Was ist neu

Solo für zwei

Mitglied
Beitritt
16.08.2001
Beiträge
34

Solo für zwei

Sie schien zu sprechen, obwohl sie alleine war. Offensichtlich telefonierte sie gerade. So sah es jedenfalls für ihn aus der Perspektive seines Rückspiegels aus.

Die rote Ampel immer im Blickfeld konzentrierte sie sich trotzdem auf das Gespräch. Oder redete sie gar nicht? Während sich ihr Mund zweifelsohne bewegte, wiegte sie sich im Rhythmus eines stummen Tons, einer niemals gesungenen Melodie, nickte mit dem Kopf im Takt eines unsichtbaren Dirigenten. Und als sich plötzlich ein schwärmerischer Ausdruck auf ihrem Gesicht breit machte, war es klar: sie sang!

Das Lied schien Gefühle in ihr zu wecken, die auszubrechen suchten, sich durch ihre Mimik schlugen. Der Blick war dabei völlig verwässert, schien in das Dahinter dieses Moments gerichtet zu sein, so als wäre dieser Augenblick nur ein zarter Gazevorhang, den man nicht einmal beiseite schieben musste, um den wahren Hintergrund zu erkennen. Er fragte sich, ob sie die Welt im Hier und Jetzt wahrnahm, ob sie bemerkte, wie sich ihr leere Gesichter zuwandten, wie sich die Blicke der Autofahrer um sie herum an ihr festkrallten, alle dieselbe Frage in die Pupille geschrieben.

Jetzt war sie nicht mehr zu halten. Das Crescendo tonloser Musik fuhr in ihre Hand und ließ sie dazu tanzen. Gleichwohl um ihren stummen Vortrag zu unterstreichen sprachen ihre Bewegungen den Text, den ihr Mund ihm verschwieg. Wie traurig musste das Lied sein, dass sich ihre Fäuste zu einem einzigen harten Knoten ballten. Die blutleeren Flecken ihrer Knöchel konnte er sogar noch in seinem Rückspiegel sehen. Trotzdem bemächtigte sich ein Leuchten ihres Gesichts, so als käme es ganz tief aus ihrem Inneren und strahlte bis zu ihm herein in seinen Durchschnittswagen.

Als hätte jemand in ihm den Auslöser gedrückt, schaltete er hastig sein Autoradio ein. Auch er wollte unter die Oberfläche tauchen, sich der Flut übergeben, suchte nur nach der passenden Trägerwelle. Seine Finger trommelten auf den Senderwahlschalter ein, als gäbe es kein Morgen, griffen gierig nach den Tönen, hätten alles in der Welt darum gegeben, dem Radio jene Melodie herausreißen zu können. Ungeduldig raste er von einem Sender zum nächsten, hielt nur Bruchteile einer Sekunde inne, gerade so lange, um zu lauschen, während sich in ihm alles anspannte. Er fühlte sich wie eine Bogensehne vor dem Abschuss, war aber auch zugleich der Pfeil auf der Suche nach dem Ton, der die Musik macht.

Aus den Lautsprechern rauschte ihm nur eine unidentifizierbare Geräuschwolke entgegen. Das Brummen, Quietschen, Aufwallen und Ersticken menschlicher Stimmen vermischte sich zu einem zähen Brei, der ihm in die Ohren waberte. Er gab sich nicht geschlagen, vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben nicht, und forcierte das Stakkato seines suchenden Fingers auf den Sendewahlschalter.

Da war ein Ton! Laut, durchdringend, schrill, doch es klang nicht, als käme er aus dem Radio. Noch ein Ton, dann noch einer, ein richtiges Konzert! Erschrocken hob er den Kopf und tauchte nach Luft schnappend auf, mitten in einer Symphonie aus Autohupen.

Die leeren Gesichter um ihn herum hatten plötzlich Farbe bekommen, dieselbe sogar, wie die Ampel, bevor sie vor einer halben Ewigkeit auf Grün gesprungen war. Als er sich zur Seite drehte, ergriff ihn in der Flüchtigkeit eines Flügelschlags ihr Blick. Sie fuhr an ihm vorbei und lächelte. Und es schien, als würde er diese Wärme bis hierher in seinen Wagen spüren.

 

Hallo Andrea,

deine Geschichte ist kaum mehr als eine Momentaufnahme, doch als solche ist sie dir gut gelungen.
Sie wirkt wie eine Photografie und man sieht die Charaktere regelrecht vor sich und irgendwie erinnert mich die Geschichte an bestimmte Momente im Leben, wenn man einem fremden Menschen zulächelt, gleich eine bestimmte Sympathie empfindet - doch der Moment geht vorrüber und die Chance ist vertan.

Fand ich wirklich sehr gelungen.

Unsaubere Formulierungen habe ich nicht gefunden.

LG
Bella

 

Wunderschön gemalt!
Es ist irgendwie wie die Szene aus einem dieser "neues deutsches Kino" Filmen.

Aber ich kann das Radio auch einschalten und die Melodie fühlen...
Ich finde....

...rundum gelungen!

 

Hi Andrea,

als kurzen Ausschnitt aus dem Alltag halte auch ich deine Geschichte für gelungen.


Oder redete sie gar nicht? Während sich ihr Mund zweifelsohne bewegte, wiegte sie sich im Rhythmus eines stummen Tons, einer niemals gesungenen Melodie, nickte mit dem Kopf im Takt eines unsichtbaren Dirigenten. Und als sich plötzlich ein schwärmerischer Ausdruck auf ihrem Gesicht breit machte, war es klar: sie sang!
Dass sie singt, ist bereits viel früher klar, nämlich schon bereits zu Anfang der Beschreibungen.


Die blutleeren Flecken ihrer Knöchel konnte er sogar noch in seinem Rückspiegel sehen.
Halte ich für unwahrscheinlich.


Seine Finger trommelten auf den Senderwahlschalter ein, als gäbe es kein Morgen, griffen gierig nach den Tönen, hätten alles in der Welt darum gegeben, dem Radio jene Melodie herausreißen zu können.
Sehr schön geschrieben, der Satz.


vermischte sich zu einem zähen Brei, der ihm in die Ohren waberte.
"Waberte" halte ich für einen unglücklichen Ausruck - wie wär's mit "rauschte"? Das Gleiche gilt übrigens für "Brei".


Laut, durchdringend, schrill,
Schrill? :susp: Eine Sirene ist schrill, eine Hupe doch eher selten.


Erschrocken hob er den Kopf und tauchte nach Luft schnappend auf, mitten in einer Symphonie aus Autohupen.
Von der Formulierung her auch nicht das Gelbe vom Ei. Ich hätte besonders das Wort Symphonie vermieden, schon allein, um der von ihm phantasierten wunderbaren Melodie eine krassere Trennung zu erhalten. Autohupen sind doch eher dissonant.


plötzlich Farbe bekommen, dieselbe sogar, wie die Ampel,
Der Übergang gefällt mir nicht. Wie wäre es: Hatten das Rot der Ampel übernommen, o.ä.?


vor einer halben Ewigkeit
Der Ausdruck ist wohl etwas übertrieben, so lange kann er ja nicht nach der Frequenz gesucht haben.


Sie fuhr an ihm vorbei und lächelte.
Wie schön, dass sie nicht ebenfalls wütend geworden ist. Aber wenn sie doch hinter ihm steht, warum fährt sie dann an ihm vorbei? Dazu müsste sie seitlich hinter ihm sein, und dann würde er sie wohl aus dem Seitenspiegel betrachten.

Soviel zum Detail. Im großen und ganzen war das eine nette Geschichte für zwischendurch, ohne große Höhen und Tiefen, aber mit einer dennoch unterhaltenden Handlung.

lieben Gruß,
Anea

 

Hallo Ihr Lieben!

Euch allen erst einmal ein herzliches Dankeschön für Euer Feedback!

@Anea:

wenn man davon ausgeht, dass Leute eine Freisprechanlage im Auto haben und dann auch Mundbewegungen machen, obwohl niemand neben ihnen sitzt, ist es schon nicht mehr so genau zu definieren, ob jemand singt oder telefoniert.

Deine Vorschläge zu den eher nicht so geglückten Ausdrücken lasse ich mir noch mal durch den Kopf gehen. Da könnte man noch dran arbeiten - da hast Du recht. "vor einer halben Ewigkeit" ist wirklich übertrieben. :-) Mal sehen, was sich noch so in meinem Fundus findet. :-)

Zu Deiner Frage, warum sie an ihm vorbeifahren kann, wenn sie hinter ihm steht:
ganz einfach, sie wirft den Blinker rein (weil sie merkt, dass er nicht weiterfährt, obwohl schon lange grün ist), überholt ihn auf dem zweiten Streifen und fährt ergo dessen an ihm vorbei. Ehrlich gesagt wollte ich das aber im Text nicht so genau erklären, weil ich davon ausgeganen bin, dass mehrspurige Straßen durchaus vorstellbar sind. Und ich mag's einfach nicht, wenn ich dem Leser jeden Handgriff im Detail erklären muss. Ein bißchen was sollte schon auch für die eigene Vorstellung übrig bleiben. :-)

Höhen und Tiefen sollte diese Geschichte gar nicht haben. Es sollte eher der Hinweis auf die kleinen, feinen Momente im Leben sein, ein ganz genau Hinschauen auf die Feinheiten.

Danke noch mal für Dein Feedback!
Liebe Grüße
Andrea

 

Hmmm... sobald der Prot bezweifelt, dass sie redet, ist für mich als Leser schon klar, dass sie singt.
Interessant, dass der Beobachtetende nachher vertiefter ist als die Beobachtete.
Insofern ist es natürlich schon klar, dass sie an ihm vorbeifahren kann, aber ich hatte aufgrund verschiedener Textstellen den Eindruck, die Straße sei voller Autos, da gestaltet sich das Spurwechseln oft schwierig. :D

 

Bei so viel Schlagfertigkeit macht Dein Feedback erst so richtig Spaß! :-)))) Hast eh recht... :-)

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom