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Spätnebel
Klaus Finke hatte fünfzig Jahre als Bäcker gearbeitet. Er begann in der Backstube seines Vaters, die dann in seine Hände überging. Die letzten fünf Jahre seines Arbeitslebens half er seinem Sohn und seiner Enkelin, die beide das Bäckerhandwerk erlernt hatten und sich der Herausforderung, gegen die großen Backshops zu bestehen, stellen wollten. Dabei kam ihnen zu Gute, dass hier am Rande des großen Waldes nur wenige Menschen lebten. Auch Touristen tauchten selten auf. Da lohnte sich das Geschäft für die Großen gar nicht.
Nach dem Tod seiner Frau lebte er seit zehn Jahren alleine in dem kleinen Häuschen am Waldrand. Hier wollten sie zusammen alt werden. Aber die Tage verliefen wie eh und je. Er wurde immer noch jeden Morgen um drei Uhr wach. Dann setzte er sich im Bett auf und aß einen der Kekse, die seine Enkelin Regina so hervorragend backte. Dann nahm er seine Medizin, legte sich wieder hin und schlief bis in den hellen Morgen. ‚Nicht mehr arbeiten müssen‘, dachte er ab und zu beim Einschlafen, aber es war eigentlich auch nicht mehr so wichtig.
Zweimal in der Woche weckte ihn seine Enkelin: „Na du Schlafmütze. Ich habe schon den halben Tag in der Backstube gestanden.“
Sie hatte ihre Zwillinge Klaus und Kurt mitgebracht, die Uropa als Klettergerüst benutzten, während Regina aufräumte und die mitgebrachten Lebensmittel verstaute.
An den anderen Tagen blieb er alleine und verbrachte sie in gewohnter Routine. Nach dem Aufwachen schaute er jeden Morgen aus dem Schlafzimmerfenster. An diesem Tag war der Wald gerade noch zu sehen und über ihm stand eine dichte Nebelwand. Die Morgensonne war nur noch als gelber leuchtender Fleck in dem Nebel zu erkennen. Er frühstückte und brach zu seinem täglichen Spaziergang auf. Durch den Wald bis zu der Lichtung mit dem Teich. Hier setzte er sich auf die Bank und sah den Wasserhühnern zu. Der Wald hinter dem Wasser lag unsichtbar im Nebel.
Nach seiner Rückkehr bereitete er in der Küche sein Mittagessen, verzehrte es und hielt sein Mittagsschläfchen. Dann ging er in den Garten, jätete Unkraut, erntete einige Kartoffeln und Möhren, aß ein wenig zu Abend und ging wieder ins Bett. Beim Einschlafen überdachte er seinen Tag und stellte fest: Ein Tag wie jeder andere ohne besondere Ereignisse.
Am nächsten Morgen sah er wieder in den dichten Nebel, der sich auszubreiten schien. Er kam im Wald bis zu der Bank auf der Lichtung, aber das Ufer des Teichs war ebenso im Nebel verborgen wie die Wasserhühner. Aber der Tag verlief ansonsten eben so wie alle Tage vorher.
Am folgenden Tag wollte er gerade zu seinem Spaziergang aufbrechen, als er Besuch bekam, der ihm frisches Brot brachte. Er wechselte einige Worte mit der jungen Frau, traute sich aber nicht, sie zu fragen, ob sie die Krankenschwester sei. Denn eigentlich sollte er das doch wissen.
Sobald die Schwester wieder gegangen war, brach auch er zu seinem gewohnten Spaziergang auf und wanderte bis zum Waldrand. Dahinter stand die dichte, gelb leuchtende Nebelwand. Er traute sich nicht, in die Ungewissheit des Nebels hinein zu gehen. ‚Wenn ich mich verirre, komme ich nicht mehr nach Hause zurück. Wie soll ich dann alleine im Wald leben? Ob mich jemand vermissen würde? Nein, meine Frau ist doch schon gestorben.‘
Er überlegte, seine tägliche Routine zu ändern und ging in den nächsten Tagen am Waldrand entlang, einmal um sein Häuschen herum. ‚Gut, dass ich noch genug Brot habe‘, dachte er bei der Rückkehr ins Haus. ‚Bei diesem Wetter würde der Bäcker kaum mit einer neuen Lieferung zu mir kommen. Wann war er eigentlich zum letzten Mal da gewesen?‘
Am nächsten Tag setzte er sich ins Wohnzimmer und las ein Buch, das er aus dem Schrank geholt hatte. Nachmittags arbeitete er wie gewohnt im Garten und dachte einen Moment darüber nach, ob sein Garten eigentlich einen Zaun hatte. Zu sehen war der Zaun nicht in dem dichten Nebel, der ja auch den Wald vor seinen Blicken verbarg. ‚Es wird ein nebliger Herbst‘, dachte er. Lächelnd schaute er einer Spinne zu, die ihr Netz im Kirschbaum aufgespannt hatte.
Am kommenden Tag kam eine Nachbarin mit ihren Kindern, räumte auf und brachte ihm frisches Brot. „Ich finde, die Kinder sehen mir ähnlich.“, meinte er und die Nachbarin lachte:
„Das ist doch kein Wunder.“
‚Wieso ist das kein Wunder?‘, überlegte er eine Weile, aber dann ging er in seinen Garten und erfreute sich an den blühenden Blumen am Haus, das von dichtem Nebel umringt war. Er erinnerte sich dunkel an einen Kirschbaum, aber sehen konnte er ihn nicht. Vielleicht stand der Baum schon lange nicht mehr. Hatte er überhaupt noch einen Garten? Als die Dämmerung einsetzte, bemerkte er, dass die Sonne immer noch an der gleichen Stelle durch den Nebel schien wie am Morgen.
Er setzte sich in seinem Zimmer in seinen Sessel, in dem er auch nachts schlief und las ein wenig in seinem Buch. ‚Vielleicht brauche ich doch eine Sehhilfe, aber eigentlich interessiert mich das Buch auch nicht. Wovon handelte es überhaupt? Egal.‘ Mit diesen Gedanken schlief er ein.
Als er aufwachte, war er von dem schimmernden Nebel umgeben. Nichts anderes war zu erkennen. ‚Stand da hinten nicht ein Schrank und da links oder rechts oder so ein Tisch? Ist ja auch unwichtig. Habe ich hier überhaupt noch etwas zu tun? Ich erinnere mich nicht. Besuch erwarte ich auch nicht. Wo auch immer ich hier bin, was hält mich noch?‘
Er fühlte sich frei und unbeschwert. Ihm war so leicht ums Herz, dass er meinte, fliegen zu können. Dann brach er auf hin zu dem Sonnenschein, der durch den Nebel strahlte und ihn lockte.