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So sind Kinder eben
Manchmal muss man eben tun, was man tun muss, dachte die Frau. Sie hatte es ihrem Kind ja gesagt. Ja, sie hatte es ausdrücklich gewarnt. Immer und immer wieder! Die Frau brauchte sich nicht zu schämen. Nein, nein. Sie hatte ihr Kind ja gewarnt. Sie hat es gewarnt und es hat trotzdem nicht hören wollen. So waren Kinder eben. Die Frau hatte das einzig Richtige getan. Ja, ihr Kind war doch selber daran schuld. Es ist ja ermahnt worden, dachte die Frau und nickte sich versichernd zu. Strafe musste sein. Ganz recht. Sie hatte es dem Kind gesagt und es hat nicht hören wollen. Dann musste es halt fühlen. So war das eben mit Kindern. Ja, ganz recht. Manchmal muss man eben durchgreifen, sprach sich die Frau zu, erhob sich ruckartig vom Bett und tigerte im Zimmer auf und ab.
„Du musst mich jetzt gar nicht so ansehen“, sagte sie zu ihrem Kind, das wie eingefroren auf dem Bett hockte und seine Mutter mit weit aufgerissenen Augen anstarrte.
„Du hast ja nicht hören wollen!“
Die Frau rieb die Handflächen gegeneinander. Immer fester, so dass es richtig heiß wurde und sich ein stechender Schmerz bis in die Fingerkuppen ausbreitete. Es hat ja nicht hören wollen! Was hätte die Frau denn tun sollen? Etwa nichts? Nein, nein. Sie hatte das Richtige getan.
„Du weißt genau, ich hatte keine Wahl. Du hast sie mir ja nicht gelassen! Du hast es ja nicht anders gewollt. Und jetzt hör endlich auf mich so anzustarren! Du bist selber daran schuld!“
Ich kann nichts dafür, dachte die Frau. Das Kind hat mich provoziert, ja regelrecht dazu gezwungen. Ich habe das Richtige getan. Bestimmt. Die Frau nickte erneut, ohne auch nur einen Moment stehen zu bleiben. Sie schaute kurz aus dem Fenster. Ihr Blick kam nicht weiter als zu der grauen, dicken Mauer, die sich um ihr Haus zog. Sie schaute wieder zu ihrem Kind, auf den Boden, schließlich wieder geradeaus und dann wieder aus dem Fenster. Ihre Handflächen waren vor lauter Reibung schon ganz rot.
„Wieso hast du auch nicht aufgehört?“, fragte die Frau, während sie die Hände noch fester gegeneinander rieb.
„Man muss doch auf seine Mutter hören! Ich habe immer auf meine Mutter gehört. Sie hat gesagt hör auf, ich habe aufgehört. Sie hat gesagt sei lieb zu dem Mann, ich war lieb zu dem Mann. Sie hat gesagt tu was der Mann sagt, ich hab getan was der Mann sagte. Ja, so ist das nun Mal. Man muss tun, was die Mutter von einem verlangt, hörst du! Sonst … sonst hat man doch Strafe verdient.“
Die Frau starrte wieder auf die Mauer. Bislang hatte sie ihr immer Sicherheit vermittelt, doch nun schien sie irgendwie beklemmend, als würde der Beton immer näher rücken und der Frau den Atem rauben.
„Ich habe dich gewarnt. Jetzt siehst du, was du davon hast!“
Die Frau schüttelte den Kopf. Sie hatte das Richtige getan. Natürlich hatte sie das! Das Kind hat nicht gehorcht und die Strafe verdient. Die Frau ballte ihre Hände nun zu Fäusten. So fest, dass das ganze Blut aus ihren Fingern gepresst wurde. Ihre Hände wurden dadurch ganz weiß. Weiß. Weiß wie das Kind, dachte die Frau und drückte dabei ein verzweifeltes Gelächter aus ihrer Kehle. Weiß wie ihr Kind, weiß wie ihre Weste. Schließlich traf sie keine Schuld. Nein, das kleine Kind war daran schuld, nicht sie. Die Frau blickte verächtlich auf es hinab. Sie hatte es erst vor sechs Monaten auf die Welt gebracht. Vorher war alles schöner gewesen. Vorher hatte sie noch ihre Ruhe gehabt! Und dann kam dieses Ding aus ihr heraus und schrie nur noch herum! Sie hatte es dem Kind doch gesagt, aber es hat einfach nicht hören wollen! Schreien war nicht gut, schreien brachte nur Ärger. Ihre Mutter war immer wütend geworden, wenn sie geschrien hatte. „Halt deine Fresse!“, hatte sie immer gesagt, die Frau wusste es noch ganz genau. Was hätte sie also tun sollen? Schreien war nicht gut. Und dann lag da plötzlich das Kissen neben dem Bett. Sie hatte es genommen und das Kind ruhig gestellt, so wie es ihre Mutter auch getan hatte. Ja, es musste doch wieder Ruhe einkehren. Sie musste grob sein, ja, denn das Kind hatte ihr nicht gehorcht. Jetzt saß es da und starrte sie an. Das Gesichtchen ganz weiß, die Ärmchen ganz weiß, die Beinchen ganz weiß. Es hatte ja nicht hören wollen. Die Frau traf keine Schuld. Es hat einfach nicht hören wollen. Kinder wollten nie hören! Aber so waren sie eben, die Kinder.