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Sinnentleert, versteinert, ausgekotzt
Wie lange kann eine Uhr ticken? Und wenn sie nicht mehr tickt: geht die Bombe dann hoch? Der kleine Wecker auf Roberts Tisch tickte schon seit Tagen. Er hatte in der ganzen Zeit nicht geschlafen. Wie er so lange aufbleiben konnte, wusste er nicht. Vielleicht lag es an dem Whiskey, den er in sich hineinschüttete. Er wusste, dass Alkohol müde machte. Aber wer weiß? Wenn man ein Mensch wie Robert war, konnte Alkohol wie ein Aufputschmittel wirken, das tagelang anhielt.
Je länger er bewegungslos auf dem Sofa saß, desto mehr fühlte sich sein Körper wie Stein an. Eine Statue namens Robert. Früher ein lebender Mensch, dann erstarrt und schließlich als Kunstobjekt im Louvre ausgestellt. Der Denker – neokulturelle Interpretation eines sinnentleerten Künstlers.
Die Sonne machte Anstalten, zum dritten Mal unterzugehen, als Robert so etwas wie Müdigkeit spürte. Er schloss die Augen und verbannte jeden Gedanken aus seinem Kopf. Nach drei Tagen des Wachseins klappte das überraschend gut. Gedankenleer und erschöpft glaubte er, einschlafen zu können.
Als er seine Augen aufschlug, war es bereits sieben Uhr morgens. Draußen schien die Sonne durchs Fenster und blendete ihn. Sie war hell, heller als jemals zuvor. Sie löste richtige Schmerzen in seinen Augen aus; er hob die Hand, um die Schmerzen zu lindern. Seine gerade erst neu gestrichenen weißen Wände strahlten vom Licht, als wäre die gesamte Wohnung irgendwo ins Sonneninnere gefallen. Er hatte zwölf Stunden geschlafen, aber es fühlte sich an, als hätte er nur kurz gedöst nach einem dreihundert Kilometer langen Marathonlaufen. Jeder Knochen tat ihm weh, jeder Schritt wurde zum Kraftakt. Roberts Gleichgewichtssinn spielte nicht mehr mit. Der Boden, auf dem seine Füße standen, fing an sich zu drehen. Zuerst nur leicht, dann aber machte er Dreihundertsechzig – Grad – Wendungen, in immer schneller werdendem Tempo. Nach ein paar Sekunden musste er sich übergeben. Er kotzte auf das Blatt Papier, das die ganze Zeit, seitdem er sich auf das Sofa gesetzt hatte um etwas zu schreiben, bereit lag. Augenblicklich hörte der Boden auf, eine Waschmaschine zu sein. Robert schlug seine mit Tränen gefüllten Augen auf und sah auf den Tisch.
Seine Kotze tropfte auf den Boden, als wäre aus der Mitte des Tisches eine kleine Springquelle entstanden, aus der grünes, dickflüssiges Wasser heraus kam. „Wunderbar“, sagte er sich. „Das erste Zeichen des Schicksals, was es von meinen Geschichten hält.“
Robert stand auf und schleppte sich in die Küche. Er nahm sich eine Schüssel und füllte sie mit Cornflakes, schüttete dann Milch darüber und nahm sich einen kleinen Löffel aus einer Schublade. Mit der Schüssel in der Hand schwankte er wieder zum Sofa. Er setzte sich hin und begann zu essen. Nachdem die Schüssel nicht einmal ein kleines Tröpfchen Milch mehr enthielt, stellte er sie auf den Tisch, mitten in das grüne, dickflüssige Wasser der mysteriösen Springquelle hinein. Es machte ein leises, schmatzendes Geräusch, als würde sich die Schüssel über die ihm zukommende Behandlung beschweren.
Robert sah wieder zum vollgekotzten Blatt. Er nahm es in die Hand, knüllte es zusammen und sah dem Saft zu, wie er zwischen seinen Fingern hervorkam. Plötzlich überkam ihn Ekel. Er stand auf, schwankte ein paar Mal hin und her, und lief dann in die Küche. Nach zehn Minuten waren der Tisch, der Boden, seine Hand und die Cornflakesschüssel wieder sauber. Er legte ein neues Blatt Papier auf den Tisch und nahm seinen Lieblingsstift in die Hand.
„Ok“, sagte er dem Blatt. „Dann wollen wir dich mal bemalen.“
Die Feder des Stiftes schwebte über dem Papier, bereit, die Gedanken einer Statue aufzunehmen und festzuhalten. Es gab nur ein Problem: in Roberts Kopf hatte sich eine Wüste ausgebreitet, und gleichgültig, wie oft er den Sand mit einem riesigen Staubsauger entfernen wollte, es kam immer mehr nach. Sein Kopf wurde praktisch mit Sand überschwemmt. Der Stift fing plötzlich an zu schreiben.
Wenn der Sand in meinem Kopf aus den Ohren rieseln würde, wäre ich eine Sanduhr. Was passiert mit einer Sanduhr, wenn ihre Zeit abgelaufen ist? Geht die Bombe dann hoch? Oder wird sie einfach nur zu einem zwecklosen Gegenstand, dessen Daseinsberechtigung mit dem letzten Sandkorn in ein tiefes, dunkles Loch gefallen ist? Man könnte sie natürlich umdrehen, dann wäre sie wieder eine Sanduhr.
Ich weiß nicht, wie man einen alten Menschen umdreht, der kurz vor seinem Tod ist und drei Tage lang nicht schläft. Ich weiß nicht, wie man eine Statue wieder zum Leben erweckt. Vor allem weiß ich nicht, wie man verlorene Träume wiederfindet, die sich irgendwo im Sand vergraben haben; oder die im Sand vergraben wurden, um die Zeit nicht zu verschwenden, die man hat, bis das letzte Korn seinen Weg gefunden hat.