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Simeon
"Verschwinde!“, faucht sie mich wütend an.
Ich weiche zurück und bleibe schliesslich hinter dem grossen Ahornbaum stehen. Mit wachsamen Augen beobachte ich sie. Sie sieht traurig aus, ihre grossen, bernsteinfarbenen Augen blicken sehnsuchtsvoll zu dem Fenster im zweiten Stock hinauf. Ich weiss, dass sie wartet. Aber sie wartet vergebens. Ich möchte ihr gerne helfen, aber solange sie mich zurückweist, kann ich es nicht.
Es ist ein lauer Sommerabend, vermutlich einer der letzten. Ein warmer Wind streift meine bronzefarbenen Arme, die sich dunkel von dem Weiss meines Hemdes abheben. Es riecht nach Malven, ein Geruch, den ich sehr liebe und den ich vermissen werde, wenn ich zurückkehre. Aber noch ist es nicht Zeit. Noch nicht …
Meine Aufmerksamkeit richtet sich wieder auf die alte Holzbank, auf der sie sitzt. Sie hat sich nicht bewegt, sitzt immer noch in der gleichen steifen Haltung wie vor ein paar Minuten. Die Arme vor ihrer Brust gekreuzt, die Beine überschlagen, das Kinn hoch erhoben, so sitzt sie da und starrt hinauf zu dem Fenster, bei dem die Jalousien runtergelassen wurden. Sie will es mir beweisen. Ich merke es an ihrem entschlossenen Blick. Noch nie hat sie sich vor mir so sehr verschlossen wie in diesem Augenblick. Es macht mich unglücklich, aber ich kann es auch verstehen. Ich weiss, dass es zu spät ist. Ich fühle es.
Langsam verschwindet die Sonne hinter den Dächern der Häuser. Ein zart schimmernder, rosa Streifen breitet sich am Horizont aus, vermischt sich mit dem dunklen Blau der Dämmerung. Ich lehne mich gegen die raue Rinde des Ahorns und schliesse für einen kurzen Moment die Augen.
Als ich sie wieder öffne, sehe ich, dass sie sich erhoben hat. Sie dreht mir den Rücken zu, um mir zu zeigen, dass sie mich nicht braucht. Nachdenklich betrachtet sie das Gebäude vor ihr. Die Jalousien sind nach wie vor unten. Kein gutes Zeichen, das weiss sie. Plötzlich dreht sie sich um und schaut mich an. Ich sehe die Verzweiflung in ihren Augen, aber auch die Hoffnung, die sie noch nicht aufgegeben hat. Sie signalisiert mir mit einem zaghaften Lächeln, dass ich mich zu ihr gesellen darf. Ich nähere mich ihr vorsichtig und stelle mich dicht hinter sie. Ihre Haare haben die Farbe eines Weizenfeldes, wie goldene Wellen fallen sie ihr über die Schultern.
Gemeinsam stehen wir vor der Rückseite des grossen Krankenhauses und blicken zu dem Fenster im zweiten Stock hinauf.
„Er wird nicht sterben, Simeon“, flüstert sie und wendet sich mir zu. Ihr Schmerz ist fast unerträglich für mich.
Ich sage nichts. Mein Schweigen ist Antwort genug. Ihre Stirn kräuselt sich, wie immer, wenn sie nicht gleicher Meinung ist.
„Sag, dass er nicht sterben wird! Sag es!“ Ihre Stimme klingt flehend.
„Das kann ich nicht“, antworte ich.
„Wer ist bei ihm?“
„Ben.“ Ich betrachte sie zärtlich. Wie stark sie doch ist. „Möchtest du zu ihm?“
Sie schüttelt energisch den Kopf. „Nein, ich mag keine Abschiede. Ausserdem ist ja Ben bei ihm.“ Sie überlegt kurz. „Es ist gut so.“
Sie lässt mich stehen und geht zurück zur Bank. Ich folge ihr. Als ich mich neben ihr niederlasse, spüre ich, dass etwas nicht stimmt. Es ist plötzlich so kalt. Erschrocken stelle ich fest, dass die Kälte aus ihr heraus kommt. Besorgt sehe ich sie an. Ihre Finger spielen mit der Kette, die sie um ihren Hals trägt. Ich war dabei, als er sie ihr geschenkt hat. Ich war dabei, wie bei so vielem, das sich in ihrem Leben ereignet hat. Angefangen bei der Geburt, später bei ihren ersten Gehversuchen, bei der Einschulung, als sie Fahrrad fahren gelernt hat, bei ihrem ersten Liebeskummer, als sie das erste Mal ohne Eltern in Urlaub fuhr und bei ihrem ersten Tag an der Universität. Überall war ich dabei, auch jetzt, als ihr bester Freund im Krankenhaus liegt und um sein Leben kämpft. Ein Kampf, den er leider verlieren wird.
Plötzlich hebt sie den Kopf und holt tief Luft.
„Vielleicht ist es besser, ich gehe mit ihm“, sagt sie.
„Nein!“, fahre ich sie an, was mir gleich darauf Leid tut. Ich nehme ihre Hand in meine. „Du kannst nicht gehen. Das werde ich nicht zulassen.“
„Warum nicht?“, fragt sie leise.
„Weil es meine Aufgabe ist. Es ist meine Aufgabe, dich zu beschützen. Und deine Zeit ist noch nicht gekommen.“ Ich drücke ihre Hand. Langsam weicht die Kälte und ich kann fühlen, wie sie sich entspannt.
Schliesslich senkt sie den Kopf und nickt langsam, fast bedächtig. Sie weint nicht gerne vor mir, diese Erfahrung mache ich nicht das erste Mal. Also wende ich mich leicht ab und blicke in die andere Richtung. Ich spüre, wie ihre Finger sich um meine klammern. Erst, als sie ihren Kopf gegen meine Schulter lehnt, drehe ich mich zu ihr. Ihre Augen glänzen vor Nässe, sie lächelt mich an. Ich lächle zurück. Dann löse ich mich aus ihrer Umarmung und stehe auf.
„Du musst gehen?“, will sie wissen.
„Ja, ich werde noch woanders gebraucht.“
„Simeon?“ Ihre Finger spielen wieder mit der Halskette. „Du kommst doch wieder?“
„Ich bin immer bei dir, egal, wo ich bin.“
Sie lächelt. „Ja, ich weiss.“
Ich drehe mich um, breite die Flügel aus und schwinge mich mit ein paar kräftigen Flügelschlägen in die Lüfte empor.