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Softwired
Sie lag in ihrem Bett, um sie herum die Schwärze der Nacht. In ihrem Körper vermischten sich langsam Blut und Droge, und unsichtbare Kräfte zogen ihren Geist aus dem Körper und in die Unendlichkeit hinab, dorthin wo Raum und Zeit keine Rolle spielen, wo sich Erinnerung und Realität, Vergangenheit und Gegenwart miteinander vermischen.
Der Weg war ein Netz aus Tunneln, ein Irrgarten der Phantasie, aber sie kannte ihn genau, war in schon seit Jahren tagtäglich gegangen, so oft, dass sie sich hier mittlerweile fast mehr zu Hause fühlte als in der realen Welt, manchmal schien es ihr, als wäre sie schon selbst Teil der Traumwelt geworden.
Sie durchschritt das große Tor, und vor ihr lagen die grünen Wiesen der freien Zone, dem bisher einzigen Teil der Traumwelt, der für Kommunikation und Datenaustausch nutzbar war.
Ein Gedankenstrom drang in ihren Geist, eine Nachricht eines jungen Forschers aus Südamerika, der sie um Hilfe bei der Benutzung der Gärten der Erinnerung bat.
Sie konnte seine Nervosität in der Nachricht spüren, die Angst, eine der erfahrensten Träumerinnen mit Unwichtigkeiten zu belästigen. Sie war froh, dass man im Traumreich nicht lügen konnte, seine Gefühle nicht verbergen, so dass es hier in kurzer Zeit möglich war, mehr über einen Menschen zu lernen, als innerhalb von Jahren in der realen Welt.
Sie streckte ihren Geist, ließ ihn kurz durch die Traumwelt gleiten, doch der junge Forscher war nicht anwesend, sie würde seine Frage wohl später beantworten müssen.
Es war nur ein kurzer Moment der Konzentration nötig, ein kleiner Blick in die eigenen Erinnerungen, dann breitete sie die Arme aus und hob sich in die Lüfte, leicht wie eine Feder im Wind.
Unter ihr erstreckte sich die freie Zone wie ein Stern in die Weiten des Traumlandes, an dessen Enden die fünf bislang vorhandenen Eingänge wie violette Juwelen zu funkeln schienen, und aus dessen Mitte der kleine See mit dem grünen Hügel in der Mitte wie ein Auge heraus stach.
Ein junger Greif flog an ihr vorbei, ein unerwünschter, wenn auch harmloser Eindringling aus dem anderen Teil der Traumwelt, dem großen, wilden Teil, in dem immer noch die sonderbarsten Kreaturen lebten, Erzeugnisse der menschlichen Phantasie im Laufe der Jahrtausende. Es würde noch dauern, die Zone endgültig gegen diese Kreaturen abzusichern, aber der Weg war nicht mehr weit.
Und dann würde die freie Zone wachsen, und bald würde jedem schlafenden Menschen der Zugang offen stehen, ohne die Notwendigkeit von Bewusstseinsdrogen oder hypnotischem Schlaf. Ab hier wäre es dann nur noch eine Frage der Zeit, bis diese neue Welt, diese fremde und doch altbekannte Dimension, die alte Welt revolutioniert haben würde, verändert bis zur Unkenntlichkeit.
Zu immens waren die Möglichkeiten, die das Traumland den anwesenden Menschen bot, zu gigantisch die Freiheiten, um eine derartige Entwicklung nicht hervorzurufen.
Unter sich sah sie eine Gruppe junger Menschen, allesamt nackt, die sich furchtbar zu schämen schienen. Sie grinste ein wenig. Mit diesen Schwierigkeiten würden die Anfänger bald zurechtkommen, sie hatte ihre Mentoren, die sie im Umgang mit derart harmlosen Alpträumen schulten.
Manchmal wünschte sie sich, auch sie hätte einen Lehrmeister in der realen Welt gehabt, jemanden, der ihr den Weg gezeigt hätte.
Doch sie hatte ihren Weg stets selbst finden müssen, hatte große Fehler gemacht, hatte anderen vertraut und war enttäuscht worden. Heute war sie selbst die einzige, der sie traute, war selbstständig geworden, hart und kalt.
Sie hatte hier noch niemandem ihre gesamten Erinnerungen gezeigt, nicht den Ingenieuren, von denen sie deren komplette technische Erinnerungen erhalten hatte, nicht den Informatikern mit ihren wilden Alpträumen von zwei Zahlen und endlosen Schleifen, auch nicht den Sprachforschern, die die eigentlichen schaffenden Köpfe in der Welt der Träume waren, und nicht einmal dem Sandmännchen, ihrem Gefährten und Mentor.
In der Entfernung konnte sie den kleinen See und in dessen Mitte den Hügel sehen, auf dessen Spitze der gelbe Baum wuchs, unter dem sie schon die blaue Mütze ihres Gefährten herausleuchten sah.
Sie ließ sich hinunter sinken und landete auf dem weichen Gras am Fuß des Hügels. Als sie hinaufstieg, saß das Sandmännchen da wie immer, den Blick in die Landschaft gerichtet, doch heute zeugte sein Gesicht von Nachdenklichkeit, fast schon von Trauer, ein Blick, den sie so bei ihm noch nie gesehen hatte.
„Hallo mein Freund. Wie geht es dir?“ Das Sandmännchen sah sie kurz an, dann blickte es wieder aufs Traumland hinaus.
„Siehst du die Menschen? So viele waren es noch nie. Es sind heute sogar welche aus dem fernen Osten dabei, Politiker. Sie tauschen Erfahrungen mit Kollegen aus Europa aus, so direkt wie sie es sonst nirgends tun könnten, und keiner von ihnen kann dabei lügen.“
Seine Stimme war ohne Farbe, es schien ihr, als würde ihm an all dem um ihn herum plötzlich gar nichts mehr liegen, fast schon, als würde es ihn bedrücken, und dennoch wusste sie, dass er es gewesen war, der all das hier geschaffen hatte, der die ersten Menschen hierher geführt und sie unterrichtet hatte.
„Ja, ich sehe sie. Das ist doch wunderbar, ein Traum wird Realität. Der Traum von einer besseren Welt, unser Traum.“ Sie strahlte.
Er sah sie kurz an, schweigend. Erst jetzt fielen ihr die dunklen Ringe unter seinen Augen auf, die tiefen Furchen im Gesicht. So hatte sie ihn wirklich noch nie gesehen, es schien fast, als würde das Sandmännchen alt werden, aber war das denn möglich?
Er deutete mit seiner Hand aufs Land hinaus und fuhr fort:
„Und siehst du die Gärten dort drüben?“ Sie sah hinüber, wo sich einige bunte Gärtchen befanden, die sich bis in weite Ferne, zur Mauer der freien Zone, zu erstrecken schienen. Die Blumen trugen wunderliche Blüten, von denen keine einer anderen glich, und die jede für sich einen Teil einer menschlichen Erinnerung darstellten, und an denen man bloß zu riechen brauchte, um die Erinnerungen in sich aufzunehmen.
„Ja, ich kenne sie doch. Das sind die Gärten der Erinnerung, in die die Menschen momentan ihr Wissen pflanzen. Bald wird dort nahezu das gesamte Wissen der Menschheit in voller Blüte vorhanden sein, und jeder wird davon nehmen können. Ich weiß das, ich habe dir doch geholfen, sie anzulegen.“ Ein schweigender Blick, kalt und leer.
„Und weißt du auch, was hinter den Mauern unserer freien Zone liegt?“
„Natürlich, ich war doch einmal mit dir dort draußen, bei den freien, wilden Träumen, und den Träumen der Vergangenheit. Erinnerst du dich denn nicht, wie wir auf diesen Traum von Goethe gestoßen sind? Und wie mich der Alptraumdämon verschlingen wollte, und ich aufgewacht bin?“ Was war nur los mit ihm?
„Ja doch, ich erinnere mich. Und ich bin froh, dass du das alles noch weißt. Aber weißt du auch, warum du der einzige Mensch bist, der diesen Hügel besteigen und sich neben mich setzen kann?“
Seine blauen Augen sahen sie an, traurig, schmerzerfüllt. Sie kannte die Antwort nicht.
„Ich hatte gehofft, ich würde dir das nie sagen müssen, aber meine Zeit ist gekommen, und das Traumland braucht noch immer einen Wächter.
Du bist der einzige Mensch, der mir gleichgestellt ist an Fähigkeiten, der meinen Posten einnehmen kann. Es tut mir leid, ich hätte mir gewünscht, es würde nie so weit kommen.
Aber ich kann meine Schuld an der Menschheit nicht mehr zurückzahlen, bald werde ich mich auf eine Reise begeben, eine Reise in das Reich hinter dem Land der Träume.
Es erfüllt mich mit Schmerz, doch heute ist der Tag gekommen, an dem ich dir meine Erinnerung übertragen, und die Wahrheit sagen muss. Auch ich bin nur ein Mensch.“
Sie starrte ihn an, unfähig zu reagieren. Ihr Lehrmeister, ihr Vorbild, war ein Mensch, und schlimmer noch, er wollte sie verlassen?
Das Sandmännchen beugte sich kurz zu ihr vor, berührte dann ihre Schläfen.
„Ich weiß, du wirst mich nun hassen. Aber glaub mir eines, das tue ich selbst schon sehr lange, sehr lange, zu lange.“
Sie spürte, wie die Erinnerungen des Sandmanns in ihr Gehirn drangen, zuerst Bilder von langen Jahren in der Traumwelt, vom Aufbau der Zone, vom Austausch mit den Menschen.
Dann Bilder aus der Zeit davor, verstörende Bilder, dunkle Erinnerungen, voll von Zorn und blindem Hass. Es waren schreckliche Eindrücke darunter, ein Bild von einer Frau und einem Kind, blutüberströmt, dann eine Schlinge in einem Seil, ein Hocker, Baumeln in der Luft, Ersticken, blaue Lichter, dann nichts mehr.
Sie öffnete die Augen wieder, über ihr kniete das Sandmännchen.
„Es tut mir so leid. Ich wollte meine Schuld wieder gutmachen, aber ich habe es nicht geschafft. Ich hoffe, wenigstens du wirst mir eines Tages verzeihen können.“
Es hob eine Hand, und streute ein wenig Sand in ihre Augen. Sofort begann ihr Geist, sich aus der Traumwelt zurückzuziehen, zurück in die Realität.
Wenige Tage später fand eine Beerdigung statt. Bis auf den Pfarrer waren keine Gäste anwesend, und auch dieser wirkte bedrückt, man konnte sehen, dass auch er lieber an einem anderen Ort gewesen wäre. Man legte den Mann in das gleiche Grab wie seine Frau und seine Tochter, die er selbst vor mehr als zwanzig Jahren getötet hatte.
Der Pfarrer seufzte. Vielleicht wäre es für den Mann besser gewesen, er wäre danach gleich gestorben. Aber wer wusste das schon.
Sein Platz im städtischen Krankenhaus war zu diesem Zeitpunkt schon wieder belegt, eine junge Frau war nach einer Überdosis ins Koma gefallen. Ihre erhöhte Gehirnaktivität war den Ärzten ein Rätsel, genau wie bei dem Patienten vor ihr.
Wie hatte er noch geheißen? Ach ja! Peter Sandmann. Armer Kerl.