Situs inversus
Das Los fiel auf Salam und Thomas.
Der Professor stand hinter dem Pult, putzte seine Brille und fixierte die beiden Studenten.
„Kennen sich die Herren schon?“, hüstelte er und schnäuzte sich in sein Putztuch.
Thomas knackte mit dem Daumen die Gelenke seiner gelblichen Finger.
„Nein, Herr Professor!“, antwortete er.
Sein hektischer Blick zuckte zwischen dem Gelehrten und seinem Kommilitonen hin und her.
Salam saß in der ersten Reihe des Hörsaals wie in einem Lehnstuhl. Sein Blick rutschte gelangweilt an Thomas vorbei aus dem Fenster.
„Gut, gut!“, sagte der Altphilologe. „Dann wird das eine richtig interessante Erfahrung für euch beide.“
Damit zog er seine Schuhe unter dem Katheder hervor, nahm seine Bücher und schlurfte von Staubwölkchen verfolgt aus dem Saal.
Der junge Architekturstudent griff nach seiner Tasche, wischte sich den Schweiß vom Gesicht und näherte sich Salam.
„Hallo, ich bin Thomas!“, versuchte er es freundlich.
Salam bekräftigte seine Aufmerksamkeit mit einem Gähnen.
„Äh, ja, genau, äh, also ich studiere Architektur und …“, weiter kam er nicht, da Salam aus seinem Kaftan ein Zigarette gezogen hatte, sie anzündete und ihm den Rauch in die Augen blies.
„Was willst du?“, fragte er.
„Das Los, du weißt ja, das Programm, wir müssen jetzt eine Woche miteinander verbringen.“, pustete Thomas durch den Rauch.
„Paß mal auf!“, sagte Salam. „Ich mach bei dem Programm nur mit, weil ich dafür einen Schein bekomme, klar? Keine Ahnung, wer auf die Idee kam, dass wir uns mit euch abgeben sollen. Tatsache ist, ich bin Muslim, du Heide und das ist gut so! Was willst du dieses Wochenende machen?“
Thomas zog zwei Fahrkarten aus der Jacke.
„Du willst nach Hause fahren und ich soll mit!“, entzog ihm Salam das Wort. Den verwirrten Blick des Jungarchitekten beantwortete ein Finger des Geschichtestudenten. Die Schmutzwäsche war durch die Löcher seiner Tasche zu sehen.
Beschämt stopfte Thomas seine Unterwäsche zurück in Seesack.
„Ja, genau!“, sagte er resignierend.
„Na gut, warum nicht, bei Allah! Könnte ein Heidenspaß werden, Christ!“
Salam schnippte seine Zigarette aus dem Fenster, griff nach seinem Krokodillederbeutel und stand auf.
„Kleiner Mann, du bekommst eine Glatze. Komm schon!“, sagte er und schritt Richtung Ausgang.
Thomas war erleichtert, fasste kurz an seine blonde Tonsur und hechelte dem Hühnen hinterher.
Vor den Toren der Universität tat sich das Meer auf und die Sonne versuchte so wenig Schatten wie möglich zu erzeugen. Die Gewänder der Passanten schillerten in allen Farben. Masillia war herrlich im Spätsommer.
„Fuhrwerk oder Bahn?“, seufzte der Sarazene ohne einen Blick an den neuen Strohhut von Thomas zu verschwenden.
„Flugzeug!“, strahlte dieser.
Die finstere Miene des alten Studenten lichtete sich etwas.
„Dschayyid! Zu Fuß?“, schäuzte er auf die Straße.
Widerwillig winkte Thomas nach einem Motorwagen und berechnete die nächsten zwei Hungertage, während sie einstiegen.
Am Flugplatz wurde Thomas von allen Seiten durchleuchtet, befragt und gedemütigt. Wo er denn hin wolle, ob er etwas zu verzollen hätte, was er eigentlich sei. Salam stand amüsiert daneben und erklärte im schönsten Hocharabisch, dass dies sein neues Projekt wäre.
Unter Gelächter marschierte er an den Flugbegleiterinnen vorbei, zu seinem Platz, während sich Thomas überschlug sich fast bei dem Versuch sein durchwühltes Gepäck zu sortieren, den Ausweis zu verstauen und die Fahrkarten genehmigen zu lassen.
Salam hatte bereits Tee geordert und saß am Fenster.
Der Staub des Südwindes verkroch sich in den Motoren und die Piloten fluchten sich die Seele aus dem Leib, was Thomas sofort zu einigen Gebeten veranlasste.
„Nanana, mein kleiner Mönch! Allah wird uns schon beschützen!“, lachte das weiße Gebiss des Studenten und ließ einen Schluck Tee ein.
Die Viertakter dröhnten und husteten, rissen sich aber kurz vor dem Absterben zusammen und beschleunigten den Zehnsitzer.
Nach wenigen Stunden, in denen Thomas die Briefe seiner Mutter immer und immer wieder durchforstete und Salam den Schlaf der Gerechten genoß, hatte sich die Flugkiste über die Alpen bis nach Mainz gequält.
Kleinere Siedlungen schwammen wie Fettaugen in den dichten Wäldern, deren Grün das Auge fast zum Stillstand brachte. Es war eine unwirtliche Gegend.
Ihr Pilot brachte die Maschine sicher nach unten und ließ sie über den Rübenacker, den man hier Flugplatz nannte hüpfen.
Salam schrak mit einem Grunzen aus dem Schlaf.
„Bei Allah! Ya achi! Was ist los?“
„Wir sind da!“, sagte Thomas ruhig und rechnete Salams Schrecken die Anrede Bruder zu.
Auf dem Weg in die Stadt war Thomas kaum zu bremsen. Zu jeder Kreuzung, zu jeder Kapelle am Wegesrand, eigentlich zu Allem hatte er etwas zu sagen. Salam fror etwas, ließ sich aber nichts anmerken.
Sollten diese Heiden denken, was sie wollten, er würde nicht zittern.
Die Eltern von Thomas wohnten etwas außerhalb an einer Lichtung.
Lehm, Holz, ein paar Blumen. Salam zündete sich eine Zigarette an, als ihm der bittersüßliche Gestank des Misthaufens in die Nase kroch.
Bei der überfallsartigen Begrüßung, die seines Erachtens jede Form von Anstand weit überstieg, behielt er geziemenden Abstand.
Er wollte sich nicht gleich am ersten Tag reinigen müssen.
So zog er es auch vor, das Abendmahl auszuschlagen und sich zum Gebet zurückzuziehen.
Zur Ehre des Gastes, waren die Eltern mit Thomas in ein Zimmer gezogen und Salam breitete sich auf der ehelichen Lagerstatt aus.
Vor dem Einschlafen bemerkte er eine friedvolle Wärme, die er schon lange nicht mehr verspürt hatte.
Der Morgen verging sehr schnell und der Geschichtsstudent, wurde erst in der Stadt so richtig munter.
Thomas war wie ein Schwamm, der schon zu lange das Urmeer seiner Herkunft mit sich trug.
Er lief über bei den detaillierten Erklärungen zu Bau und Erhalt der Stadtstrukturen, erglühte bei den Heldentaten seiner Vorfahren und strahlte im Licht seiner Geschichte, als sie zum großen Museum kamen.
Hier wurde Salam wach. Das Museum war eine Fundgrube heidnischen Brauchtums. Ihm wurde fast ein Bisschen schlecht, als er von den Lebensumständen nach Eroberung durch die Almohaden hörte, doch richtig verwirrt war er, als sie durch die Gänge in den großen Ahnensaal traten.
Die getäfelten Wände waren mit reinstem Brokat überzogen und die goldgetränkte Decke reflektierte das Licht des Lusters wie es keine Sonne in Allahs reich je geschafft hätte.
Wilde Helden in Bärenfellen säumten in Stein gehauen die Reihen der Vitrinen. In ihnen lagen alte Handschriften, die unzähligen Mönchen das Augenlicht gekostet hatte, reich bestickte Gewänder der Kurfürsten, die schon seit Ewigkeiten keine Wärme mehr schenken mussten und Messgefäße aus reinsten Metallen.
„Al-hamdu lillah!“, entfuhr es ihm bei so manch verwegenem Blick der Ahnenstatuen.
„Die Bilder in unseren Büchern! Alle falsch!“, durchzuckte es den Geschichtsstudenten.
Während der kleine Architekt weiter quasselte wie eine Wäscherin, gab etwas in seinem Gemüt nach.
„Wenn sie wirklich so ungläubig sind, wie um alles in der Welt waren sie zu solch einer Kultur fähig!“, rollten die Gedanken in ihm wie ein Mühlstein.
Als sie das Museum verließen wurde Thomas stiller. Sie wanderten durch die weitläufigen Gassen.
Salam musste seinen Kaftan raffen. Der Dreck quoll nur so aus den Häuserreihen. Als wären es Hausboote.
Waffenschmiede schwitzten den Stahl gerade, Eimer voll Blut wurden vor die Türen der Metzger gekippt und alte Weiblein boten Kleidung feil, die genauso zerschlissen waren wie sie selbst.
An einer Kreuzung blieb Salam stehen. Der Hauptplatz griff weit um sich.
„Thomas!“, es war das erste Mal, dass er einen Heiden beim Vornamen nannte, „zeig mir mehr!“
Er fühlte sich bedrückt und unklar.
„Laß uns essen und trinken.“, schlug Thomas vor und führte ihn in ein altes Gasthaus. Die niedrigen Decken ermöglichten kaum Luftaustausch und das Erscheinen des Fremdlings wenig Aufregung. Die zerhackten Gesichter der Pelzhändler versanken in großen Humpen und Geld wechselte im Sekundentakt den Besitzer beim Kartenspiel.
Das Geschwätz der Einheimischen war nicht zu verstehen, was Salam ganz recht war. Er kannte die Meinung der Christen zu genau.
Die feiste Wirtin brachte etwas Brot und Wein.
„Du bist doch Sufi, Salam, oder?“, fragte Thomas unsicher.
Salam nickte in Gedanken versunken.
Sie stießen an und nach dem zweiten Glas waren sie tief im Gespräch.
„Wie konnte es soweit kommen?“, begann Salam.
„Ich meine wir konnten euch nie erobern, aber weit genug in der Zeit zurückwerfen, dass ihr keine Gefahr mehr darstellt.“
„Keine Ahnung, Salam! Wir wollten wahrscheinlich nur überleben.“
Der Wein floß nur etwas langsamer als ihre Gedanken.
Salams Rührseligkeit hatte den Punkt der Wahrheit erreicht.
„Thomas! Mein lieber Thomas!“, lallte er.
„Hätten wir nicht Spanien erobert, unsere Koranschulen gebaut und euch das Fürchten gelehrt, was hätte aus euch werden können? Die Juden haben wir mit den Engländern in das Westland jenseits der Nacht transportiert. Rom, ein Trümmermeer durch die Osmanen. Bei Allah, es ist eine Schande! Ich sage dir als Historiker, wie ich hier sitze. Hätten wir nicht unseren Buchdruck gehabt, was hätte alles aus euch werden können. Stell dir das nur vor. Stell dir vor, ihr hättet eure Bibel zu uns gebracht und nicht wir den Koran zu euch.“
Thomas nahm einen tiefen Zug, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und sagte: „Möglicherweise Freunde!“.
Sie standen auf, sahen sich tief in die Augen und fielen sich teils vom Wein geführt, teils von Gefühlen getragen in die Arme.
Der Wirtshauslärm rollte an ihnen vorbei. Sie waren eine Insel der Eintracht.
Als sie sich wieder setzten, kam die Wirtin an den Tisch und lächelte: „Ein Bote war gerade da! Die Herren können heute bei mir übernachten.
Ihre Eltern möchten sie morgen vor der Kirche treffen Herr Gutenberg.“