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- 01.10.2009
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So fern und doch so nah
Ich reibe mir meine Augen, greife zum roten Kuli und warte. Und warte. Da erscheint er. Wie immer adrett gekleidet und perfekt vorbereitet. Unmengen an Informationen prasseln auf uns ein.
Jemand hustet.
Ich erfahre nichts Neues, aber seine Stimme elektrisiert. Alles wirkt so plastisch, so nah, animiert uns, schreit uns an.
Eine Stimme, die sich erhebt. Wie man es erreichen könne, möchte sie wissen.
Schweigen.
Seine schwarzen Augen blitzen auf und stehen dann still. Sein linkes Auge zuckt zweimal. Eine Schweißperle wird am Ansatz seines lichten grauen Haares sichtbar. Es sind die frischen Sonnenstrahlen an diesem Montagmorgen, die ihre Macht demonstrieren. Jetzt muss er nur noch seine zeigen.
Er nimmt die Brille ab, legt sie beiseite und räuspert sich. Die Lippen presst er zusammen, ehe sich auf seinem Gesicht ein Grinsen abzuzeichnen beginnt. »Sehen, nicht nur verstehen. Man muss den Arsch zusammenkneifen und Eier zeigen!«
Ich schaue in die Runde. Hektisch drehen meine Kommilitonen ihre Köpfe von der einen zur anderen Seite. Große Augen und aufkommendes Kichern erfüllen langsam den Saal. Ich tue es ihnen gleich und ernte zustimmendes Nicken.
Vorbei. Raus!
Die Türen der Straßenbahn öffnen sich. Ich setze mich, ein Fensterplatz nimmt mich in Empfang. »Eier zeigen!« Dieser Satz lässt mich nicht los.
Agieren, nicht reagieren! Angreifen statt verteidigen!
Sie sind bereits eingetroffen, vorbereitet und warten, wobei sie nervös hin und her marschieren. Ich breite mich in der ersten Reihe aus und schaue mich um. Noch bleibt mir Zeit, eine Kleinigkeit zu essen – ich führe das Brötchen langsam an meinen Mund. Mein Körper kann es kaum erwarten, die Nährstoffe gierig aufzusaugen. Die erste Kraftquelle am heutigen Tag – dem Tag, auf den alle gewartet haben.
Dicke Wolken verdecken die Sonne und drohen. Die Luft ist feucht.
Er kommt. Im Schlepptau vier junge Männer in weißen T-Shirts und zerschlissenen Jeans. Er selber trägt einen schwarzen Pulli, sein Markenzeichen. Die rote Faust auf der Vorderseite ist jedem bekannt. Und jeder liebt sie.
Ich stehe auf, die anderen tun es mir gleich. Wir kreisen ihn ein. Ich lasse meinen Blick über die Menschenmenge schweifen. Achtzig oder neunzig, schätze ich. Von weitem sehe ich, wie ein neuer Strom aufmarschiert. Jeder weiß, warum er hier ist.
Er steigt auf eine Kiste, wirft seine Arme gen Himmel und wartet. Und wartet. Der andere Strom stößt zu uns, wir verschmelzen und wachsen weiter. Dann lässt uns seine Stimme verstummen.
Er senkt seine Arme, holt tief Luft und redet zu uns. Seine Worte, seine Sätze, seine Bedeutungen – jeder von uns versteht sie. Erklärungen sind unnötig.
»¡Ya basta!«, ruft er aus, wodurch unser inneres Feuer weiter angefacht wird. Wir lodern, brennen. Ein Donner dient uns als Aufbruchssignal.
Nehmt euch in Acht!
Die nächste Runde wartet schon. Ich stapfe über die grüne Wiese, da mir die Zeit davonläuft. Vor mir erhebt sich das Löwengebäude und empfängt mich automatisch mit offenen Türen. Ich schreite mit großen Schritten durch die Eingangshalle, lehne mit einem energischen Kopfschütteln einen Flyer ab, den mir eine schwarz gekleidete Studentin entgegenstreckt, und erklimme die Stufen zur ersten Etage. Ich spüre ein Unwohlsein, als beobachte mich jemand.
Im Raum angekommen werfe ich meinen in Armeefarben gehaltenen Rucksack auf den Stuhl und setze mich daneben. Ich schaue auf meine Uhr, packe dann alles aus und schiebe mir noch hektisch ein mit Tomate und Mozzarella belegtes Chiabatta-Brötchen in den Mund.
Wild gestikulierend steht er vor uns, erklärt uns, wie die Mexikanische Revolution ablief und welche Folgen sie hatte. Bauernrevolten, Regierungswechsel und Korruption führten schließlich zur heutigen EZLN, der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung, und zum Kampf gegen die heutigen korrupten Machthaber und Paramilitärs, die ganze Dörfer innerhalb weniger Stunden auslöschen.
Ich lehne mich mit dem Stuhl gegen die Wand und beobachte die anderen Studenten. Kurz lasse ich das Szenario der beschriebenen Proteste in den Straßen Mexikos Revue passieren. Als ich meine Augen dort drüben öffne, finde mich auf einem riesigen Platz wieder, neben mir erblicke ich Männer und Frauen mit kleinen Kindern, die allesamt in eine Richtung blicken. Ein Mann in Armee ähnlicher Kleidung, dessen Gesicht mit einer schwarzen Skimaske verdeckt wird, spricht zu ihnen.
Ich spule vor.
Auf dem Rückweg in unsere Dörfer sehe ich, wie das Militär uns begleitet.
Eier zeigen! Eier zeigen! ertönt es in meinem Kopf. Ich blicke nach links und rechts. Jeweils ein Dutzend Soldaten mit ihren Gewehren im Anschlag. Auch meine Freundin erblicke ich. Sie lächelt mir zu.
Man muss den Arsch zusammenkneifen!
Klick! Ohne lange nachzudenken, bücke ich mich und greife zum größten Stein, den ich finden kann. Was soll mir hier schon passieren?
Ich rufe: »Jetzt zeige ich Euch Eier!«
Ich zucke zusammen: Schüsse. Ich drehe mich um – nichts. Hinter einer Holzhütte sehe ich Männer in Uniform vorrücken, die Gewehre im Anschlag.
Wieder Schüsse!
Rennend ziehen Männer ihre Frauen und Kinder hinter sich her, um sie in Sicherheit zu bringen, ihre Familien zu retten.
»Was ist passiert?«, frage ich die junge Frau, als wir in Richtung Feld hasten und meine Stimme dabei auf und ab hüpft.
»Er hat einen Stein geworfen, der Idiot. Die hatten ihn vorher provoziert!«
»Scheiße!«, fluche ich, werfe einen kurzen Blick zurück und halte sofort an. Was ich dort erblicke, lässt mich erschaudern: Eine Frau, die zusammenrutscht – das weiße Bündel in ihren Armen lässt mich Schreckliches erahnen. Ohne lange nachzudenken, mache ich kehrt, weiche den Flüchtenden aus, springe über Pfützen und rutsche auf dem vom Regen durchweichten Boden beinahe aus.
Schließlich nähere ich mich der am Boden liegenden Frau. Ich hebe nochmal meinen Kopf, um die Lage richtig einschätzen zu können, und drehe dann die Frau auf den Rücken. Mit weit aufgerissenen Augen und schmerzverzerrtem Mund liegt sie vor mir. Regentropfen klatschen auf ihre Augäpfel – keine Reaktion.
Maria! schießt es mir durch den Kopf. Meine Erinnerungen bringen mich in die Vergangenheit. Damals. Der Protest, das unüberlegte Verhalten meinerseits, die Provokation. Maria starb an jenem Tag. Im Regen. Ein Schuss in den Rücken. Keine Chance.
Ein Knall holt mich aus meinen Gedanken. Geistesgegenwärtig packe ich das weiße Bündel und renne los, renne um mein Leben – so schnell, wie ich noch nie gerannt bin, den Tod im Rücken deutlich spürbar ...
Da liegt er im Graben, die Hände vor dem Gesicht. Volltreffer! Genau so, wie ich es geplant habe.
»Wir lassen uns von euch doch nicht kleinkriegen, Ihr Wichser!«, schreie ich. Da packt mich auch schon jemand am Arm – meine Freundin.
»Los, weg hier!«, schreit sie mir ins Ohr.
Sie zieht mich energisch hinter sich her, ich schaue nochmal zurück und sehe, wie andere Soldaten sich um den Verwundeten sammeln, der in unsere Richtung deutet.
Rufe. Menschen rennen wild umher. Einer der Männer zieht eine Handfeuerwaffe, zielt in unsere Richtung.
Da liegt sie. Getroffen. In den Rücken geschossen, auf Brusthöhe, vermutlich das Herz. Ein seltsam dunkles Blut säumt ihr weißes Oberteil. Ich beuge mich über sie, drehe sie um und sehe ihr in die Augen. Keine Reaktion. Die Augen sind blutunterlaufen und aus den Mundwinkeln fließt der lebenswichtige Saft. »Ihr Scheißkerle!«
Ich drehe meinen Kopf, lege den Bleistift beiseite und wähle das Fenster zu meiner Linken, blicke hindurch und grinse.
Wir rennen wieder. Gleich schießt er, raunt es mir durch den Kopf. Ich stoße sie nach links, sie fällt. Ein Graben – Sicherheit.
Ich baue mich wieder auf dem Weg auf. Die Soldaten näher sich in Schusshaltung. Ich gebe mich unschuldig. Als sie bis auf einige Meter von mir entfernt schussbereit stehenbleiben, lasse ich blitzschnell meine linke Hand zum Halfter schießen und ziehe.
Da liegen sie im Matsch, alle sechs – perfekte Kopfschüsse. Ha, gegen mich hat keiner eine Chance!
»Wir sehen uns dann nächsten Montag wieder. Auf Wiedersehen!«, holt mich die Abschiedsfloskel von Professor Ludwig aus meinem Traum – Schade! Es war doch solch ein Spaß.
Er greift seine Aktentasche und verlässt fluchtartig den Raum. Mein Blick fällt nebenbei auf das große Pult, und ich stelle mir vor, wie lustig es doch wäre, wenn die Soldaten von Möbelstücken zerquetscht würden. Ich verlasse den Raum mit einem breiten Grinsen.
Held zu sein, ist schon was Schönes!
Ich sitze, in meinem Arm halte ich das kleine Kind. Es ist vielleicht ein halbes Jahr alt, schaut mich mit seinen dunklen Augen an und lächelt. Die rotbraune Innenverkleidung des ringförmigen Kanals, der uns Zuflicht gewährt, jagt mir einen zusätzlichen eiskalten Schauer über den Rücken. Doch nicht allein die Kälte, auch der beißende Gestank nach verfaulten Eiern drängt mich dazu, uns in Sicherheit zu bringen – zu mir.
Meine kleine Hütte im Dorf U. betrete ich durchnässt vom starken Regenguss, der uns gerade heimsucht. Ich lege das Baby in mein Bett und decke es mit allen Decken zu, die ich finden kann.
Ich beobachte das kleine Geschöpf, wie es daliegt und ruhig schläft. Es hat seine Mutter verloren, die für ihre Überzeugung eintrat, lässt mich mein Gewissen erschaudern. Sein unschuldiges, sanft anmutende Gesicht, das dunkle Haar – Erinnerung werden wach. Erinnerungen an Maria.
Maria. Meine Liebe.
Leise höre ich es atmen. Ich lege meine Hand auf sein Bäuchlein und spüre, wie er sich langsam hebt und senkt. Überlebt, schießt es mir durch den Kopf.
»Morgen werde ich in Erfahrung bringen, ob du noch Verwandte hast, meine Kleine«, flüstere ich, setze mich auf den Holzstuhl am Fenster und schaue hindurch.
Was soll aus ihr werden? Und aus mir? Sollte ich nun für ein Kind verantwortlich sein? Möglich ist alles. Darauf gefasst, was ich zwar nicht, aber ich schwöre: Ich werde kämpfen!
»Schmeckt's?«
»Klar, was geht?«, frage ich.
»Nicht viel. Und bei dir? Vorlesung? Sind wieder welche gestorben im ach so schrecklichen Mexiko?«
»Ja, wie immer.« Ich nehme den BicMac in beide Hände, führe ihn zum Mund und beiße hinein, wobei er eine großen Ketchupfleck auf dem Tablett hinterlässt, über den ich eine Stoffserviette lege und genüsslich erkläre: »Ach, die Vorlesung, immer nur Tote, aber wir müssen uns damit auseinandersetzen. Wir sollen es ernst nehmen, nicht damit spielen – es sei ja die brutale Realität.«
Wir lachen.
Wenn ich dort wäre, würde ich aufräumen!
ENDE