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Simeon

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07.10.2006
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Simeon

"Verschwinde!“, faucht sie mich wütend an.
Ich weiche zurück und bleibe schliesslich hinter dem grossen Ahornbaum stehen. Mit wachsamen Augen beobachte ich sie. Sie sieht traurig aus, ihre grossen, bernsteinfarbenen Augen blicken sehnsuchtsvoll zu dem Fenster im zweiten Stock hinauf. Ich weiss, dass sie wartet. Aber sie wartet vergebens. Ich möchte ihr gerne helfen, aber solange sie mich zurückweist, kann ich es nicht.

Es ist ein lauer Sommerabend, vermutlich einer der letzten. Ein warmer Wind streift meine bronzefarbenen Arme, die sich dunkel von dem Weiss meines Hemdes abheben. Es riecht nach Malven, ein Geruch, den ich sehr liebe und den ich vermissen werde, wenn ich zurückkehre. Aber noch ist es nicht Zeit. Noch nicht …

Meine Aufmerksamkeit richtet sich wieder auf die alte Holzbank, auf der sie sitzt. Sie hat sich nicht bewegt, sitzt immer noch in der gleichen steifen Haltung wie vor ein paar Minuten. Die Arme vor ihrer Brust gekreuzt, die Beine überschlagen, das Kinn hoch erhoben, so sitzt sie da und starrt hinauf zu dem Fenster, bei dem die Jalousien runtergelassen wurden. Sie will es mir beweisen. Ich merke es an ihrem entschlossenen Blick. Noch nie hat sie sich vor mir so sehr verschlossen wie in diesem Augenblick. Es macht mich unglücklich, aber ich kann es auch verstehen. Ich weiss, dass es zu spät ist. Ich fühle es.

Langsam verschwindet die Sonne hinter den Dächern der Häuser. Ein zart schimmernder, rosa Streifen breitet sich am Horizont aus, vermischt sich mit dem dunklen Blau der Dämmerung. Ich lehne mich gegen die raue Rinde des Ahorns und schliesse für einen kurzen Moment die Augen.

Als ich sie wieder öffne, sehe ich, dass sie sich erhoben hat. Sie dreht mir den Rücken zu, um mir zu zeigen, dass sie mich nicht braucht. Nachdenklich betrachtet sie das Gebäude vor ihr. Die Jalousien sind nach wie vor unten. Kein gutes Zeichen, das weiss sie. Plötzlich dreht sie sich um und schaut mich an. Ich sehe die Verzweiflung in ihren Augen, aber auch die Hoffnung, die sie noch nicht aufgegeben hat. Sie signalisiert mir mit einem zaghaften Lächeln, dass ich mich zu ihr gesellen darf. Ich nähere mich ihr vorsichtig und stelle mich dicht hinter sie. Ihre Haare haben die Farbe eines Weizenfeldes, wie goldene Wellen fallen sie ihr über die Schultern.

Gemeinsam stehen wir vor der Rückseite des grossen Krankenhauses und blicken zu dem Fenster im zweiten Stock hinauf.
„Er wird nicht sterben, Simeon“, flüstert sie und wendet sich mir zu. Ihr Schmerz ist fast unerträglich für mich.
Ich sage nichts. Mein Schweigen ist Antwort genug. Ihre Stirn kräuselt sich, wie immer, wenn sie nicht gleicher Meinung ist.
„Sag, dass er nicht sterben wird! Sag es!“ Ihre Stimme klingt flehend.
„Das kann ich nicht“, antworte ich.
„Wer ist bei ihm?“
„Ben.“ Ich betrachte sie zärtlich. Wie stark sie doch ist. „Möchtest du zu ihm?“
Sie schüttelt energisch den Kopf. „Nein, ich mag keine Abschiede. Ausserdem ist ja Ben bei ihm.“ Sie überlegt kurz. „Es ist gut so.“

Sie lässt mich stehen und geht zurück zur Bank. Ich folge ihr. Als ich mich neben ihr niederlasse, spüre ich, dass etwas nicht stimmt. Es ist plötzlich so kalt. Erschrocken stelle ich fest, dass die Kälte aus ihr heraus kommt. Besorgt sehe ich sie an. Ihre Finger spielen mit der Kette, die sie um ihren Hals trägt. Ich war dabei, als er sie ihr geschenkt hat. Ich war dabei, wie bei so vielem, das sich in ihrem Leben ereignet hat. Angefangen bei der Geburt, später bei ihren ersten Gehversuchen, bei der Einschulung, als sie Fahrrad fahren gelernt hat, bei ihrem ersten Liebeskummer, als sie das erste Mal ohne Eltern in Urlaub fuhr und bei ihrem ersten Tag an der Universität. Überall war ich dabei, auch jetzt, als ihr bester Freund im Krankenhaus liegt und um sein Leben kämpft. Ein Kampf, den er leider verlieren wird.

Plötzlich hebt sie den Kopf und holt tief Luft.
„Vielleicht ist es besser, ich gehe mit ihm“, sagt sie.
„Nein!“, fahre ich sie an, was mir gleich darauf Leid tut. Ich nehme ihre Hand in meine. „Du kannst nicht gehen. Das werde ich nicht zulassen.“
„Warum nicht?“, fragt sie leise.
„Weil es meine Aufgabe ist. Es ist meine Aufgabe, dich zu beschützen. Und deine Zeit ist noch nicht gekommen.“ Ich drücke ihre Hand. Langsam weicht die Kälte und ich kann fühlen, wie sie sich entspannt.

Schliesslich senkt sie den Kopf und nickt langsam, fast bedächtig. Sie weint nicht gerne vor mir, diese Erfahrung mache ich nicht das erste Mal. Also wende ich mich leicht ab und blicke in die andere Richtung. Ich spüre, wie ihre Finger sich um meine klammern. Erst, als sie ihren Kopf gegen meine Schulter lehnt, drehe ich mich zu ihr. Ihre Augen glänzen vor Nässe, sie lächelt mich an. Ich lächle zurück. Dann löse ich mich aus ihrer Umarmung und stehe auf.

„Du musst gehen?“, will sie wissen.
„Ja, ich werde noch woanders gebraucht.“
„Simeon?“ Ihre Finger spielen wieder mit der Halskette. „Du kommst doch wieder?“
„Ich bin immer bei dir, egal, wo ich bin.“
Sie lächelt. „Ja, ich weiss.“

Ich drehe mich um, breite die Flügel aus und schwinge mich mit ein paar kräftigen Flügelschlägen in die Lüfte empor.

 

Hallo Zerschmetterling,

und herzlich willkommen auf kg.de :)

Du bist Schweizerin, oder? Ansonsten würde ich dir das fehlende "ß" ankreiden... ;)

Tja, deine Geschichte. Viel kann ich dazu nicht sagen. Flüssig geschrieben ist sie schon, und soweit ich das erkennen kann, auch fehlerlos (ich habe allerdings nicht intensiv nach Fehlern gesucht).
Vom inhalt her ahnte ich etwa nach der Hälfte, um was es sich bei dem Erzähler handelt, insofern, falls es eine Überraschung sein sollte, kam sie bei mir nicht an. Die Beschreibungen vorher sind für meinen Geschmack etwas zu ausführlich und zu lang hingezogen, die Stimmung überladen, aber das ist sicherlich Geschmackssache. Ich empfand vieles als überflüssige Informationen (zum Beispiel die bronzefarbene Haut und das weiße Hemd, das wirkt so, als sieht sich der Erzähler von außen).

Irritiert haben mit die bernsteinfarbenen Augen, weil die Frau ja wohl menschlich sein soll, oder? Da kenn ich niemanden, der solche Augen hat.

Dann fand ich die Erwähnung des ominösen "Ben" eher überflüssig. Wenn Namen in einer Geschichte auftauchen, ohne dass sie erklärt werden, wartet der Leser oft unbewusst darauf, dass diese Person noch irgendwann eine Rolle spielt. Hier verschwindet die Figur aber gleich wieder in der Versenkung, ohne dass ich was über sie erfahren habe. Geschickter wäre ein "sein Bruder" o. ä., weil dann nicht so viele Fragen entstehen.

Ansonsten, stimmungsvoll, bildhaft, flüssig geschrieben und lesbar. Leider nichts, was mir allzu sehr im Gedächtnis bleiben wird, weil es dafür mir zu beliebig wirkt - ich finde wenig Zugang zu den Charakteren.

Tut mir Leid, dass das jetzt so negativ klingt :) Das ist Geschmackssache. Lass dich nicht entmutigen, ja?

Liebe Grüße,

Ronja

 

Hallo Zerschmetterling,
das Sterben anderer Menschen ist schwerer als es das eigene sein kann, weil man allein zurückbleibt. Deine Protagonistin wird, einfach so, relativ unspektakulär, von ihrem Schutzengel daran gehindert, den leichten Weg zu gehen. Große Konfrontationen sind da nicht, das Einzige, was aus der Geschichte bleibt, ist das Wissen, dass sie jemanden hat, der über sie wacht - und das ist, um es mit den Worten von Felsenkatze zu sagen, beliebig. Das finde ich schade, weil ich denke, dass du durchaus schreiben kannst... Die Sprache ist flüssig, aber Zugang gewährt der Text mir leider nicht.

gruß
vita
:bounce:

 

Hallo Zerschmetterling und herzlich willkommen auf kg.de!

Hehe, ich würde dir die fehlenden ... du meine Güte, ich find die Dinger grad nicht auf meiner Tastatur ... nicht ankreiden. ;)

Eigentlich möchte ich deinen Text nicht negativ bekritteln, denn er ist sehr schön geschrieben, aber beim Lesen ging es mir wie meinen Vorgängerinnen. Irgendwie hat die Story zu wenig Substanz. Die Momentaufnahme ist zu kurz, als dass da Atmosphäre und Nähe zu den Figuren entstehen könnte. Es ist für mich schwierig zu sagen, wieso mich deine Geschichte nicht vom Hocker gerissen hat, denn schreiben kannst du auf alle Fälle. Vielleicht ist es auch eine gewisse Abgestumpftheit, die man vom vielen Lesen hier kriegt ...

Ich finde es schön, dass du spezielle Farbbezeichnungen benutzt, das mag ich, aber am richtigen Einsatz solltest du noch feilen. Wie Felsenkatze habe ich mich gefragt, ob Menschen bersteinfarbene Augen haben können und bei bronzefarben ist mir eher ein geölter hirnloser Bodybuilder in den Sinn gekommen.

Ansonsten hoffe ich, dass man hier noch mehr von dir zu lesen bekommt, dass du es kannst, habe ich ja schon erwähnt. :)

Liebe Grüsse,
sirwen

 

Hallo Zerschmetterling,
auch von mir ein herzliches Willkommen auf kg.de!

Auch ich bin etwas zwiegespalten ob deines Texts. Sprachlich ist er sehr flüssig und angenehm zu lesen, mir gefällt die Idee, aus der Sicht eines Schutzengels zu berichten und die von vita zusammengefasste Grundidee ist auch nicht schlecht. Dass der Erzähler der Engel ist, habe ich nicht so schnell geahnt wie Felsenkatze; ich habe ihn für einen Freund gehalten, habe aber anfänglich auch sowohl ihn als sie als irgendwelche Fantasywesen aufgefasst, mag sein, dass mich die bernsteinfarbenen Augen irritiert haben (die aber drinbleiben sollten, weil sie schön sind ;)), mag sein, dass ich zu angestrengt nach Fantasy-Elementen gesucht habe.

Soweit das mehr oder weniger Positive. Was die Figuren angeht, hatte ich das Gefühl, dass du sie während des Schreibens sehr deutlich gesehen und gespürt hast und teilweise kommt das auch ganz gut rüber. Letztendlich fehlt aber immer noch etwas. Ich schätze, es ist das, was die Geschichte beliebig macht, wie es meine Vorkritikerinnen formuliert haben. Mein Vorschlag wäre, diesem traurigen, starken Mädchen noch etwas mehr Gesicht zu geben. Außer, dass sie schön und blond und eben stark ist und einen besten Freund hat, erfahren wir nicht viel über sie. Lass uns doch ein bisschen mehr von der Vertrautheit spüren, die zwischen Simeon und ihr sein muss und sich in der Aufzählung der Lebensstationen schon andeutet. Vielleicht kannst du einen Namen für sie finden. Und vielleicht den Konflikt zwischen ihr und Simeon angesichts ihrer Idee ("Vielleicht sollte ich besser mit ihm gehen") etwas deutlicher, schmerzhafter machen.

Atmosphäre hat die Geschichte für mein Empfinden schon und ist sehr schön zu lesen, aber ich bin der Meinung, dass da noch mehr sein könnte.

Liebe Grüße,
ciao
Malinche

 

Hey:),

ich schließe mich glaube ich im Großen und Ganzen meinen Vorrednern an. Du kannst schreiben, keine Frage, aber du musst glaube ich lernen (vielleicht ist es auch nur speziell so bei dieser Geschichte), dich mehr in den Leser reinzudenken. Wie Malinche auch schon meint, hast du glaube ich die Szene sehr stark vor Augen und du kannst dich gut mit ihr identifizieren. Aber kann das auch der Leser?
Mein Tipp, bring mehr Dynamit rein! Du musst es schaffen, dass der Leser nicht mehr aufhören will zu lesen. Dazu muss sich der Leser mit den Figuren identifizieren können und darüber hinaus muss die Geschichte irgendwie in ein Extrem gehen.
Für die Geschichte bedeutet das für mich: Bau die Charaktäre aus, was gleichzeitig bedeutet, bau die Handlung aus. Ich finde nicht unbedingt, dass der Höhepunkt ist, dass der Typ ein Schutzengel ist. Das denkt man sich schon sehr schnell. Dreh und Angelpunkt sollte vielleicht viel mehr sein, ob er das Mädchen davon abhalten kann. Dazu musst du das Mädchen aber als einen Charakter zeichnen, der mit absoluter Sicherheit in den Tod steuert und der Schutzengel es eigentlich nicht schaffen kann. Um dem ganzen noch einen draufzusetzten, hat der Schutzengel vielleicht selbst Probleme, weil seine letzte Person, auf die er aufpassen sollte, auch Selbstmord begangen hat. Ich persönlich liebe dann natürlich Geschichten, wo es der Engel schafft - die Spannungskurve geht runter und dann kommt der Paukenschlag. Aus irgendeinem Grund (der natürlich nicht unrealistisch sein darf) stirbt das Mädchen trotzdem - was damit eine Art Anspielung aufs Schicksal wird, gegen das sich nicht einmal ein Schutzengel stellen kann. Da könnte man dann weiter die Frage stellen, ob es vielleicht ein Negativum zum Schutzengel gibt, das versucht - nicht so offensichtlich wieder Schutzengel, das Mädchen in den Tod zu treiben. Naja, keine Ahnung... lass einfach mal deine Fantasy spielen, was die Motivation der beiden Charaktäre sind, was noch alles passieren könnte und so weiter und du kannst daraus echt ne klasse Geschichte machen.

Und lass den Kopf nich hängen, ich denke du kannst schreiben, aber manches muss man halt erst lernen oder kapieren - wie auch immer:)!!

Thomas

 

So, jetzt finde ich endlich Zeit, um zu antworten. Zuerst einmal (so ein bisschen zu meiner Rechtfertigung): Es ist meine erste Kurzgeschichte und ich habe nicht den Anspruch, dass man auf mich "gewartet" hat. ;) Zudem bin ich mit der meisten Kritik von euch einverstanden. Ich kann mich tatsächlich sehr gut mit der Situation identifizieren, da vor ein paar Wochen jemand gestorben ist, der mir sehr nahe stand. Ob das aber auch der Leser (oder die Leserin) kann, wusste ich nicht. Jetzt weiss ich es. :)
So oder so bin ich froh für die Kritik und deswegen entmutigt bin ich nicht. Im Gegenteil, das spornt mich nur noch mehr an. ;)
Zerschmetterling

 

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