Silberkatze
SILBERKATZE
Es war einmal eine große Tigerkatze, silber- weiß gestreift. Sie wirkte in dem Moment, in dem sie der alte Mann beobachtete, sehr nervös. Ging dauernd auf und ab. Doch ihr Anblick war trotzdem einfach wunderschön. Diese Größe, dieser Stolz den sie in sich trägt, welcher sich bei nur jeder kleinsten Bewegung bemerkbar machte. Riesengroße Tatzen die den Boden berühren und ihn sogleich wieder verlassen, um ihn wieder zu berühren. Er bewunderte sie, doch schien sie ihm im gleichen Moment aber auch sehr unrund. Er machte sich ein bisschen Sorgen, vielleicht war sie ja krank, Und auf einmal, nach mehrmaligem Auf- und Abgehen sank sie zu Boden. Einfach so. Und da lag sie nun, schnaufte, versuchte sich wieder aufzurichten, doch es gelang ihr nicht. Er wollte ihr so sehr helfen, doch er konnte nicht. Wie denn auch? Die Silberkatze war eingesperrt in einem Käfig, der eigentlich viel zu klein war, dachte er sich. Sogleich machte sich der alte Mann auf den Weg um einen Wärter zu finden. Irgendwo musste doch einer sein. Als er nach zehn Minuten noch immer keinen gefunden hatte, wandte er sich zurück zu dem Käfig in dem sich die Silberkatze befand. Sie lag noch immer am Boden, schnaufend und der ganze Stolz, die Schönheit die sie noch vor wenigen Minuten ausstrahlte und ja, sogar die Farben schienen verblasst zu sein. Der alte Mann ging einmal um den Käfig, auf die andere Seite und sah irgendetwas Merkwürdiges an ihrem Hinterteil. Sah aus wie eine Tatze, die aber dreimal so klein war wie die der Silberkatze.
Jetzt wurde ihm erst bewusst, was da vor sich ging. Dieses prächtige Tier war gerade dabei, ihr, vielleicht erstes, Junges zu bekommen. Jetzt sah er erst, wie sehr sie sich mit dem Pressen bemühte, dann wieder schnaufte und wieder presste.
Der alte Mann wusste sofort, dass er sich so schnell wie möglich wieder auf den Weg machen musste, um einen Wärter zu finden. Die Silberkatze brauchte unbedingt Wasser und wer weiß, ob diese Geburt ihren normalen Verlauf nachging... er musste unbedingt jemanden finden, bevor es zu spät ist, dachte er sich.
Er fing an zu rennen, rannte von einem Stall zum anderen, sowie von einem Gehege zum anderen. Bei den Elefanten vorbei, die genüsslich ihr Stroh aßen, nichtsahnend dessen, was ein paar Gehege hinter ihnen passierte, Dann weiter zu den Antilopen, die es sich im Schatten bequem machten und wieder weiter den Hügel hinauf zu den Wölfen, die gerade dabei waren ihre Beute in Stücke zu zerreißen und sich gegenseitig, um des Futterneides- Willen, böse anknurrten. Doch nirgendwo ein Wärter.
Der alte Mann dachte ganz fest an die Silberkatze, fragte sich, ob sie überhaupt noch lebte und ob das Kleine die Chance
bekommen würde, das Licht der Welt zu erblicken?
„ Wunderschöne Tigerkatze“ , hörte er sich sagen, „gib nicht auf, ich finde Hilfe, ich verspreche es. Nur nicht aufgeben“. Und auf einmal, als er bei den Eisbären angekommen war, sah er einen Wärter, der gerade dabei war, diese zu füttern. Der alte Mann schrie wie verrückt um Hilfe und hüpfte von einem Bein auf das andere. Die Leute die um ihn standen, schauten ihn für einen Augenblick verdutzt an und machten aber dann sogleich ihren Spaziergang weiter, als wäre nichts Auffälliges gewesen. Der alte Mann schrie weiter: „Bitte kommen sie doch schnell,... die Silberkatze... im Käfig...sie macht es nicht mehr lang. Sie wird sterben... bitte helfen sie ihr. Schnell....“.
Und so schnell wie der Wächter sich dann auf den Weg zur Silberkatze machte, konnte der alte Mann ihm gar nicht folgen. Er versuchte ihm nachzurennen. Als sie dann beide angekommen sind, sah der alte Mann genau das, was er vermeiden wollte. Die prächtige Silberkatze atmete nicht mehr, die Farben waren jetzt vollkommen verblasst. Sie hatte es nicht geschafft. Er spürte sogleich einen Stich in seinem Herzen und ihm schossen die Tränen in den Augen. Der Wärter öffnete den Käfig, trat vorsichtig in die Nähe der Silberkatze, berührte sie, stieß sie kurz an, aber diese rührte sich nicht mehr. Er blickte in des alten Mannes Richtung, schüttelte den Kopf und in dem Moment wusste er, dass er versagt hatte. Er hätte sich schon viel vorher auf den Weg begeben müssen um Hilfe zu holen. Für ihn brach in diesem Moment das erste Mal in seinem Leben die ganze weite Welt zusammen und er weinte in Strömen.
Doch was ist mit dem Tigerbaby?- fragte er sich. Und als der Wärter die Silberkatze versuchte zur Seite zu schieben, entdeckte er es. Es hatte sich unter den Vorderpfoten seiner toten Mutter versteckt, wirkte sehr ängstlich und fauchte den Wärter an. Es hatte überlebt und es war genau so schön wie seine Mutter. Der alte Mann ging näher an den Käfig und blickte den Neuling in den zwei kleinen schwarzen Augen, blickte auf den kleinen Körper, der jetzt ganz auf sich allein gestellt war und die Wärme seiner Mutter nicht mehr spüren konnte. Bevor er sich auf den Weg nach hause machte, hörte er sich noch sagen: „Kleine Silberkatze, es tut mir leid. Ich habe zu spät gehandelt. Es ist allein meine Schuld. Aber ich verspreche dir, ich werde für dich da sein, obwohl ich weiß, dass ich dir niemals das geben kann, was deine Muter dir hätte geben können.“
Tränen flossen wieder in seinen Augen. Schließlich ging der alte Mann nach Hause, brach sein Versprechen nicht und besuchte seitdem jeden Tag das Silberkatzenbaby und man kann fast sagen, dass sie dicke Freunde wurden. Er durfte es sogar füttern und ab und zu mit ihm spielen.
Und dieser Mann, dessen Geschichte soeben erzählt wurde, hatte seit diesem Vorfall noch nie zuvor eine Träne vergossen. Er empfand es immer als große Schwäche, das Weinen. Aber an diesem Abend weinte er stundenlang. Es kam alles raus, was ihn schon so lange gequält hatte. Und er fühlte sich viel leichter und glücklicher. Und jedes Mal wenn er die kleine Silbertigerkatze besuchte, erzählte er ihr von seinen damaligen Ängsten, Befürchtungen und Aberglauben bezüglich dem Weinen und versuchte zu erklären wie wichtig es ist, Sachen die einen belasten auch irgendwann mal abzubauen. Entweder man redet darüber oder man vergießt ein paar Tränen und schon geht es einem besser.
Und manchmal ertappt er sogar das kleine Tigerkatzenbaby dabei, wie ihm eine Träne runterkullert, dann wird mächtig gekuschelt und alles ist wieder gut.