Solo für zwei
Sie schien zu sprechen, obwohl sie alleine war. Offensichtlich telefonierte sie gerade. So sah es jedenfalls für ihn aus der Perspektive seines Rückspiegels aus.
Die rote Ampel immer im Blickfeld konzentrierte sie sich trotzdem auf das Gespräch. Oder redete sie gar nicht? Während sich ihr Mund zweifelsohne bewegte, wiegte sie sich im Rhythmus eines stummen Tons, einer niemals gesungenen Melodie, nickte mit dem Kopf im Takt eines unsichtbaren Dirigenten. Und als sich plötzlich ein schwärmerischer Ausdruck auf ihrem Gesicht breit machte, war es klar: sie sang!
Das Lied schien Gefühle in ihr zu wecken, die auszubrechen suchten, sich durch ihre Mimik schlugen. Der Blick war dabei völlig verwässert, schien in das Dahinter dieses Moments gerichtet zu sein, so als wäre dieser Augenblick nur ein zarter Gazevorhang, den man nicht einmal beiseite schieben musste, um den wahren Hintergrund zu erkennen. Er fragte sich, ob sie die Welt im Hier und Jetzt wahrnahm, ob sie bemerkte, wie sich ihr leere Gesichter zuwandten, wie sich die Blicke der Autofahrer um sie herum an ihr festkrallten, alle dieselbe Frage in die Pupille geschrieben.
Jetzt war sie nicht mehr zu halten. Das Crescendo tonloser Musik fuhr in ihre Hand und ließ sie dazu tanzen. Gleichwohl um ihren stummen Vortrag zu unterstreichen sprachen ihre Bewegungen den Text, den ihr Mund ihm verschwieg. Wie traurig musste das Lied sein, dass sich ihre Fäuste zu einem einzigen harten Knoten ballten. Die blutleeren Flecken ihrer Knöchel konnte er sogar noch in seinem Rückspiegel sehen. Trotzdem bemächtigte sich ein Leuchten ihres Gesichts, so als käme es ganz tief aus ihrem Inneren und strahlte bis zu ihm herein in seinen Durchschnittswagen.
Als hätte jemand in ihm den Auslöser gedrückt, schaltete er hastig sein Autoradio ein. Auch er wollte unter die Oberfläche tauchen, sich der Flut übergeben, suchte nur nach der passenden Trägerwelle. Seine Finger trommelten auf den Senderwahlschalter ein, als gäbe es kein Morgen, griffen gierig nach den Tönen, hätten alles in der Welt darum gegeben, dem Radio jene Melodie herausreißen zu können. Ungeduldig raste er von einem Sender zum nächsten, hielt nur Bruchteile einer Sekunde inne, gerade so lange, um zu lauschen, während sich in ihm alles anspannte. Er fühlte sich wie eine Bogensehne vor dem Abschuss, war aber auch zugleich der Pfeil auf der Suche nach dem Ton, der die Musik macht.
Aus den Lautsprechern rauschte ihm nur eine unidentifizierbare Geräuschwolke entgegen. Das Brummen, Quietschen, Aufwallen und Ersticken menschlicher Stimmen vermischte sich zu einem zähen Brei, der ihm in die Ohren waberte. Er gab sich nicht geschlagen, vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben nicht, und forcierte das Stakkato seines suchenden Fingers auf den Sendewahlschalter.
Da war ein Ton! Laut, durchdringend, schrill, doch es klang nicht, als käme er aus dem Radio. Noch ein Ton, dann noch einer, ein richtiges Konzert! Erschrocken hob er den Kopf und tauchte nach Luft schnappend auf, mitten in einer Symphonie aus Autohupen.
Die leeren Gesichter um ihn herum hatten plötzlich Farbe bekommen, dieselbe sogar, wie die Ampel, bevor sie vor einer halben Ewigkeit auf Grün gesprungen war. Als er sich zur Seite drehte, ergriff ihn in der Flüchtigkeit eines Flügelschlags ihr Blick. Sie fuhr an ihm vorbei und lächelte. Und es schien, als würde er diese Wärme bis hierher in seinen Wagen spüren.