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Sonne und Untergang
Mit Jenny schlafen, das wollte Rocco schon lange. Dass sie eine Tochter hat, stört ihn wenig. Leila ist ein braves Mädchen, weiß noch nichts von den schlechten Dingen. Zum Abschied hat sie ihm ein Bild gemalt. Rocco fürchtet, drei lachende Gesichter zu sehen, den neuen Papi vielleicht. Aber es ist eine harmlose Kinderzeichung, nichts weiter. Er bedankt sich und stopft sie in seine Hosentasche, zwischen Feuerzeug und Fahrzeugschlüssel.
“Du kommst spät”, sagt Tina.
“Und wenn ich zu früh komme, passt es dir auch nicht.”
Tina lächelt, aber nur mit dem Gesicht. “Nein, ernsthaft. Wo bist du gewesen?”
Hab deine Freundin gefickt. “War viel zu tun, in der Arbeit.”
Rocco zieht sich die Jacke aus und wirft sie Tina zu, sie soll ihm etwas Anständiges zu Essen machen, er sei erschöpft. Als er an ihr vorbei will, versperrt sie ihm den Weg. “Krieg ich denn keinen Kuss?” Sie spitzt ihre Lippen und schließt die Augen, aber Rocco stößt sie beiseite und geht.
Das Essen schmeckt nicht. Trotzdem verlangt Rocco nach einer zweiten Portion. Tina lauscht seinem Schmatzen, erzählt dann von ihrer neuen Handtasche, erst eifrig, dann leiser werdend. Es scheint ihn nicht zu interessieren. Sie seufzt, er rülpst.
“Ich werde jetzt duschen”, sagt sie.
“Du wirst vor allem hier sitzen bleiben”, sagt Rocco.
Tina bleibt sitzen, starrt auf den leeren Teller und wischt Tränenkrümel aus dem Porzellangesicht.
“Liebst du mich eigentlich noch?”
“Wir haben uns doch erst gestern geliebt.”
Sie nickt. Die Sonne geht unter, noch einmal.
Zwei Tage später. Tina nervt. Sie steht da, mit einer Frage in der Hand.
“Was ist das für ein Bild?”
“Bild?” Sie hält ihm ein Stück Papier ins Gesicht, zu nah. Rocco greift danach und betrachtet es. Das erste, was er sieht, ist ein Smiley - nein, eine Sonne. Eine lachende Sonne. “Ich habe keine Ahnung …” Da fällt es ihm wieder ein. Kein Kuss von Jenny, nicht ihr Duft - eine hässliche Sonne muss alles verraten.
“Schnüffelst du jetzt schon in meinen Sachen rum? Wie arm muss man sein Tina, wie arm?”
“Was soll denn das jetzt? Ich will deine Jeans waschen, noch schnell nachschauen, ob du wieder ein Taschentuch vergessen hast, da finde ich dieses Bild.” Rocco mustert ihr Gesicht. Dumm sieht sie aus, und falsch. Was sie hier sucht, fragt er sich.
“Was willst du?”
“Naja. Wissen woher du das Bild hast.”
“Von einem Mädchen.” Tina denkt kurz darüber nach und grinst. Die Vorstellung ist zu absurd.
“Leila hat mir diese Scheißsonne gemalt”, sagt Rocco.
“Leila?”
“Ja. Leila. Sie hat sich gefreut, dass ich mich mit ihrer Mutter so gut verstehe.”
“Mit Jenny?”
“Ja. Mit Jenny.”
Tinas Lächeln tanzt traurig, stolpert und verschwindet. Ihre Augen werden feucht und bevor sie die erste Träne verliert, weiß Rocco nicht mehr, ob ihre Lippen zittern oder irgendetwas sagen. Ist ihm auch einerlei. Eine Hauptdarstellerin ist sie und doch bedeutungslos in seinem Leben. Sie geht ab. Er fasst sich in den Schritt, schließt die Augen. Statt Schwarz Jenny. Tina ist auch da. Die Idee gefällt ihm. Rocco folgt ihr ins Schlafzimmer …
Am nächsten Morgen wacht er auf, allein. Tina ist weg, hat ihm aber Frühstück gemacht. An der Cornflakespackung eine Notiz: Tut mir leid. Ich liebe dich. Rocco lacht und zerknüllt, was sie geschrieben.
Er geht ins Wohnzimmer. Etwas ist anders. Der süßliche Geruch von Tinas Tränen hängt noch in der Luft. Bier und Fürze ändern das. Er macht sich eine Packung Nüsse auf, schaltet den Fernseher an. Jemand ist gestorben. Eine Nuss verfehlt seinen Mund, landet auf dem Boden. Als er sich bückt, findet er statt der Nuss Leilas Zeichnung, blickt der Sonne mitten ins Gesicht. Erst will er es nicht aufheben, doch etwas geht von diesem Bild aus. Eine Kraft, anziehend und abstoßend zugleich. Eine Sonne, denkt er. Woher kenne ich dich?
Es klingelt. Rocco rührt sich nicht. Erst beim zweiten Mal öffnet er die Tür.
“Michael Jackson ist gestorben”, sagt Marvin.
“Der ist doch schon seit Ewigkeiten tot”, antwortet Rocco. “Was willst du?”
“Wollte mal sehen, was mein kleiner Bruder so macht. Soll ich wieder gehen?”
“Ja.” Marvin verzieht sein Gesicht. Dann drückt er sich vorbei an Rocco in die Wohnung.
“Wo ist Tina?”
“Kein Ahnung.”
“Alles klar bei euch?”
“Ja.”
“Und sonst?”
“Ich glaube, ich brauche eine Brille. Ich erkenne so wenig in letzter Zeit.”
Sie schweigen. Ihre Blicke wandern durch den Raum, stets bemüht, sich nicht zu treffen.
“Du hast es dir …“ Marvins Stimme verliert an Tiefe. “Zurückgeholt?”
“Was?”, will Rocco wissen.
“Na das!”, sagt sein Bruder und deutet auf das Bild.
Rocco schüttelt den Kopf. “Warum zurückgeholt? Das hat mir ein Mädchen geschenkt.”
“Deine Liebschaften werden aber auch immer jünger”, scherzt Marvin.
“Idiot!”
“Hey, das war doch nur Spaß. Kannst du dich nicht mehr erinnern?”
“Woran?” Rocco leert die Flasche.
“An das Bild. Du hast es gemalt.”
“Na klar! Und du bist Michael Jacksons Tochter.” Rocco steht auf. “Du säufst eindeutig zu viel. Kein Wunder, dass bei der Flüssigkeit im Hirn die Phantasie blüht.” Er geht in die Küche, holt sich ein neues Bier. Marvin folgt ihm. “Ich sage die Wahrheit.”
“Tatsächlich?”
“Ich kann es gerade echt nicht glauben, dass du es vergessen hast. Vater hat dich halb tot geschlagen deswegen.” Marvin nähert sich seinem Bruder.
“Eine Narbe hast du auch.” Er tastet nach einer Stelle über Roccos Ohr.
“Die ist von einem Skiunfall.”
“Das hat er dem Arzt erzählt.”, sagt Marvin.
Rocco wendet sich ab von seinem Bruder, blickt aus dem Fenster. Ein Junge wirft Pizzaschachteln in die Mülltonne.
“Warum hätte mich Vater schlagen sollen? Was hätte er für einen Grund gehabt?”
“Das Bild, Rocco. Das Bild.”
“Als wäre es ein Verbrechen, eine lachende Sonne zu malen.”
“Das ist es nicht.“ Marvin schluckt. “Aber du hast es an dem Tag gemalt, als Mutter starb.”
Vor ein paar Stunden noch war die Welt in Ordnung. Sein Bruder Justin stand vor dem Spiegel Moonwalk üben, Marvin spielte mit seinem Polizeihubschrauber, Vater las in der Zeitung, schimpfte hin und wieder mit einem unsichtbaren Gegenüber. Mutter lehnte aus dem Fenster und stieß Rauch in die Kälte. Immer wenn sie in der Küche fertig war, steckte sie sich eine Zigarette an. Ein Luftstoß wirbelte ihr durchs Haar. Dann hörte etwas auf in ihr und sie fiel, beinahe auf Rocco, der vor dem Ofen hockte und das Essen in der Hitze beobachtete. Sie lag dort und bewegte sich nicht und Rocco dachte, sie sei gestürzt. Alle dachten das, hofften es. Er beugte sich über sie, aber was er sah, war nicht seine Mutter. Es waren nicht ihre Augen. Nicht mehr. Nichts mehr.
Eigentlich wollte er nicht auf die Beerdigung. Sein Kopf schmerzte und überhaupt waren die Geschehnisse der letzten Tage zu groß für einen kleinen Jungen wie Rocco. Dass sie nicht wieder kommen würde, hatte er begriffen. Sie hatte erst vor kurzem mit ihm darüber gesprochen. Fast so, als hätte sie etwas geahnt. Wie es ihr da oben geht, wollte er wissen. Anrufen soll sie, wenigstens einen Brief schreiben. Vater aber weinte nur und entschuldigte sich. Er entschuldigte sich oft. Wofür, wusste Rocco nicht.
Zwischen all den Grabsteinen und toten Bäumen wurde Vater dann wieder jener starke Mann, der er vor Mutters Tod gewesen war. Er umarmte seine Söhne, presste sie an sich. Im Anblick des Sarges jedoch zuckte Rocco zusammen, entschlüpfte der Umarmung, die kalt war, wie alles um ihn. Seine Sehnsucht nach Wärme wurde von herabfallenden Schneeflocken erstickt.
Trotzdem musste er sie noch einmal sehen, ein letztes Mal fühlen, berühren vielleicht. Rocco stolperte dem Sarg entgegen, öffnete ihn. Darin lag eine Frau, feierlich gekleidet, ein wenig überschminkt. Aber es war nicht seine Mutter. Es war …
Tina. Sie ist nicht erfreut, als sie nach Hause kommt und Rocco sieht, vertieft in diese Zeichnung. Streiten will sie nicht, also verkneift sie sich einen Kommentar und umarmt Rocco. Kalt ist er. Aber sie bekommt einen Kuss, einen echten. Glücklich pfeifend verschwindet sie im Bad.
Abends gucken sie einen Film. Viele Explosionen, wenig Dialog. Um was es geht, weiß Rocco nicht. Dass Tina unter ihrem Trainingsanzug Dessous trägt ebenso wenig. Die DVD hat wohl einen Kratzer, das Ende fehlt. Rocco starrt weiter Richtung Fernseher, irgendwie hoffend, dass es weiter geht. “Happy End gefällig?”, fragt Tina und lächelt herausfordernd. Sie schwingt sich auf ihn, überfällt ihn mit Küssen, aber was aus ihrem Mund züngelt, ist für Rocco nur ein Lebewesen aus Eis. Einige Kleidungsstücke später sitzt sie auf ihm, schaukelt ihrem Höhepunkt entgegen, stöhnt ihm ins Ohr, etwas zu laut. Er erfriert.
Ein leeres Blatt vor Rocco, der Buntstift liegt fremd in seiner Hand. Mit einem Kreis will er beginnen.