sie seinen Arm fest, selbst wenn er wollte, er könnte ihr nicht entkommen.
Und er wollte das auch nicht mehr. Sein anfänglicher Widerstand brach schnell zusammen, bald konnte sie ihn dirigieren, wie sie wollte. Und er ließ alles mit sich geschehen, ließ sich zu ihr ziehen, sie besteigen. Sie zerrte ihm das Nachthemd vom Leibe, schnappte sich sein hartes Ding und führte es sich ein. Sie zog ihn noch tiefer zu sich herunter, schlang ihre Arme um seinen Hals, damit sie besseren Halt für die Bewegungen ihres Beckens hatte.
Mit ganzer Kraft stieß sie nach oben, das lärmende Knarren des Bettes, das jedesmal ertönte, wenn ihr Körper zurückfiel, kümmerte sie genauso wenig wie ihr lautes Keuchen und Stöhnen. Im Gegenteil, das alles trieb sie noch mehr an, sie raste geradezu ihrem Höhepunkt entgegen. Wie ein wildgewordenes Pferd galoppierte sie den Berg hinauf, meinte bald, den Gipfel zu sehen. Aber sie kam ihm nicht näher, ja es schien ihr gar, der Gipfel würde sich vor ihr verstecken.
Sie hatte gehofft, es diesmal mit ihrem schamlosen, ja geradezu dirnenhaften Benehmen zu schaffen, allein durch ihre Sinne zur Erlösung zu kommen, aber bald mußte sie einsehen, daß alle Mühe ihres Körpers vergebens war: Sie würde wieder ihre Fantasie in Anspruch nehmen müssen, dieses unheimliche Etwas, das Atemlosigkeit verursachen konnte und allein in der Lage war, sie ins Paradies zu befördern.
Martha blieb ermattet liegen. Dann zog sie ihre Beine fast bis zur Brust hoch und öffnete sich Sigi ganz. Sie legte ihre Hände auf seine Hinterbacken und ein leichter Druck darauf genügte, ihn, der zuvor ob ihrer plötzlichen Regungslosigkeit auch innegehalten hatte, wieder in Bewegung zu setzen, und als sie sich sicher war, daß er auch ohne ihre Hilfe das Tempo halten würde, ließ sie ihre Arme kraftlos zur Seite sinken. Und nicht nur ihre Arme waren kraftlos, ihr ganzer Körper besaß keinen gespannten Muskel mehr, ja nicht einmal ihr Geist, sonst immer wach und begehrlich, Neues zu erfahren, zeigte kein Interesse, vielleicht weil er wußte, was kommen würde, ja unweigerlich kommen mußte.
Wie die Zigarre in Sigis vom Bart umgebenen Mund, so steckte sein Ding in ihrem von Haaren umgebenen und einem Mund gleichenden Geschlecht. Sie selbst hatte diesen Mund geöffnet, hatte das dicke, harte und doch weiche Ding hereingelassen, damit es in sie eindringe, in sie vordringe, sich in ihr ausbreite. Nichts wollte Martha ihm entgegenstellen, ganz im Gegenteil, sie wollte, daß es immer weiterging, weiter in sie hinein, sogar durch die Enge am Ende des Tunnels, die als letzte Barriere diente vor dem Heiligen, vor dem Kind, das da in ihr heimlich heranwuchs. Das Kind sah das Ding herankommen und öffnete vor Erstaunen den Mund. Es öffnete ihn weit, und als das Ding in diesen Mund eindrang, kam es Martha.
Es kam ihr wie immer an diesem einen Punkt, nie hatte sie es anders erlebt. Nur etwas war diesmal anders: Das Kind, das früher immer namen- und gesichtslos war, kam ihr bekannt vor - seine Haare waren blond.