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Spätes Schreiben
Spät setzte er sich noch einmal hin und sammelte seine Gedanken so weit, dass er in der Lage seien würde, etwas zu schreiben. Er schrieb schon eine ganze Weile lang, meistens abends, nicht täglich, doch zumindest einmal in der Woche, oftmals häufiger. Mit der Zeit war es für ihn zu einer Art des Ausdrucks, der seelischen Erleichterung geworden. Natürlich war es, wie jeder kreative Prozess, mit einer gewissen Anstrengung verbunden und eigentlich fühlte er sich so spät nicht mehr dazu in der Lage. Wahrscheinlich würde es nichts werden, er würde keine anständige Handlung oder gar Geschichte zusammen bekommen und das Schriftstück später vernichten. Dennoch machte er sich nun ans Schreiben, er spürte in sich noch das Bedürfnis, nach erwähnter Erleichterung und für eine Schreibübung war dies allemal gut. Die leicht melancholische Musik, die er zuvor gehört hatte, stellte er nicht ab, er war es gewöhnt, mit musikalischer Untermalung zu schreiben.
Überrascht stellte er bald fest, dass ihm seine Tätigkeit recht gut von der Hand ging, dass er ziemlich schnell schrieb. Dies mochte allerdings auch darin seine Begründung finden, dass er nicht wie sonst mit aller Liebe zum stilistischen Detail eine Geschichte verfasste, sondern mit einer Beschreibung seines Handelns begann, wahrscheinlich, dachte er bei sich, würde ihm beim ersten erneuten Lesen die Minderwertigkeit des Geschriebenen ins Auge springen.
Solcherlei Überlegungen anstellend, lehnte er sich in seinem schweren Stuhl zurück, lauschte der Musik und nahm einen genüsslichen Schluck aus dem nebenstehenden Weinglas. Die rote Flüssigkeit sagte ihm geschmacklich über die Maßen zu und löste in gewohnter Weise seine Gedanken. Vielleicht sollte er beginnen, den Text stilistisch ein wenig besser auszugestalten, jetzt wo er genau hinsah, stellte er fest, dass er damit sogar schon begonnen hatte, erste Metaphern und Parabeln hatten sich eingefunden und die steril protokollartige Buchstabenwelt zu bevölkern begonnen. Er beugte sich vor und weitere Zeilen erschienen alsbald.
Dann sank er erneut zurück und blickte zum Fenster hinüber. In der Scheibe schimmerte matter das ohnehin matte Licht der weißstrahlenden Gaslaternen wieder, das einzige Licht das dazu in der Lage zu sein schien, mit der Dunkelheit in friedlicher Gemeinschaft zu existieren. Seinem Wesen nach musste es also ebenfalls schwarz sein. Irgendwie vermochte dies den Schreibenden zu beunruhigen, größeres Unbehagen bereitete ihm allerdings sein bisheriges Schaffenswerk.
Quo Vadis?
Bislang war kein Sinn darin zu erkennen, kein Ziel, kein bestimmter Stil. Ob er sich so etwas von der Seele schreiben konnte, seine bestimmten Sorgen auf so unbestimmte Art und Weise verbannen?
Wieder ließ er von dem rubinroten Rebensaft etwas seine Kehle hinabfließen, den Rest betrachtete er nachdenklich, wunderte sich, wie mannigfaltig sich das flackernde Kerzenlicht darin brach.
Plötzlich meinte er es nicht mehr auszuhalten und erhob sich. Unruhig begann er im Zimmer umherzustreifen, ging an den Wänden entlang, seine Fingerkuppen tasteten über ihre Oberfläche. Die andere Hand hielt immer noch das Glas, führte es gelegentlich zum Mund. Schneller wurden seine Schritte während er die Bilder und Abbildungen, die hier zahlreich hingen, begutachtete. Auch die Harmonien beschleunigten sich, ihn offensichtlich unterstützend.
Manchmal ging er doch wieder hinüber zu seinem Tisch, fügte einige Worte und Sätze hinzu, während sein Geist immer fiebriger zu arbeiten begann. Ganz augenscheinlich war es keine gute Idee, gewesen, sich seiner mentalen Last so erleichtern zu wollen, eine gewisse Wut auf sich selbst stieg in ihm hoch.
Das Schauspiel setzte sich einige Zeit so fort, die Kerzen brannten weiter herunter, die Weinflasche leerte sich und immer wieder durchwanderte er das Zimmer.
Das Schreiben indes war nun alles andere als flüssig geworden, nur selten fügte er noch etwas hinzu, seine Züge wurden zunehmend gramgezeichnet. Allein schon darüber ärgerte er sich, dass ihm partout nichts besseres einfallen wollte, als seine so unsinnigen, so beschämenden, unkreativen Handlungen zu beschreiben.
Sollte er diesen Text einfach vernichten, noch einmal neu beginnen? Versuchen, eine Geschichte zu schreiben?
Nein, es hatte keinen Sinn, gestand er sich ein und fuhr fort, sein Tun schriftlich festzuhalten. Der Morgen graute ohnehin schon, zu spät. Er setzte nicht mehr viel hinzu. Stattdessen setzte er sich und trank noch ein wenig Wein, lauschte der Musik.
Als die Sonne aufging und sich gerade über die nahen Hausdächer erhob, flog wie erwartet die Tür seines Zimmers auf. In diesem Augenblick entschied er sich doch noch, über sein bloßes Protokollieren hinauszugehen, noch einen Rat niederzuschreiben:
Werter Leser, auch wenn sie ein passionierter Autor seien sollten, erliegen sie nie der Versuchung, vor ihrer Hinrichtung den letzten Wunsch zu äußern, noch eine Nacht für das Schreiben einer Geschichte zu erhalten. Es wird ihnen nichts sinnvolles einfallen.
Dann ergriffen sie ihn unbarmherzig, rissen ihn weg von seinem Schreibtis…