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Spätnebel

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Beitritt
03.07.2004
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Spätnebel

Klaus Finke hatte fünfzig Jahre als Bäcker gearbeitet. Er begann in der Backstube seines Vaters, die dann in seine Hände überging. Die letzten fünf Jahre seines Arbeitslebens half er seinem Sohn und seiner Enkelin, die beide das Bäckerhandwerk erlernt hatten und sich der Herausforderung, gegen die großen Backshops zu bestehen, stellen wollten. Dabei kam ihnen zu Gute, dass hier am Rande des großen Waldes nur wenige Menschen lebten. Auch Touristen tauchten selten auf. Da lohnte sich das Geschäft für die Großen gar nicht.
Nach dem Tod seiner Frau lebte er seit zehn Jahren alleine in dem kleinen Häuschen am Waldrand. Hier wollten sie zusammen alt werden. Aber die Tage verliefen wie eh und je. Er wurde immer noch jeden Morgen um drei Uhr wach. Dann setzte er sich im Bett auf und aß einen der Kekse, die seine Enkelin Regina so hervorragend backte. Dann nahm er seine Medizin, legte sich wieder hin und schlief bis in den hellen Morgen. ‚Nicht mehr arbeiten müssen‘, dachte er ab und zu beim Einschlafen, aber es war eigentlich auch nicht mehr so wichtig.
Zweimal in der Woche weckte ihn seine Enkelin: „Na du Schlafmütze. Ich habe schon den halben Tag in der Backstube gestanden.“
Sie hatte ihre Zwillinge Klaus und Kurt mitgebracht, die Uropa als Klettergerüst benutzten, während Regina aufräumte und die mitgebrachten Lebensmittel verstaute.
An den anderen Tagen blieb er alleine und verbrachte sie in gewohnter Routine. Nach dem Aufwachen schaute er jeden Morgen aus dem Schlafzimmerfenster. An diesem Tag war der Wald gerade noch zu sehen und über ihm stand eine dichte Nebelwand. Die Morgensonne war nur noch als gelber leuchtender Fleck in dem Nebel zu erkennen. Er frühstückte und brach zu seinem täglichen Spaziergang auf. Durch den Wald bis zu der Lichtung mit dem Teich. Hier setzte er sich auf die Bank und sah den Wasserhühnern zu. Der Wald hinter dem Wasser lag unsichtbar im Nebel.
Nach seiner Rückkehr bereitete er in der Küche sein Mittagessen, verzehrte es und hielt sein Mittagsschläfchen. Dann ging er in den Garten, jätete Unkraut, erntete einige Kartoffeln und Möhren, aß ein wenig zu Abend und ging wieder ins Bett. Beim Einschlafen überdachte er seinen Tag und stellte fest: Ein Tag wie jeder andere ohne besondere Ereignisse.
Am nächsten Morgen sah er wieder in den dichten Nebel, der sich auszubreiten schien. Er kam im Wald bis zu der Bank auf der Lichtung, aber das Ufer des Teichs war ebenso im Nebel verborgen wie die Wasserhühner. Aber der Tag verlief ansonsten eben so wie alle Tage vorher.
Am folgenden Tag wollte er gerade zu seinem Spaziergang aufbrechen, als er Besuch bekam, der ihm frisches Brot brachte. Er wechselte einige Worte mit der jungen Frau, traute sich aber nicht, sie zu fragen, ob sie die Krankenschwester sei. Denn eigentlich sollte er das doch wissen.
Sobald die Schwester wieder gegangen war, brach auch er zu seinem gewohnten Spaziergang auf und wanderte bis zum Waldrand. Dahinter stand die dichte, gelb leuchtende Nebelwand. Er traute sich nicht, in die Ungewissheit des Nebels hinein zu gehen. ‚Wenn ich mich verirre, komme ich nicht mehr nach Hause zurück. Wie soll ich dann alleine im Wald leben? Ob mich jemand vermissen würde? Nein, meine Frau ist doch schon gestorben.‘
Er überlegte, seine tägliche Routine zu ändern und ging in den nächsten Tagen am Waldrand entlang, einmal um sein Häuschen herum. ‚Gut, dass ich noch genug Brot habe‘, dachte er bei der Rückkehr ins Haus. ‚Bei diesem Wetter würde der Bäcker kaum mit einer neuen Lieferung zu mir kommen. Wann war er eigentlich zum letzten Mal da gewesen?‘
Am nächsten Tag setzte er sich ins Wohnzimmer und las ein Buch, das er aus dem Schrank geholt hatte. Nachmittags arbeitete er wie gewohnt im Garten und dachte einen Moment darüber nach, ob sein Garten eigentlich einen Zaun hatte. Zu sehen war der Zaun nicht in dem dichten Nebel, der ja auch den Wald vor seinen Blicken verbarg. ‚Es wird ein nebliger Herbst‘, dachte er. Lächelnd schaute er einer Spinne zu, die ihr Netz im Kirschbaum aufgespannt hatte.
Am kommenden Tag kam eine Nachbarin mit ihren Kindern, räumte auf und brachte ihm frisches Brot. „Ich finde, die Kinder sehen mir ähnlich.“, meinte er und die Nachbarin lachte:
„Das ist doch kein Wunder.“
‚Wieso ist das kein Wunder?‘, überlegte er eine Weile, aber dann ging er in seinen Garten und erfreute sich an den blühenden Blumen am Haus, das von dichtem Nebel umringt war. Er erinnerte sich dunkel an einen Kirschbaum, aber sehen konnte er ihn nicht. Vielleicht stand der Baum schon lange nicht mehr. Hatte er überhaupt noch einen Garten? Als die Dämmerung einsetzte, bemerkte er, dass die Sonne immer noch an der gleichen Stelle durch den Nebel schien wie am Morgen.
Er setzte sich in seinem Zimmer in seinen Sessel, in dem er auch nachts schlief und las ein wenig in seinem Buch. ‚Vielleicht brauche ich doch eine Sehhilfe, aber eigentlich interessiert mich das Buch auch nicht. Wovon handelte es überhaupt? Egal.‘ Mit diesen Gedanken schlief er ein.
Als er aufwachte, war er von dem schimmernden Nebel umgeben. Nichts anderes war zu erkennen. ‚Stand da hinten nicht ein Schrank und da links oder rechts oder so ein Tisch? Ist ja auch unwichtig. Habe ich hier überhaupt noch etwas zu tun? Ich erinnere mich nicht. Besuch erwarte ich auch nicht. Wo auch immer ich hier bin, was hält mich noch?‘
Er fühlte sich frei und unbeschwert. Ihm war so leicht ums Herz, dass er meinte, fliegen zu können. Dann brach er auf hin zu dem Sonnenschein, der durch den Nebel strahlte und ihn lockte.

 

Hallo Jobär!

Ich finde die Geschichte sehr schön. Schlicht, aber sehr schön.

Was mich ein wenig irritiert hat, war das hier:

‚Nicht mehr arbeiten müssen‘, dachte er ab und zu beim Einschlafen, aber es war eigentlich auch nicht mehr so wichtig.

Er arbeitet doch nicht mehr. Das ist also verwirrend für den Leser. Vielleicht kannst du das noch deutlicher machen.
Z.B.

Nicht mehr arbeiten müssen, dachte er ab und zu beim Einschlafen, - dann erinnerte er sich/fiel ihm wieder ein, dass er nicht mehr arbeitet. "Trotzdem" wachte er jeden Morgen um 3:00 Uhr auf. Aber mit der Zeit ließ (auch) das nach. ...

Den Nebel würde ich noch ein wenig eher in die Geschichte einflechten, da er das verschleierte "Hauptthema" versinnbildlicht.

Also zum Beispiel hier:

Dabei kam ihnen zu Gute, dass hier am Rande des großen Waldes nur wenige Menschen lebten. Auch Touristen tauchten selten auf.
--> hier könnte man gut einflechten, dass "die Landschaft häufig neblig war" oder sowas.

Eine ruhige, "positive" Geschichte, in der jemand, der in seinem Leben alles erreicht hat, sein Ziel erreicht hat ;) ... mit einer gelassenen Attitüde "ins Licht" entschwindet.


Beste Grüße

Runa

 

Hallo jobär!

Deine Geschichte hat mir gut gefallen! Den alten Bäcker und sein Haus am Wäldchen konnte ich beim Lesen direkt vor mir sehen. Sehr schön beschrieben.

Der Nebel. Wie ich finde ein super schönes Bild für die Demenz des Bäckers. Nach meiner Interpretation steht der Nebel für den Fortschritt der Krankheit und dafür, dass seine Welt jeden Tag ein bischen kleiner wird. Immer mehr verschwindet von seinem Leben und Lebensraum. Aber er lässt sich nicht unterkriegen und passt seinen Tag den neuen Umständen an.
Ich finde, dass die Geschichte sehr gefühlvoll erzählt wird. Ich habe schon viele Demenzkranke betreut (als Krankenschwester) und habe mich an ein paar von ihnen erinnert beim Lesen.

Was mir beim ersten Lesen nicht sofort klar war, woher die Krankenschwester und die Nachbarin plötzlich kommen. Beim zweiten Mal, war mir dann sofort klar, von wem dort die Rede ist.

Einen kleinen Tippfehler hab ich gefunden

-> Mir diesen Gedanken schlief er ein.
Da gehört ein t statt r hin.

und ein Komma fehlt

-> Dahinter stand die dichte, gelb leuchtende Nebelwand

Das war wirklich schön zu lesen!

Liebe Grüße
Owl

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Owi,

vielen Dank für Deine Kritik. Freut mich, dass ein Mensch vom Fach die Geschichte gut findet. Ich lebe in einer Seniorenwohnanlage und komme häufiger mit dementen Menschen zusammen. Deshalb hat es mich interessiert, wie ein erkrankter Mensch sie erleben könnte.

Danke auch für die Fehlermeldungen. Sind korrigiert.

Liebe Grüße

Jobär

 

Hallo Runa,

jetzt habe ich Deinen Kommentar beinahe übersehen. Danke für Deine Kritik. Das mit dem Nicht mehr arbeiten müssen, überlege ich noch mal. Dahinbter steckt eine kleine Anekdote von einem General, der sich bei schlechtem Wetter um drei Uhr wecken liess, dass seine Soldaten zur Übung angetreten seien. Dann schaute er aus dem Fenster, sprach einige nicht druckbare Worte und schlummerte selig wieder ein. Also auch der Prot kann jeztzt das tun, was er sich früher manchmal gewünscht hat: Weiterschlafen.

Liebe Grüße

Jobär

 

Hallo Jobär,
Die Idee finde ich sehr schön. Aber irgendwas fehlt mir da...
Ich fand das Lesen etwas anstrengend, vor allem im ersten Absatz musste ich einige Sätze zwei mal lesen um den Inhalt zu verstehen. Danach floß die Sprache, aber es war schnell klar: den Nebel gibt es nicht. Sollte es visueller Nebel sein, oder metaphysischer? Wolltest du ein Schrumpfen seiner Welt zeigen, oder das Durcheinander im Kopf, wenn die Tochter, die Krankenschwester und die Nachbarin durcheinander geraten? Für mich ist das Bild der Nebelwand doch etwas anderes als das Chaos im Gehirn. Und es hat wenig Fallhöhe, wenn der Bäcker etwas verliert, an dem er eh nicht sehr gehangen hat. Vielleicht ausbauen, an was er hängt? Seine Enkelin; oder den Teich? Irgendwas, was er vermissen würde und es dann nicht mehr tut. So hat er von vornerein schon aufgegeben. Ist er deswegen bei Dir Bäcker, weil er jeden Tag das Gleiche macht? Welche Erzählabsicht hinter Bäcker steckt, versteh ich nicht so... Hoffe, ich bin mit diesem Kommentar nicht zu nervig. Alles Gute!

 

Hallo paula2001,

danke für Deinen Kommentar. Der Nebel ist im Kopf des Prot, der langsam ins Vergessen, in die Demenz gerät und sich nicht mehr an seine Enkelin erinnert und sie für die Nachbarin oder die Krankenschwester hält und so weiter. Mit dem Vergessen geht auch das Abdriften in die Bedeutungslosigkeit einher. An was ich mich nicht mehr erinnere, scheint mir auch nicht wichtig zu sein. Es geht in dieser Geschichte überwiegend um die s8ubjektiven Eindrücke des Prot, die mit der Realität immer weniger zu tun haben.

Und Bäcker ist er, weil seine Enkelin Bäckerin ist und er immer morgens um drei aufwacht. Ursprünglich hatte der Prot keinen Namen und keinen Beruf. Das hat sich im Lauf der Monate entwickelt.

Liebe Grüße

Jobär

 

Hallo jobär!

Ich schließe mich den meisten meiner Vorredner an: Auch mir hat die Geschichte sehr gut gefallen. Nüchterne, schlichte Schönheit und völlig frei von jeder übertriebenen Melodramatik und von Kitsch. Sie ist gleichzeitig traurig und trotzdem wunderbar leicht. Daumen hoch dafür!

Besonders gut gefällt mir auch der Neologismus "Spätnebel" im Titel, wobei ich damit auch zu einem einzigen (und nicht einmal einem wirklichen) Kritikpunkt komme. Dieser Neologismus hat mir so gut gefallen, dass ich mir gewünscht hätte, dass im Verlauf der Geschichte noch ein oder zwei dieser Art aufgetaucht wären. Aber wie gesagt; das ist Meckern auf allerhöchstem Niveau und offen gestanden, habe ich nicht einmal Vorschläge.

Also von meiner Seite gehen beide Daumen nach oben für diese Geschichte.

 

Hallo Arete,

vielen Dank für Deine positive Kritik. Ich bin noch am Nachdenken, ob ich für die Sonne im Nebel ein treffendes neues Wort finde.

Danke für die Daumen.

Jobär

 

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