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Sonnenstrahlen im November
Der Himmel war an diesem Morgen mit dicken grauen Regenwolken verhangen. Noch regnete es nicht.
Pietro sah missmutig aus dem Fenster und kaute verschlafen auf seinen Cornflakes herum. Er war sich sicher. Dieser Tag würde genau wie schon zu viele zuvor spurlos an ihm vorüberziehen.
Er sah auf die Küchenuhr. Mist, schon zwanzig nach sieben. Er ließ die halbvolle Schale mit den Cornflakes auf dem kleinen Esstisch stehen, nahm seine Tasche und seinen Mantel und verließ das Haus.
Es wehte ein leichter, aber nasskalter Wind. so ein Wind, der einem mit seiner Kälte unter die Klamotten kriecht, egal wie dick man angezogen ist. Aber das störte Pietro inzwischen auch nicht mehr. Er vergrub seine Hände in den Manteltaschen und stellte sich auf die Bordsteinkante der Bushaltestelle. Hier wartete er immer. Auf der Bank im Wartehäuschen säße er zwar bequemer und halbwegs windstill, aber von seinem Standort aus konnte er den Bus schon ein paar Sekunden früher sehen.
Er schaute nach oben. Wenn er Langeweile hatte, schaute er oft in die Wolken und suchte nach versteckten Skulpturen und Gesichtern. Heute jedoch war nichts zu erkennen. Wahrscheinlich war die Wolkendecke einfach zu dick und undurchdringlich.
Aah, da war ja die 17. Endlich.
Pietro stieg durch die hintere Tür in den überfüllten Bus ein und stand dicht an die griesgrämigen Fahrgäste mit ihren Handtaschen, Aktenkoffern und Rucksäcken gedrängt. An der nächsten Haltestelle stiegen noch mehr blasse Gesichter mit grauen und braunen Regenmänteln ein. Der Bus fuhr weiter. Inzwischen hatte es auch angefangen zu regnen.
Pietro sah wieder aus dem Fenster. In der dichten Bewölkung war ein kleines Loch aufgerissen. Die Sonnenstrahlen, die durch die Lücke gebrochen waren, leuchteten in der diesigen Luft wie ein Scheinwerfer im Nebel.
Er wendete den Blick wieder zur Tür, die sich auch an der folgenden Haltestelle mit einem Zischen öffnete. Mehr dunkle Regenmäntel stiegen ein. Aber nicht nur.
Eine knallgelbe Windjacke, die zu einem Hinterkopf gehörte, der Pietros ganze Aufmerksamkeit auf sich zog, drückte sich gegen seinen Arm. Gegen den Arm, mit dem er sich krampfhaft an einer der klebrigen Haltestangen festhielt.
Normalerweise war ihm jeder Körperkontakt mit diesen unbekannten, ständig drängelnden Leuten zuwider, aber dieser Rücken fühlte sich anders an. Es war kein gehetztes Drängeln, sondern vielmehr ein sanftes Anlehnen.
Pietro betrachtete den kunstvoll geflochtenen Zopf, der die rotbraun glänzenden Haare zusammenhielt. Für einen Moment vergaß er den Regen, die Kälte und die griesgrämigen Gesichter.
Warum hatte er sie zuvor noch nie bemerkt?
Der Bus fuhr mit einem Ruck an. Pietro konnte sein Gleichgewicht gerade noch halten. Das Mädchen mit der gelben Jacke hatte jedoch noch keinen Halt gefunden und kippte rückwärts geradewegs in Pietros Arme.
„Oh, Tschuldigung...“, sagte sie mit einem verlegenen Lächeln.
„Och, macht doch nichts...“, entgegnete Pietro großmütig und lächelte auch ein bisschen.
Der Bus hielt vor dem alten Hauptgebäude des Bahnhofs
„Ich muss jetzt aussteigen“, sagte sie als die Türen schon offen waren.
„Vielleicht sieht man sich ja nochmal“, antwortete Pietro mit ungewohnt fröhlichem Ausdruck.
Der Bus schloss seine Türe und setzte die Fahrt durch den nassgrauen Morgen fort.